Mehr Regen als Schnee in der Arktis – bereits in 30 bis 60 Jahren

Dass mit steigender Erderwärmung in der Arktis mehr Regen fallen würde, war klar. Laut einer neuen Studie geschieht dies aber viel früher als bisher angenommen.

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(Bild: Michal Balada/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Hanns-J. Neubert
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Der Regen kommt früher als gedacht. Irgendwann in 30 bis 60 Jahren wird es über der Nordpolarregion mehr regnen als schneien. Das ist Jahrzehnte früher als bisher angenommen. Selbst wenn die globale Erwärmung unter der 1,5-Grad-Grenze bleibt, ändert sich an dieser Tendenz wohl nichts mehr. Bisherige Szenarien gingen davon aus, dass der Regen erst später, nämlich zwischen 2070 und 2090 den sommerlichen und herbstlichen Schneefall zurückdrängt.

Zu diesem besorgniserregenden Ergebnis kommen Forscher der kanadischen University Manitoba und des Nationalen Schnee- und Eis-Datenzentrums der USA. Sie berichten darüber in der Fachzeitschrift "Nature Communications".

Dass sich mit zunehmender Erderwärmung auch das Niederschlagsschema in den Polarregionen ändern würde, legte bereits der Sonderbericht zu Ozean und Cryosphäre des Weltklimarates IPCC von 2019 nahe. Die jetzt neu entwickelten Niederschlagsmodelle passten die Wissenschaftler aber genauer an die physikalischen Verhältnisse der Nordpolarregion an. Damit präzisierten sie die Auswirkungen der IPCC-Szenarien. Das Resultat: Es wird schon bald über der Arktis mehr Niederschlag fallen, der fast ausschließlich zunehmendem Regen im Sommer und Herbst zuzuschreiben ist. Im Winter bleibt es beim Schnee.

Zuerst wird es den Arktischen Ozean, Sibirien und die nordkanadische Inselwelt treffen. Im atlantischen Sektor der Nordpolarregion, also in der Grönland- und der Barentssee beiderseits des Spitzbergen-Archipels, ist der Wandel bereits heute messbar. Erst ein bis zwei Dekaden später wird es auch auf der Pazifikseite der Arktis, also in Alaska, Ostsibirien, der Beaufort- und der Tschuktschensee mehr regnen. Als Trost bleibt, dass der Schneefall hier noch lange dominieren wird, selbst wenn sich die globale Erwärmung gegen Ende des Jahrhunderts der Drei-Grad-Grenze nähern sollte.

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Der Grund ist, wie immer bei Klimaphänomenen, die komplizierte Koppelung physikalischer Bedingungen. Der seit Jahrzehnten voranschreitende Eisverlust legt im Sommer und Herbst immer größere Wasserflächen frei, von denen dann mehr Feuchtigkeit aufsteigen kann. Gleichzeitig wird die untere Atmosphäre immer wärmer und speichert dadurch mehr Feuchtigkeit. Die steigt auf, treibt polwärts und regnet sich auf dem Weg nach Norden ab. Somit ändert sich der Wasserkreislauf drastisch und beeinflusst damit die Ökosysteme und die Artenvielfalt, letzten Endes eben auch die Lebensbedingungen der vier Millionen Menschen, die hier leben und zumeist indigenen Völkern angehören.

Weiter südlich ist die Regenmenge eher vom globalen Temperaturtrend abhängig. So wird es in Westrussland und Europa erst dann nennenswert mehr Niederschlag geben, wenn sich die globale Erwärmung der Zwei-Grad-Grenze nähert. In Grönland kann das aber bereits bei um die 1,5 Grad globaler Erwärmung passieren.

Zwar wird es über dem zentralen Eisschild Grönlands weiterhin mehr schneien, was den Eisverlust an den Rändern vielleicht ein wenig ausgleichen könnte. Doch im Süden und an den Küsten löst Regen den Schnee ab. Die ins Meer ragenden Zungen der Gletscher werden dann schneller instabil, brechen ab und tauen. Wahrscheinlich ist dieser Eisverlust dann doch größer als der Zuwachs durch mehr Schnee im Innern.

Mehr Regen in den arktischen Regionen hat überall tiefgreifende Folgen, warnen die Autoren der Studie. Wird die Schneesaison nämlich kürzer, schluckt die dunkle Oberfläche von Festland und Meer die Sonnenwärme, anstatt dass Schnee und Eis sie zurückzuspiegelt. Die bekannte Folge: Die Permafrostböden tauen und mehr klimaschädliches Methan entweicht, das seinerseits die globale Erwärmung weiter ankurbelt.

Für Karibus, Rentiere und Moschusochsen wird es dramatisch, wenn Regen auf Schnee fällt und eine dünne Eisschicht bildet. Versuchen die Tiere mit ihren Hufen, unter dem Schnee Moose, Flechten und Pilze freizukratzen, verletzen sie sich an der scharfkantigen Eisschicht so sehr, dass sie daran sterben. Für die indigenen Polarbewohner eine Katastrophe, die schon heute nicht selten ist. Denn besonders die beiden Hirscharten, Karibus und Rentiere, sind ihre Lebensgrundlage.

Mehr Wasser von oben lässt auch die sowieso schon gewaltigen sibirischen und nordkanadischen Flüsse ansteigen. Flussabwärts führt das zu Überschwemmungen, die nicht nur Dörfer, Wege, Straßen, Stromleitungen und Pipelines wegreißen, sondern an den Küsten auch auch die Eisschollen auseinanderbrechen, die dann schneller schmelzen.

Doch die Auswirkungen von mehr Regen in der Arktis können sich im Atlantik noch weit im Süden zeigen. Schließlich gelangt damit noch einmal mehr Süßwasser ins Meer, als sowieso schon durch die schmelzenden Meereisflächen. Es legt sich als Schicht über das salzige und schwerere Ozeanwasser und kann so die nordatlantische Zirkulation, die Ausläufer des Golfstroms stören.

In keiner anderen Erdregion schreitet der Klimawandel so dramatisch schnell voran wie in der Arktis. Seit 1971 erwärmt sie sich dreimal schneller als der Rest der Erde, wie das Überwachungsprogramm des Arktischen Rates in einem Bericht dokumentiert. Dieser Rat ist ein zwischenstaatliches Forum sämtlicher Anliegerstaaten und der indigenen Volksgruppen rund um den arktischen Ozean. Er verfolgt die Klimaentwicklung rund um das Nordpolarmeer sehr genau und stellt in dem Bericht fest, dass sich die Arktis seit 1971 um mehr als drei Grad erwärmt hat, während die Durchschnittstemperatur der übrigen Erde nur um rund ein Grad stieg. Auch die Hitzerekorde nehmen zu, so wie in diesem Jahr, als bereits im Mai die Temperaturen mancherorts in Nordsibirien auf mehr als 30 Grad Celsius stiegen, während es in Mitteleuropa noch recht ungemütlich kühl war.

Doch es gibt auch Gewinner, wie das Projekt zur Erhaltung der arktischen Flora und Fauna des Arktischen Rates zeigt: Nämlich die Zugvögel, die es schon heute wagen, ihre Brutplätze ein kleines Stück weiter im Norden zu bauen. Und natürlich auch wirtschaftliche Spekulanten, die auf bequemeren Zugang zu wertvollen Mineralien oder auch auf mehr Ackerland auf den jetzt noch gefrorenen Böden hoffen.

(jle)