"Der Polizei ist es sehr wichtig, die Definitionshoheit zu behalten"

Pressesprecher der Polizei während einer Demonstration. Bild: Raimond Spekking, CC BY-SA 4.0

Gespräch mit dem Juristen und Polizeiforscher Benjamin Derin über die Rolle der Polizei in der Gesellschaft sowie Wege, Effizienz und Toleranz zu stärken (Teil 2 und Schluss)

Der Rechtsanwalt Benjamin Derin hat zusammen mit dem Polizeiforscher und Kriminologen Tobias Singelnstein im Buch Die Polizei: Helfer, Gegner, Staatsgewalt die strukturellen Probleme einer mit weitgehenden Befugnissen und einer Gewaltlizenz ausgestatteten Organisation aufzeigt.

Dazu zählen die Autoren mangelnde Fehlerkultur und Transparenz, Korpsgeist und Rassismus, aber auch Überforderung aufgrund einer wachsenden Zahl an Aufgaben, für die die Beamt:innen nicht immer angemessen ausgebildet sind.

Das Gespräch führte für Telepolis Nadja Maurer, die als Ethnologin zur Funktion und Arbeit der Polizei forscht.

Eine häufig geäußerte Kritik aus Teilen der Gesellschaft ist spätestens seit dem gewaltsamen Tod des US-Bürgers George Floyd, dass die Polizei rassistisch sei. Sie schreiben, dass Rassismus auch in die Polizei hineingetragen wird.

Und Seitens der Polizei die Entgegnung, das stimmt nicht, es sind immer nur Einzelfälle. Das führt natürlich nicht weiter. Ist der Begriff Rassismus für Lösungsansätze so sinnvoll? Bekommt man das Phänomen Diskriminierung möglicherweise mit dem Begriff Bias besser zu fassen?

Benjamin Derin: Wann nennt man etwas Diskriminierung oder Rassismus? Ich bin nicht dagegen, rassistische Phänomene so zu benennen, das Problem mit dem Begriff ist eher, dass es so eine Intention und Böswilligkeit vermittelt und suggeriert, die nicht das Hauptproblem ist.

Was passiert ist, dass Menschen von der Polizei rassistisch diskriminiert werden. Das heißt, sie werden diskriminiert aufgrund von rassifizierten Merkmalen. Und das ist ein großflächiges Problem. Und es wäre absurd, wenn es anders wäre.

Benjamin Derin ist Rechtsanwalt in Berlin und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie der Goethe-Universität Frankfurt. Gemeinsam mit Tobias Singelnstein ist er Autor des Sachbuchs Die Polizei: Helfer, Gegner, Staatsgewalt, erschienen im Econ Verlag.

Wie ich anfangs sagte, weil unsere gesellschaftliche Ordnung schon eine ist, die auf solchen Kriterien und Merkmalen aufbaut. Das betrifft auch strukturelle Fragen wie wer lebt wo, wer ist wie einkommens- und sozialstark usw. Aber auch Dinge wie polizeilicher Verdacht und Gefahrenbegriffe sind eng mit solchen Merkmalen verwoben. Dazu tritt dann das Phänomen, dass es tatsächlich bewusste rassistische Einstellungen bei Polizisten und Polizistinnen gibt.

Das reicht von geschlossenen rechtsextremen Weltbildern über Versatzstücke rassistischer Ideologien, die auch in der Bevölkerung ganz viel vorkommen. Und es gibt diese unbewusste oder unbeabsichtigte strukturelle Diskriminierung. Beides kommt vor. Das kann nur auf einer grundsätzlichen Ebene angegangen werden. Was erschwerend hinzukommt: Wenn im Gesetz steht, dass die Polizei an Bahnhöfen verdachtsunabhängige Kontrollen auf illegale Einreise durchführen soll, dann ist das eine Befugnis, die sich kaum anders als diskriminierend anwenden lässt.

Es ist schwer, da nicht als diskriminierend und als rassistisch wahrgenommen zu werden.

Benjamin Derin: Genau. Und da macht es weder Sinn, das stets auf rassistische Einstellungen einzelner Beamt:innen zurückzuführen, noch ergibt es Sinn zu sagen, macht nichts, ist ja nicht so gemeint.

In der Polizei gibt es zwischen Akademie und Vollzug ein Transferproblem. Soziologische Inhalte, die in der Ausbildung durchaus theoretisch vermittelt werden, verpuffen in der Praxis schnell. Zielführender, um Diskriminierung entgegenzuwirken, ist doch ein praxisnaher Ansatz. Etwa, dass jeder Mensch unterschiedliche Bias hat, die aber im Job keine Rolle spielen dürfen.

