Frankreich: Die neue Linksunion

Archivbild: B. Schmid

Mélenchon als möglicher Regierungschef: Rechte Medien fürchten eine Sowjetisierung der französischen Wirtschaft

Gibt Jean-Luc Mélenchon denen, die sich von der etablierten Politik ohnehin nichts mehr erhofften, doch noch einen Grund zur Beteiligung, zum Mitmischen? Und gibt er ihnen echte Gründe zur Hoffnung – oder aber wird das Ganze vielleicht doch wieder enden wie bei François Mitterrand nach 1981 oder François Hollande ab 2012, also bitter, besonders aus Sicht derer, die an ihre Ideen oder ihre vorgeblichen Ideen glaubten?

Die Geschichte ist offen und lässt also keine vorab feststehenden Schlüsse zu. Doch fest steht zum jetzigen Zeitpunkt, dass in jenen Wohngegenden, wo die Unterprivilegierten und die Benachteiligten angesiedelt sind, besonders starke Stimmergebnisse für den französischen Linkssozialdemokraten und Linkspatrioten Mélenchon bei der Präsidentschaftswahl, d.h. in ihrer ersten Runde am 10. April d.J. verzeichnet wurden.

49,9 Prozent erhielt der linke Präsidentschaftsbewerber im Bezirk Seine-Saint-Denis, der die nördlichen und östlichen Pariser Vorstädte umfasst und das ärmste Département in Frankreich (ohne Korsika und "Überseegebiete") bildet.

Mélenchon kam ferner aber auch auf den ersten Platz in zahlreichen Großstädten wie Rouen, Amiens, Nantes, Toulouse, Montpellier. Und auf den ersten Platz unter den Jungwähler/inne/n bis 24, wo er mit stattlichen 35 Prozent abschnitt. Das ist neu, denn zuvor war seit 2017 eher Macron in der jüngsten Wählergeneration stark - aus Altersgründen und weil Studierende oft noch nicht sehr stark an sozialen Fragen mit Bezug zu abhängiger Beschäftigtung oder Renten direkt konfrontiert sind.

Dieses Mal jedoch war die Zielgruppe, in der Macron am höchsten abschnitt, der wohlhabende Teil der Rentner/innen über 65. In der jungen Generation reicht das Mélenchon-Votum bei der Präsidentschaftswahl bis in die höheren Akademikergrade.

Karriereende… oder Sprung an die Spitze?

Dabei steht in diesen Tagen gerade gar nicht fest, ob Mélenchon überhaupt in der aktiven Politik weitermacht. Alles oder nichts: Am Ausgang der kommenden französischen Parlamentswahlen, die am 12. und 19. Juni dieses Jahres stattfinden, wird Jean-Luc Mélenchon entweder Regierungschef sein oder kein politisches Mandat mehr bekleiden. Jedenfalls nicht das eines Abgeordneten, das er bislang innehatte, nachdem er sich 2017 in einem Wahlkreis in Marseille für die Nationalversammlung aufstellen und wählen ließ; zuvor war er (seit 1986) Senator, also Mitglied des parlamentarischen Oberhauses, sowie Europaparlamentsabgeordneter gewesen.

Am Donnerstag dieser Woche kündigte der 70-jährige dreimalige Präsidentschaftskandidat der Jahre 2012, 2017 und vom April dieses Jahres an, nicht wieder zur Abgeordnetenwahl im kommenden Monat anzutreten. An seiner Stelle wird sein Wahlkampfleiter während der zurückliegenden Präsidentschaftskampagne, Manuel Bompard, im Wahlkreis kandidieren.

Der 36-Jährige zählt zu den aufstrebenden Jungpolitikern bei Mélenchons parteiähnlicher Wahlbewegung La France insoumise (LFI, "Das unbeugsame Frankreich"), aus derselben Generation wie die jungen Abgeordneten Adrien Quatennens, Ugo Bernalicis oder Danièle Obono.

Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Mélenchon im Augenblick des Wahlkämpfens müde (was eine Unterstützung für diverse Bewerber/innen aus seinem politischen Umfeld nicht ausschließt) und zugleich durch den Kandidatenwechsel darum bestrebt, einem seiner potenziellen Nachfolger stärkere Verantwortung zu übertragen. Er selbst wird voraussichtlich eine politische Stiftung gründen.

Auf den ersten Blick scheint dies widersprüchlich, da Mélenchon schon seit Mitte April und seinem knappen Scheitern in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl - es fehlten ihm anderthalb Prozent der abgegebenen Stimmen, um statt Marine Le Pen als Zweitplatzierter in die Stichwahl einzuziehen - verkündet, er wolle nun Premierminister werden.

Aus seiner Sicht besteht da jedoch kein Widerspruch, denn Mélenchon rechnete schon Tage vor seinem Kandidaturverzicht gegenüber der Presse vor, wie viele Premierminister in der Geschichte der 1958 begründeten Fünften Republik vor ihrer Ernennung durch den Staatspräsidenten nicht Abgeordnete gewesen war.

Dies trifft auch auf den wohl noch bis Anfang kommender Woche amtierenden Premier der letzten zwei Jahre zu: Jean Castex war kein Parlamentsmitglied, sondern Bürgermeister einer 6.000 Einwohner zählenden Kommune in Südwestfrankreich, bevor Emmanuel Macron ihn als Regierungschef einsetzte.

