Getötet und weggeworfen: Beifang in der Fischerei

Alles raus, dann nach "Marktfähigkeit" sortieren: So wird nicht "nur" das Ökossystem zerstört, sondern auch die Geschäftsgrundlage Foto: Efraimstochter auf Pixabay (Public Domain)

Verwüstete Meeresböden, verendete Tiere - das ist die Bilanz der industriellen Fischerei. Dabei wird immer deutlicher: Die Ressource Fisch ist endlich. Eine "Ruhephase" könnte helfen

Vor Weihnachten lagen sie als Delikatessen in den Lebensmittelgeschäften: Rotbarben aus dem Ärmelkanal und der Nordsee neben Wolfsbarsch, Hummer und Rochenflügel. Wo und wie wurden diese Fische gefangen? Eine Aktivistin der Tierrechtsgruppe Soko Tierschutz fuhr Anfang November mit auf einem Trawler vor der Küste der Normandie, um "Seezungen zu fangen", wie es hieß.

In Wirklichkeit wurde alles an Bord geholt, was den Fischern in die Netze ging. Lediglich zehn Tonnen des gesamten Fanges war vermarktungsfähiger Fisch. Die meisten Fische waren zu klein für den Markt. Rochen, Schollen, junge Haie und Krustentiere sind aus Sicht der Fischer "wertloser Beifang", erklärte Iris Ziegler von der internationalen Artenschutzorganisation Sharkproject gegenüber dem ARD-Politmagazin Report Mainz.

Die Menge des Beifangs beträgt etwa das Zehnfache des "marktfähigen" Fisches, schätzt die Fischerei-Expertin. Seit Jahren beobachtet die Organisation das Schicksal der Tiere, die im Beifang landen. Er ist wohl eines der größten Probleme der Grundschleppnetzfischerei: Riesige Netze werden hinter den Booten über den Meeresboden gezogen, welcher dabei regelrecht umgepflügt wird. Was bleibt, ist eine Spur der Verwüstung. In den Netzen landen vom Aussterben bedrohte Arten ebenso wie zu kleine Fische oder mitgefangene Brut.

Einmal an Bord gezogen, werden die Tiere von den Fischern mit den Füßen "aussortiert", das heißt, zertreten und ins Meer zurückgeschoben, wo sie meist qualvoll verenden. All die sinnlos getöteten Meerestiere fehlen später dem Ökosystem, weiß Iris Ziegler. Auf diese Weise wird das Artensterben in den Meeren vorangetrieben.

Massenhaft sterbende Tiere für eine Scholle auf dem Teller?

Aber auch bei den Fischen, die als "marktfähig" eingestuft werden, wird massives Tierleid beim Töten in Kauf genommen, wie die Filmaufnahmen der Soko-Aktivistin zeigen: Über ein Förderband werden die Fische in einen Schlachtraum transportiert, wo ihnen - noch lebend - die Eingeweide entnommen werden. Da werden ein lebender Rochen, ein junger Hai einfach aufgeschlitzt. Lebend werden die Tiere zweigeteilt, Flossen und Schwänze abgeschnitten.

Töten ohne Betäubung ist bei Rindern und Schweinen verboten. Todesschreie von stummen Fischen sind für menschliche Ohren nicht zu hören. Darum gelangt ihr Leid selten an die Öffentlichkeit. Die meisten Tiere sind bei vollem Bewusstsein, kritisiert Friedrich Mülln, manche leben sogar danach noch weiter. Das ist Alltag in der Fischerei - eine unfassbare Schande für die EU, empört sich der Aktivist der Soko Tierschutz.

Die Mitgliederstaaten sollen ihr "Möglichstes" tun, um unerwünschte Beifänge zu reduzieren, fordert unterdessen die EU-Kommission. Doch weil diese "Verpflichtung" erst seit Januar 2019 besteht, sei es noch zu früh, die Wirksamkeit der Maßnahme zu beurteilen. In der Realität sei bisher noch gar nichts passiert, konstatiert Martin Häusling. Der EU-Abgeordnete der Grünen fordert ein funktionierendes Kontrollsystem auf den Trawlern.

Doch ob Kameras oder mitfahrende Kontrolleure - all dies werde von der Fischereiindustrie bisher torpediert. Tatsächlich ist der Tierschutz beim Fischfang auf EU-Ebene überhaupt nicht geregelt. Immerhin wurde er als "Schlüsselbereich für die Zukunft" erkannt. Man müsse vor allem im Bereich Transport und Tötung der Tiere tätig werden, heißt es.

Wann genau man damit beginnen will, ist unklar. Über ein einheitliches Vorgehen müssen sich die EU-Mitgliedsländer erst abstimmen. Und das kann dauern. In den nächsten Jahren wird in Sachen Tierschutz also erstmal gar nichts passieren, befürchten Experten. Demnach geht das sinnlose Sterben in den Ozeanen alternativlos weiter?