Benjamin Derin: Das ist eine wichtige Aussage, dass Bias keine Rolle spielen darf. In der Praxis spielt er aber eine Rolle.

Das Selbstverständnis in der Polizei ist ein weiterer Faktor. Dass jedem in der Polizei vor jeder Schicht bewusst ist, dass es seine oder ihre Aufgabe ist, jedem Menschen zu dienen, bzw. die Rechte eines jeden, dem man gegenübertritt, zu schützen. Das erfordert viel Demut. Es ist eine Frage des grundsätzlichen Mindsets.

Benjamin Derin: So ist es. Die Polizei kann sich als dienende Bürgerpolizei verstehen, die mit gleichberechtigten Leuten umgeht, oder sie kann verstanden werden als Kraft zur Durchsetzung einer bestimmten Ordnung gegen die Feinde dieser Ordnung, nach dem Konzept "Wir gegen Die".

Und dieses Mindset ist nicht zu unterschätzen. Der Begriff der "Thin Blue Line", der aus den USA kommt, der beschreibt ja ein Selbstverständnis der Polizei als dünne trennende Linie zwischen dem Guten, dem zu Schützenden in der Gesellschaft und den Gegnern und Feinden außerhalb.

Wenn man bereit ist, die Leute, mit denen man als Polizist:in zu tun hat, so einzuteilen, dann ist das äußerst gefährlich und problematisch. Das berührt auch die Frage, wie wird das politisch dargestellt. Wenn in der Politik gesagt wird, die Polizei müsse "gewaltfähiger" und robuster werden, wenn Innenminister sich vor gepanzerten Fahrzeugen und hochgerüsteten, mit Sturmgewehren bewaffneten Polizeieinheiten ablichten lassen, was vermittelt das nach innen und nach außen, was die Rolle der Polizei ist und was ihr Verhältnis zur Bevölkerung ist.

Ich glaube, genau das führt auch vielfach zu Polizeigewalt. Polizist:innen nehmen vielfach die Welt als lebensgefährlich wahr. Eine:r sagte mal zu mir, "Ich bin doch nicht lebensmüde und gehe ohne Waffe aus der Wache." Und, "In Geflüchtetenunterkünfte gehen wir mit mindestens zehn Leuten rein, da liegen lauter Waffen rum."

Gemeint waren Küchenmesser, die es aber in jedem Haushalt gibt. Ich kann verstehen, dass es Unsicherheitsgefühle hervorrufen kann, wenn sich viele Menschen in einer Sprache unterhalten, die man nicht versteht. Vor allem ist aber die Angst vor Kontrollverlust immens.

Benjamin Derin: Das war ja ein Riesenthema bei den "Querdenker"-Demonstrationen. Dass die Polizei am Anfang gesagt hat, "das sind ja ganz normale Leute". Da hat die Polizei ein ganz bestimmtes Bild davon, was ist eine bürgerliche Demonstration und was nicht.

Das zeigt aber auch, dass die Polizei denkt, dass sie in bestimmten Teilen der Bevölkerung nicht so den Rückhalt hat. Oft stimmt das Bild aber nicht in der Weise, wie gedacht wird. Zum Beispiel ist das Verhältnis zu dem, was als linke Szene wahrgenommen wird, seitens der Polizei oft total altmodisch.

Das ist geprägt von Vorstellungen von RAF, von ganz krassen Kämpfen, die schon seit Jahrzehnten gar nicht mehr aktuell sind. Dabei droht die eigentliche Gefahr für die Polizei von rechts. Die ist zumindest statistisch gesehen weitaus größer. Bis sich solche Bilder in der polizeiinternen Kultur anpassen, das sind ganz langsame kulturelle Umwälzungen.

Wobei Links tatsächlich auch immer mehr mit Polizei kommuniziert. Mit Plakaten, Sprechchören gegen die Polizei. Das machen die Rechten nicht.

Benjamin Derin: Die rechtsradikale Szene hat Polizei inzwischen als großes Feindbild ausgemacht. Die werden als Handlanger des Systems abgestempelt. Und da gibt es extreme Aufrufe zu Gewalt und Bewaffnung gegen die Polizei.

Mich interessiert noch ein anderer Punkt: Das institutionelle Selbstwissen der Polizei ist sehr begrenzt. Nämlich darauf, was die Organisation selbst an Daten erhebt, etwa polizeiliche Kriminalstatistik oder eigene Lagebilder. Letztendlich wird die Polizeiarbeit nur an Zahlen gemessen. Es gibt nur Rückfragen, wenn die Zahlen nicht stimmen.