Unmöglich ist es also nicht, dass Mélenchons angekündigter Wunsch doch noch in Erfüllung geht. Als wahrscheinlich darf es jedoch nicht gelten. Erstens hat der Staatspräsident bei der Auswahl des Regierungschefs im Prinzip freie Hand, auch wenn er sich – wird wirklich eine linke Mehrheit in die Nationalversammlung gewählt, was Mélenchon anstrebt - mit der Abgeordnetenmehrheit arrangieren muss, da Letztere die Gesetzestexte verabschieden wird, allerdings zusammen mit dem konservativ dominierten Senat.

Zum Zweiten wollen zwar, Umfragen zufolge, über 60 Prozent der Französinnen und Franzosen eine Cohabitation, also ein Nebeneinander von Präsident und Parlament aus entgegengesetzten politischen Lagern. Gewann doch Macron bei der Präsidentschaftswahl nicht aufgrund von Zustimmung zu seinen Vorhaben, zu denen die Erhöhung des Renteneintrittsalters zählt, sondern vorwiegend aus Ablehnung für die rechtsextreme Gegenkandidatin Marine Le Pen. Doch diese gut sechzig Prozent verteilen sich auf zwei Blöcke links und rechts von Macron, die sich keinesfalls zusammenaddieren lassen.

Dies dürfte einen eventuellen Wahlsieg erheblich erschweren und könnte die Macron-Anhänger begünstigen. Über den Rest entscheidet das Mehrheitswahlrecht in den 577 Wahlkreisen, und da in der zweiten Runde eine einfache Mehrheit unter den oft drei oder vier vertretenen Listen genügt, sind Voraussagen schwer zu treffen.

Ein Rückblick

Jean-Luc Mélenchon ist seit über vierzig Jahren in der Politik. Er kündigte seine Mitgliedschaft beim Parti socialiste (PS) also bei der unter François Mitterrand sowie François Hollande regierenden Partei im Winter 2008/09 auf, nachdem er ihr gut dreißig Jahre lang angehörte und in ihr Posten bekleidet hatte.

Nach dem Austritt Mélenchon sollte die Partei noch einmal die Regierungsgeschäfte übernehmen, von 2012 bis 17 unter der Präsidentschaft Hollandes; einmal mehr, nach 1981 und 1997, und wohl auch zum letzten Mal, da die Bilanz Hollandes aus Sicht seiner Basis derart niederschmetternd ausfiel, dass die PS-Präsidentschaftskandidatin Anne Hidalgo in diesem Jahr nur noch 1,74 Prozent der Stimmen einsammeln konnte.

Genau darin und nirgendwo anders liegt auch die Erklärung für den Erfolg Mélenchons: Er löst historisch eine Regierungssozialdemokratie ab, nachdem diese sich aufgrund ihres jämmerlichen Erscheinungsbilds, ihrer politischen Feigheit, ihrer Überanpassung an die herrschenden Interessen – vulgo die des Kapitals – überlebt hat. Auch die seit Langem von aufeinander folgenden Krisen geschüttelte, durch das Verschwinden des sowjetischen Blocks ihres historischen Modells beraubte und mittlerweile weitgehend überalterte französischen KP gab daneben einen Großteil ihrer früheren Wählerschaft an Mélenchon gab.

Der 1951 geborene Mélenchon gründete dabei hintereinander mehrere Parteien respektive Wahlplattformen, deren Strukturen offen und durchlässig sind, was vielen Arbeitskreisen und örtlichen Gruppen an der Basis viel Spielraum lässt, ihre eigene Politik zu entwickeln; aber auch dem Kandidaten "oben", der seinerseits weitgehend ohne Kontrolle durch irgendwelche Gremien schaltet, waltet und wandelt.

2009 war es die "Linkspartei" (der Parti de gauche, PG) – sie schloss sich in einem inzwischen zerbrochenen Bündnis mit der Französischen KP zur "Linksfront", dem Front de gauche, zusammen -, später La France insoumise ("Das unbeugsame Frankreich") für die Wahl 2017, zuletzt im diesjährigen Präsidentschaftswahlkampf die Union populaire oder "Union der kleinen Leute".

In den letzten Jahren setzte Mélenchon auf wechselnde Strategien. Mal versuchte er sich an die Spitze einer Sammlungsbewegung der Linkskräfte zu setzen, mal verwarf er – im Gegenteil – die Einteilung in Links und Rechts, um auf eine Vereinigung aller Unzufriedenen gegen das Establishment zu setzen.

Zeitweilig ergänzte er dies auch um den Versuch, als besonders EU-kritische Kraft Profil zu gewinnen. Eingegrenzt wurden diese Tendenzen dadurch, dass sie die strategische Frage aufwarfen, ob man, verwarf man die Grenzziehung zwischen links und rechts als zentrale Kategorie, sich nicht auch mit nationalistischen Rechten gegen die Etablierten verbünden könnte.

In diesem Punkt gab es in seiner Partei durchaus Schwankungen und Momente des Zögerns. Mélenchon entschied sich letztlich dafür, diesen "rechtsoffenen" Weg nicht zu gehen und eine antifaschistische und antirassistische Komponente beizubehalten. Jene, die innerparteilich einen gegenteiligen Kurs steuerten, wurden im Jahr 2018 zum Teil hinausgedrängt wie George Kuzmanovic und Andrea Kotarac. Zum Glück.

Andrea Kotarac trat 2019 dem rechtsextremen Rassemblement National bei, war einer von dessen Spitzenkandidaten bei der Europaparlamentswahl jenes Jahres und versucht dort auch weiterhin, dem (selbstredend demagogischen) Slogan der Neofaschisten "Wir sind weder links noch rechts, sondern national" Glaubwürdigkeit zu verschaffen.