"Der große Lockdown war niemals alternativlos"

Hohe Straße in Köln im Lockdown, Dezember 2020. Bild: Raimond Spekking, CC BY-SA 4.0

Der Arzt und Historiker Karl Heinz Roth über die Coronapandemie, folgenschwere Fehleinschätzungen und notwendige Konsequenzen für unser Gesundheitssystem

Wie hat Covid-19 die Welt verändert? Der Arzt und Historiker Karl Heinz Roth untersucht in dem Buch "Blinde Passagiere" die Pandemie, ihre Vorgeschichte und ihre weltweiten Folgen.

In dieser ersten Gesamtdarstellung kommen die staatlichen Versuche, das Virus einzudämmen, schlecht weg. Statt "effiziente und zugleich maßvolle" Gegenmaßnahmen zu ergreifen, hätten die Regierungen panisch reagiert und versucht, die Misere mit populistischen Manövern zu überspielen. Roths Vorschlag, um künftige Epidemien zu bekämpfen: Gesundheitsarbeit aufwerten und das marode öffentliche Gesundheitswesen wieder aufbauen.

Herr Roth, Sie haben Ihr Buch im Juli 2021 abgeschlossen. Hat sich seitdem Ihre Einschätzung in irgendeinem Punkt verändert?

Karl Heinz Roth: Eigentlich nicht. Seit November 2021 hat sich der Charakter der Pandemie durch die neue Variante Omikron noch einmal geändert, das ist natürlich eine Zäsur. An der Analyse der Phase zuvor muss ich aber nichts Wesentliches korrigieren, glaube ich.

Lassen Sie uns chronologisch vorgehen und mit der Vorgeschichte anfangen. Die Gefahr einer kommenden Pandemie trat seit der Jahrtausendwende immer stärker ins Bewusstsein von Wissenschaft und Politik. Sporadische Fälle der Vogelgrippe H5N1 unter Menschen, dann die Entstehung der beiden Beta-Coronaviren Sars-CoV-1 und Mers machten klar, wie schnell sich mittlerweile neuartige Krankheitserreger ausbreiten können.

Auf diese Bedrohung reagierten die Sicherheits- und Gesundheitsbehörden mit Planspielen für den Pandemie-Katastrophenfall. Aber als es dann so weit war und ein pandemisches Virus tatsächlich kam, funktionierte kaum etwas. Warum?

Karl Heinz Roth: Ein Kernproblem war sicher, dass diesen Übungen Worst-Case-Szenarien zugrunde lagen. Die Autoren der Planspiele und ihre Institutionen gingen von den alten Katastrophenszenarien des Kalten Krieges aus, das hatte den Charakter einer Atomkriegsübung. Eine realistischere Abschätzung von möglichen Pandemie-Verläufen ist dagegen im Großen und Ganzen ausgeblieben.

Der Fokus auf den schlimmsten aller möglichen Erreger hat dann zu fatalen Fehlreaktionen auf Covid-19 geführt.

Sie erwähnen in Ihrem Buch in diesem Zusammenhang die berühmt-berüchtigte Risikoanalyse "Pandemie durch Virus ‚Modi-SARS‘" aus dem Jahr 2012, federführend entwickelt vom Robert-Koch-Institut (RKI). In diesem Szenario werden einige Merkmale der gegenwärtigen Pandemie bis in Details vorweggenommen. Da heißt es zum Beispiel, der Erreger "stammt aus Südostasien, wo der bei Wildtieren vorkommende Erreger über Märkte auf den Menschen übertragen wurde." Erwähnt wird auch, dass die Sterblichkeit steigt, weil "an Modi-SARS-Erkrankte, anders Erkrankte und Pflegebedürftige keine adäquate medizinische Versorgung beziehungsweise Pflege mehr erhalten können." Die Überlastung der Krankenversorgung wird einkalkuliert.

Karl Heinz Roth: Ja, aber andere Annahmen waren völlig unrealistisch. Die Drehbuchschreiber gingen davon aus, dass 93 Prozent der Infizierten so schwer erkranken würden, dass sie mindestens zwei Wochen lang ausfallen und zu erheblichen Teilen klinisch behandelt werden müssen. Die Sterblichkeit bezifferten sie mit durchschnittlich zehn Prozent der Erkrankten, die Epidemie sollte drei Jahre lang anhalten und mindestens 7,5 Millionen Opfer fordern – ein wahres Schreckensszenario.

Fixierung auf ein Killervirus

Andererseits wird in dieser Analyse die Resilienz der staatlichen Einrichtungen in einer solchen Situation überraschend optimistisch eingeschätzt. Da finden sich lustige Sätze wie: "Mit steigendem Krankenstand müssen genehmigte Urlaube und Fortbildungen verschoben werden." Oder weniger lustige wie: "Die Versorgung von Institutionen (zum Beispiel Krankenhäuser und Altenheime) kann grundsätzlich aufrechterhalten werden."

Blinde Passagiere, Verlag Antje Kunstmann, 480 Seiten, 30- Euro

Karl Heinz Roth: Ja, es war eine Realsatire. Einerseits ging man von einem kommenden Armageddon aus, andererseits traf man keine praktischen Vorkehrungen für eine mittelschweren Pandemie, so wie Covid-19 eine ist.

Das war keine deutsche Besonderheit, sondern ein internationales Phänomen und trifft auf alle wichtigen Akteure zu, die sich mit der Pandemiegefahr beschäftigten, also auf die Behörden, die Großstiftungen Gates, Rockefeller und Wellcome Trust und die Pharmaindustrie.

Aber die Fixierung auf den schlimmsten aller möglichen Fälle führte dazu, dass die Planer die Bodenhaftung verloren. Es wurden Vorräte mit fast wirkungslosen Medikamenten wie "Tamiflu" oder "Relenza" angelegt, darauf hatte die Pharmaindustrie hingewirkt.

Material für die Basishygiene – Atemmasken, Gesichtsvisiere, Desinfektionsmittel, sterile Handschuhe und so weiter –, wurde dagegen nicht vorgehalten. So entstand eine groteske Schieflage.

Während der ersten Welle 2020 mussten Pflegekräfte in deutschen Krankenhäusern bekanntlich sich selbst Gesichtsvisiere basteln. In New York griffen Beschäftigte zu Plastikcapes, weil es keine Schutzkleidung gab. Überall fehlte grundlegendes Material für die Seuchenbekämpfung. Wie lässt sich das erklären?

Karl Heinz Roth: Die Mittel für die Infektionshygiene wurden über die globalen Lieferketten just in time bezogen, vor allem aus Asien. Lagerhaltung gilt heute als ineffizient, auch in der Vorstellungswelt der Behörden und in den Leitungsebenen der Krankenhäuser. Das Gesundheitswesen wurde sozusagen auf lean production umgestellt.

Die Vorbereitungen auf die kommende Pandemie litten von Anfang unter diesem Dilemma. Unausgesprochen war auch in den Planungsbehörden bekannt, dass die Gesundheitssysteme einer solchen Belastung niemals gewachsen sein würden.

Wegen der Deregulierung, Privatisierung und Kommerzialisierung der vergangenen Jahrzehnte ist das System marode. Es bewältigt die alltäglichen Anforderungen gerade noch so, aber die Beschäftigten und Institutionen sind permanent an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Diese tiefgreifenden strukturellen Probleme wurden in der Pandemiedebatte völlig ausgeklammert.