Personenkontrollen werden etwa überhaupt nicht erhoben. Interaktionen zwischen Polizei und Bürgerinnen, die polizeilich folgenlos bleiben, dringen gar nicht ins (Problem-)Bewusstsein von Beamten. Während Bürger oft ein nachhaltig negatives Bild von der Polizei haben nach einer Kontrolle, dass gesagt wird, "schon wieder wurde ich diskriminierend kontrolliert", ist die Situation für die Polizei sofort vom Radar.

Es könnte schon helfen, wenn Polizei mehr Daten erhebt darüber, zu wem sie Kontakt sucht und schaut, wer wird kontrolliert: Alter, Geschlecht, Örtlichkeit. Dann wird man vermutlich schnell sehen, dass es junge Männer migrantischer Herkunft in bestimmten Stadtteilen prozentual weitaus häufiger trifft. Könnte so etwas der Polizei helfen, besser bzw. fairer zu werden?

Benjamin Derin: Sehr komplexe Frage. Polizeiliche Wissensbestände sind nicht nur quantifizierbar und auf Zahlen gestützt. Auch qualitative Fragen, also die Art der Reflexion und Auseinandersetzung spielen eine Rolle. Das ist auch abhängig von Dienststelle und Organisationsstruktur. Es gibt zaghafte Entwicklungen, wie Supervisionen, bessere psychologische Betreuung, mehr Nachbereitung.

Die Frage, wie Polizei lernt, hat ja ganz viel damit zu tun, wie und was intern vermittelt wird. Zwei große Bereiche sind damit angesprochen: einmal Fehlerkultur, welche Bereitschaft gibt es überhaupt, Fehler einzugestehen. Und zweitens, was wird extern damit gemacht. Wir fordern die Einführung von Kontrollquittungen, die ja jetzt in einigen Bundesländern eingeführt werden. Aus genau diesen Gründen. Es muss aber noch viel mehr dazukommen, damit das wirken kann.

A propos Fehlerkultur. Das Einräumen von Fehlern fällt der Polizei nicht gerade leicht – ganz zu schweigen von Entschuldigungen.

Benjamin Derin: Der Polizei ist es sehr wichtig, die Definitionshoheit über Geschehnisse zu behalten. Die wird auch im Nachhinein, in der öffentlichen und juristischen Aufarbeitung, fortgesetzt. Auch wenn ein Gericht sagt, die Räumung oder die Kontrolle war rechtswidrig, dann bleibt die Polizei mitunter bei ihrer Position. Gegenüber dieser anderen Gewalt, der Justiz, die auch dazu da ist, die Polizei als Teil der Exekutive zu kontrollieren und einzuhegen.

Es ist genau wie du sagst, es gibt die große Angst davor innerhalb der Polizei und auch bei der politischen Führung, die Definitionshoheit zu verlieren, aber auch davor, dass Fehler sichtbar werden, selbst haftbar gemacht zu werden und vielleicht das Vertrauen in der Bevölkerung zu verlieren. Reflexhaftes Abwehren hat sich eingeschliffen und lässt sich bei vielen Polizeibehörden weltweit beobachten.

Und das ist viel gefährlicher und schädlicher für das Verhältnis zur Gesellschaft und das Vertrauen in die Polizei. Fehler eingestehen ist in jeder Organisation schwierig und mit Risiken verbunden, hat im Zweifel auch persönliche Konsequenzen. Aber würde man einen offenen Umgang und Transparenz pflegen, würde man enorm viel zurückgewinnen. Abgesehen von der Frage, dass natürlich eine demokratische Gesellschaft und ein Rechtsstaat einen Anspruch darauf haben, diese Dinge zu wissen, aufzuklären und zu kontrollieren.

Es gibt immanente Widersprüche zwischen Demokratie und Polizei, nämlich die Einschränkung der Grundrechte auf Freiheit und Gleichheit. Nun ist Demokratie überdies auch stets und permanent ein Aushandlungs- und Beteiligungsprozess, der nur durch eine gewisse Unterbestimmtheit von Rechtsgütern möglich ist. In dem Moment, in dem sich die Polizei nicht ihrerseits auch als Teil dessen begreift, kapselt sie sich automatisch aus dem gesellschaftlichen Diskurs ab.

Benjamin Derin: Genau. Sie zieht sich dann vor Kritik zurück, die sie oftmals als ungerechtfertigt empfindet, igelt sich ein. Das ist der Wagenburg-Effekt. Sie verselbständigt sich gegenüber der Gesellschaft. Das ist eines der drängendsten Probleme derzeit. Denn die Polizei muss lernen, in diesen Diskurs wieder reinzugehen.