Der einsame Tod des Mannes, der die Welt gerettet hat

Petrow (li.) mit Telepolis-Autor Ensel (re.) in Moskau. Bild: privat

Vor fünf Jahren starb, von der Öffentlichkeit unbemerkt, der russische Oberstleutnant a.D. Stanislaw Petrow. Sein Dienst an der Menschheit ist unbeschreiblich

Im Herbst 1983 stand die Welt infolge eines Raketenalarms im sowjetischen Raketenabwehrzentrum unmittelbar vor einem Atomkrieg. Der diensthabende Offizier Stanislaw Petrow behielt die Nerven. Am 19.05.2017 starb er einsam in seiner Plattenbauwohnung bei Moskau.

Fast zehn Jahre hatte es gedauert, bis die Nachricht von seiner Millionen Menschenleben rettenden Nicht-Tat allmählich in die Welt sickerte. Und dann dauerte es nochmals Jahre, bis er langsam wenigstens einen Bruchteil der Anerkennung erhielt, die er verdient:

Der ehemalige Oberstleutnant der Sowjetarmee Stanislaw Petrow hatte im Herbst 1983 durch eine einsame mutige Entscheidung sehr wahrscheinlich einen dritten Weltkrieg verhindert und damit das Leben von Millionen, gar Milliarden Menschen gerettet.

Die Nacht vom 25. auf den 26. September 1983

Zur Erinnerung: In der Nacht vom 25. auf den 26. September, mitten im kältesten Kalten Krieg, schrillte um 0:15 Ortszeit im sowjetischen Raketenabwehrzentrum bei Moskau die Sirene. Das Frühwarnsystem meldete den Start einer US-amerikanischen Interkontinentalrakete.

Dem diensthabenden Offizier Petrow blieben nur wenige Minuten zur Einschätzung der Lage.

Im Sinne der damals geltenden Abschreckungslogik – "Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter!" – hatte die Sowjetführung weniger als eine halbe Stunde Zeit, den alles vernichtenden Gegenschlag auszulösen.

Petrow analysierte die Situation und meldete nach zwei Minuten der Militärführung Fehlalarm infolge eines Computerfehlers. Während er noch telefonierte, zeigte das System einen zweiten Raketenstart an, kurz darauf folgten ein dritter, vierter, fünfter Alarm. Stanislaw Petrow behielt trotz allem die Nerven und blieb bei seiner Entscheidung.

Nach weiteren 18 Minuten extremster Anspannung passierte – nichts! Der diensthabende Offizier hatte recht behalten. Es hatte sich in der Tat um einen Fehlalarm gehandelt; wie sich ein halbes Jahr später herausstellte, infolge einer außergewöhnlichen Konstellation von Sonne und Satellitensystem, noch dazu über einer US-Militärbasis. Das sowjetische Abwehrsystem hatte diese Konfiguration als Raketenstart fehlinterpretiert.

Was geschehen wäre, wenn Petrow zu einer anderen Einschätzung gelangt und dem als äußerst argwöhnisch geltenden Parteichef Andropow den Anflug mehrerer US-amerikanischer Interkontinentalraketen gemeldet hätte – und dies im Vorfeld der Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Westeuropa und drei Wochen nach dem Abschuss einer südkoreanischen Passagiermaschine über der russischen Insel Sachalin –, das kann sich jeder ausrechnen, der bereit ist, die notwendige Fantasie und den Mut aufzubringen, eins und eins zusammenzuzählen. Nie hat die Welt vermutlich so unmittelbar vor einem alles vernichtenden atomaren Weltkrieg gestanden.

Wer war dieser Mann, dem wir die Rettung unserer Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verdanken?

Ein sowjetisches Leben in kurzen Strichen skizziert: 1939 bei Wladiwostok geboren, der Vater Jagdflieger, die Familie eines Soldaten muss oft umziehen. Später wird er selbst Berufssoldat. Für seine weltrettende Entscheidung wurde er zuerst gerüffelt, dann weder befördert noch bestraft.

Den frühen Tod seiner geliebten Frau Raissa scheint er nie verwunden zu haben. Die Journalistin Ingeborg Jacobs hat vor drei Jahren über ihn, die Zeit des Kalten Krieges und die berühmte Nacht im Herbst 1983 ein kluges und einfühlsames Buch verfasst.

Ein verhinderter Friedensnobelpreisträger im Plattenbau

Als ich im Jahre 2010 zum ersten Mal von Stanislaw Petrow und den Ereignissen des 26. September 1983 erfuhr, musste ich mich erst einmal setzen. Nachdem ich endlich wieder zu mir gekommen war, mir bewusst gemacht hatte, was da eigentlich geschehen war und was ich zusammen mit der ganzen Welt diesem Mann verdanke, schossen mir einige Fragen durch den Kopf:

Warum erhält dieser Mann nicht den Friedensnobelpreis?

Warum steht diese Geschichte nicht in den Lesebüchern aller Kinder dieser Welt?

Als warnendes Beispiel dafür, wie weit es die Menschheit mit ihrem Wettrüsten bereits gebracht hatte.

Und als ermutigendes Beispiel für menschlichen Mut und Zivilcourage.

Und: Wie lebt dieser Stanislaw Petrow als russischer Rentner in seiner vermutlich 60 Quadratmeter großen Wohnung im Plattenbau?

Hat er mehr als 200 Euro im Monat?

Und: Wie geht es ihm?

Ist er gesund? Glücklich?

Ich wusste nichts über ihn und hatte doch, ohne es erklären zu können, ein Gefühl: Dieser Mann ist nicht glücklich!

Im Mai 2013 nahm ich Kontakt mit ihm auf. Ich schickte Stanislaw Petrow einen Dankesbrief zusammen mit einer schönen Armbanduhr, auf deren Rückseite eine Dankeswidmung eingraviert war, und Geld. Wenig später erhielt ich von ihm eine sehr freundliche Mail.