Festgelegte Fangmengen in der EU

Laut MSC sind weltweit etwa 800 Millionen Menschen in der Fischerei tätig. In der EU haben Fischer keine langfristigen Perspektiven. Weil sie nicht wissen, ob sie in fünf Jahren noch ähnliche Mengen fangen dürfen, nehmen sie heute mit, was sie kriegen können. Dabei würde eine langfristige Quotenvergabe für fünf bis zehn Jahre längerfristige Renditen versprechen. Damit wäre auch ein finanzieller Anreiz zur nachhaltigen Befischung gegeben. Doch das geben die heutigen Steuerungssysteme noch nicht her.

Stattdessen bekommen die Fischer jedes Jahr im Dezember vom EU-Rat ihre Fangquoten für das darauf folgende Jahr zugeteilt. In dieser ist genau festgelegt, wie viele Fische sie von jeder Fischart fangen dürfen. So sind für 2022 im Atlantik, in der Nordsee, im Mittelmeer sowie im Schwarzem Meer Fangbeschränkungen für mehr als 200 kommerziell befischte Bestände vorgesehen.

Bei den meisten Arten wurden die Fangmöglichkeiten auf 25 Prozent der höchstzulässigen Menge des Vorjahres festgesetzt. Für die Seezunge im nördlichen und mittleren Golf von Biskaya zum Beispiel wird sie um 36 Prozent gesenkt. In den Gewässern westlich von Irland hingegen sollen sie unverändert hoch bleiben, ebenso wie die erlaubte Menge für Seelachs im Golf von Biskaya und in portugiesischen Gewässern.

Für den südlichen Seehecht wurde die Gesamtfangmenge gerade mal um acht Prozent gekürzt. Das Verbot der gezielten Kabeljaufischerei besteht weiter, wobei im Kattegat die Beifänge um 21 Prozent gesenkt wurden. Der abnehmende Kabeljaubestand in der Keltischen See soll weiter geschützt werden.

Die Fangmenge für die Hummerart Kaisergranat hingegen wurde um 2.000 Prozent (!) erhöht. Für den bedrohten europäischen Aal ist eine Verlängerung des dreimonatigen Fangverbotes vorgesehen. Die Schleppnetzfischerei im westlichen Mittelmeer soll den Fischereiaufwand bei den Grundfischbeständen nur um sechs Prozent verringern. Ferner gibt es Fangbeschränkungen für die afrikanische und die rote Tiefseegarnele,

EU-Schiffe sollen nur nach Arten zu fischen dürfen, deren Bestände aktuell zunehmen - wie zum Beispiel beim Wittling, einem dorschartigen Fisch im Nordostatlantik. Eine Begrenzung der Beifangmengen wird nirgends erwähnt, obwohl gerade der Beifang - wie oben beschrieben - den weitaus größeren Anteil an der im befischten Meer lebenden Biomasse ausmachen.

Effizienter fischen mit moderner Technik

Zwar bemühen sich Meeresschutzorganisationen wie der Marine Stewardship Council (MSC) um Nachhaltigkeit. Doch wie nachhaltig ist Fisch, der nach MSC-Kriterien befischt wurde, wirklich? Und reichen die Bemühungen aus, um ein Kollabieren der Bestände zu verhindern? Gerade einmal zwölf Prozent des weltweit gefangenen Fisches werden von MSC-zertifizierten Fischereien angelandet.

Optimalerweise dürfte nur so viel Fisch gefangen werden wie nachwachsen kann, erklärt Gerd Kraus im ARD-Interview. Dann könnten sich nicht nur die Fischbestände erholen, es würde auch weniger Druck auf die Umwelt ausgeübt, Rochen, Haie und kleine Fische dürfen weiterleben, gleichzeitig würde der Meeresboden geschont.

Die heute üblichen Fischernetze seien zu wenig effektiv, kritisiert der Leiter des Thünen-Instituts für Seefischerei in Bremerhaven, der sich seit Jahren für nachhaltigen Fischfang einsetzt. Würde man sich das Fluchtverhalten der Fische zunutze machen, könnte man die Fische viel selektiver fangen, ist Kraus überzeugt. Beispielsweise könnten nach oben fliehende Fische durch den Netzausgang wieder entlassen werden.

Auch könnten in Zukunft Roboter, Sensoren oder Mini-U-Boote am Meeresboden dafür sorgen, dass nur noch die gewünschten Tiere ins Netz gehen. Allerdings dürfe man die großen Trawler nicht generell verurteilen. Denn auf einem großen Fangschiff ließe sich besser mit effizienten Technologien arbeiten, zum Beispiel beim Befischen von Alaska-Seelachs. Die kleinen handwerklichen Fischereien hingegen könnten an den Küsten wesentlich nachhaltiger fischen.

