"Im Verhältnis zur Politik ist die Polizei auch Akteurin"

Polizist und Demonstranten während des G-20-Gipfels 2017 in Hamburg. Bild: Montecruz Foto, CC BY-SA 2.0

Gespräch mit dem Juristen und Polizeiforscher Benjamin Derin über die Rolle der Polizei in der Gesellschaft sowie Wege, Effizienz und Toleranz zu stärken (Teil 1)

Die Institution Polizei ist ein relativ modernes Konzept. Das gab es lange Zeit in der Form nicht. Es ist historisch und global sogar eher die Ausnahme. Das heißt, dass es die Polizei mit den heutigen Aufgaben und Befugnissen nicht zwingend immer geben muss.

Telepolis sprach mit dem Rechtsanwalt Benjamin Derin, der zusammen mit dem Polizeiforscher und Kriminologen Tobias Singelnstein im Buch Die Polizei: Helfer, Gegner, Staatsgewalt die strukturellen Probleme einer mit weitgehenden Befugnissen und einer Gewaltlizenz ausgestatteten Organisation aufzeigt.

Dazu zählen die Autoren mangelnde Fehlerkultur und Transparenz, Korpsgeist und Rassismus, aber auch Überforderung aufgrund einer wachsenden Zahl an Aufgaben, für die die Beamt:innen nicht immer angemessen ausgebildet sind.

Das Gespräch führte für Telepolis Nadja Maurer, die als Ethnologin zur Funktion und Arbeit der Polizei forscht.

Die Polizei ist die Institution im Staat, die das Gewaltmonopol innehat. Angesichts der Machtposition der Polizei über Mitglieder der Gesellschaft geht sie uns alle zumindest potenziell an. Angesichts dessen erscheinen nur selten Bücher über "die Polizei". Eines ist Der Apparat von 1982, das ebenfalls die Institution beleuchtet, aber kritischer, schärfer, radikaler gegen die Polizei ist als Ihr Buch. Wie erklären Sie sich das? Ist die Polizei besser geworden in den letzten 40 Jahren? Oder ist die Polizeiforschung versöhnlicher geworden?

Benjamin Derin: Im Verhältnis zwischen Polizei und Gesellschaft muss sich letztere immer bewusst machen: Es ist ja ihre Polizei. Die Frage ist dann zunächst, wie kann sich eine Gesellschaft die Polizei wieder aneignen, wenn das verbreitete Gefühl da ist, da ist etwas außer Kontrolle geraten.

Man kann eine sehr problemzentrierte Kritik machen und sagen, was alles im Argen liegt. Diese Problemanalysen sind natürlich auch zutreffend: Wenn man zum Beispiel sagt, hier kommt es zu unrechtmäßiger Polizeigewalt, oder hier gibt es Racial Profiling. Unsere Idee war nun, dass all diese Probleme ursächlich tiefer liegen.

Das hat viel mit der Funktion und mit der Rolle der Polizei in der Gesellschaft zu tun. Und deshalb muss man sich die Polizei als Institution ansehen und schauen, wie funktioniert die, wer ist da drin, was passiert da, was stimmt nicht im Verhältnis von Polizei und Gesellschaft. Die Kritik ist also eigentlich viel grundlegender.

Es ist in einer demokratischen Grundordnung unsere Pflicht als Bürgerinnen, die Polizei zu kontrollieren …

Benjamin Derin: Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Und es gibt natürlich auch viele Menschen in der Polizei, die ein Interesse daran haben, dass das Verhältnis zu den Bürger:innen gut funktioniert.

Die Polizei setzt ja nicht nur Recht mittels Strafverfolgung durch, sondern vor allem auch Ordnung, genauer Ordnungsvorstellungen. Das Kerngeschäft, die Bekämpfung von Kriminalität, nimmt fast einen kleineren Teil ein, wenn man mal alle polizeilichen Aufgaben zusammennimmt. Das bedeutet auch, dass ungerechte Ordnungen durch die Polizei reproduziert werden. Was bräuchte denn jeder Beamte an Rüstzeug oder an Ausbildung an die Hand, um für die sehr ambivalente Rolle, Schutzmann- oder frau mit Gewaltlizenz, sensibilisiert zu werden?

Benjamin Derin: Trainings sind wichtig, aber allein auf dieser Ebene kommt man nicht weiter. Der Polizei bleibt gar nicht so viel anderes übrig, als die bestehende Ordnung mit all ihren Ungerechtigkeiten und Problemen durchzusetzen, was eben sehr problematisch ist.

Benjamin Derin ist Rechtsanwalt in Berlin und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie der Goethe-Universität Frankfurt. Gemeinsam mit Tobias Singelnstein ist er Autor des Sachbuchs Die Polizei: Helfer, Gegner, Staatsgewalt, erschienen im Econ Verlag.

Wichtig zu verstehen ist, dass scheinbar neutrale Begriffe wie Verdacht, Gefahr oder öffentliche Sicherheit aufgeladen sind, mit gesellschaftlichen Wertungen, mit Machtverhältnissen und Kämpfen. Im Idealfall würde jede:r Polizist:in reflektieren: Wie gewinne ich Kriterien von Verdacht, Gefahr. Das beeinflusst auch, wie Polizist:innen in eine Situation hineingehen.

Denke ich, ich habe es wieder einmal mit einer "arabischstämmigen Familie" zu tun und ich weiß vermeintlich aus meinem polizeilichen Erfahrungswissen, da mangele es häufig an Respekt vor der deutschen Polizei – ein häufiges Vorurteil –, dann ist man besonders darauf bedacht, die eigene Autorität durchzusetzen und sich Respekt zu verschaffen. Das ist eine gefährliche Herangehensweise.

Das fördert das Konfliktpotenzial und die Eskalationsgefahr. Man muss als Polizist:in wissen, ich bin hier als Repräsentant:in einer bestimmten Ordnung, der Ordnung der Mehrheitsgesellschaft und die setze ich letztlich durch.