Meerestiere brauchen eine Atempause

Rund ein Drittel der weltweiten Fischbestände sind überfischt. Laut MSC werden jährlich weltweit mehr als 90 Millionen Tonnen Fisch und Meeresfrüchte gefangen. Die Menge an Fischen in den Meeren werde durch die intensive Fischerei künstlich niedrig gehalten, kritisiert Gerd Kraus. Würde man den Fischbeständen fünf bis zehn Jahre Zeit geben, um sich zu erholen, stünde der Menschheit anschließend deutlich mehr Fisch zur Verfügung.

Denn je älter die Fische sind, umso größer und schwerer werden sie. Und große, alte Fische laichen mehr als junge, kleine. Infolgedessen wachsen dauerhaft mehr Nachkommen heran. Mit nachhaltiger Fischerei könnte man bis zu 130 Millionen Tonnen fangen, ist der Wissenschaftler überzeugt. Zudem halten gesunde, große Fischbestände mit vielen Nachkommen auch eine Überfischung aus.

In der Übergangsphase dürfe allerdings drei bis vier Jahre gar nicht und in den folgenden Jahren nur sehr verhalten gefischt werden. Während dieser Zeit gäbe es dann keinen oder wenig wild gefangenen Fisch zu kaufen. Dementsprechend hoch wären auch die Fischpreise.

Der Verdienstausfall der Fischer während der Übergangsphase ließe sich mit Subventionen überbrücken. Dies jedoch würde nur in Regionen Sinn ergeben, in denen das Gleichgewicht zwischen Zahl Fischern und Fischbeständen einigermaßen ausgewogen ist. Zum Beispiel in Australien: Hier wurden den Fischern eine Art Stilllegungsprämie gezahlt.

In bestimmten Weltregionen sind die Fangkapazitäten allerdings so hoch, dass auch nach dieser Übergangsphase die Bestände sofort wieder überfischt wären. Dort müssten die Fischer dauerhaft aufhören und nach anderen Einkommensmöglichkeiten suchen - wobei sie staatlicherseits finanziell unterstützt werden müssten, erklärt Kraus.

Haben sich die Bestände erholt, müssen die Fischer seltener herausfahren, weil sie wieder mit mehr Beute nach Hause kämen. Weil es wieder mehr Fisch in den Meeren gibt, könnte der Preis eventuell sogar wieder sinken. Momentan nimmt die Nachfrage an Fisch eher zu. Lag der Pro-Kopf-Verbrauch in den 1960er-Jahren noch bei zehn Kilo, so hat er sich heute verdoppelt. Steigt die Nachfrage weiter an, könnten die Preise entsprechend steigen. Unterdessen leeren sich die Ozeane weiter, falls nichts unternommen wird.

Verteilungsfrage bleibt ungelöst

In dem oben beschriebenen Szenario einer "Ruhephase" für Meerestiere müssten in jedem Fall die wichtigsten Fischfangländer – die USA, Russland, China, Peru, Indien, Indonesien und Vietnam - mit einbezogen werden. Denn diese Länder sind verantwortlich für mehr als 50 Prozent des weltweiten Fischfanges. Für marine Schutzgebiete, in denen sich Fische in Ruhe vermehren können, setzt sich auch Marie-Catherine Riekhof von der Christian-Albrechts-Uni Kiel ein.

Bei der Menge an Fangflotten, die die Meere kreuzen, sei es gar nicht so einfach zu überprüfen, wer wie viel fängt, räumt die Professorin für Politische Ökonomie ein. Unabhängig davon erschweren umherziehende Fischschwärme das Vorhaben, den Fischfang zu reduzieren. Über Satellitendaten, wie es Global fishing watch https://globalfishingwatch.org/ bereits tut, könnten die Flotten einfacher und kostengünstiger überwacht werden.

Ein anderes Problem ist die Frage der Verteilung in der Übergangsphase. Reiche Industrieländer wie Deutschland würden ein Weniger an Fisch sicher eher überleben als Bewohner ärmerer Länder, in den Familien und daran hängende Wirtschaftszweige vom Fischfang abhängig sind. Diese Menschen müssten alternative Verdienstmöglichkeiten zu finden, schlägt die Meeresökonomin vor.

Immerhin: Konsumenten achten beim Fischkauf immer öfter auf Nachhaltigkeit. Wären noch mehr Verbraucher bereit, für nachhaltigen Fisch mehr zu zahlen, dann würde das Kilo Fisch statt neun Euro im Supermarkt zwanzig Euro mehr kosten. Für einen sechseinhalb Kilo schweren Heilbutt, gefangen in Norwegen mit Langleinen, müssen Kunden heute schon 34 Euro je Kilo zahlen. Zu teuer? Für das reichhaltige Fischangebot in Supermärkten und Delikatessenläden zahlen Mensch und Natur aktuell einen deutlich höheren Preis.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.