Zahlen, bitte! 450.000 Ausweise für staatenlose Flüchtlinge

Vor 100 Jahren wurde der Nansen-Ausweis eingeführt. Mit ihm sollten Flüchtlinge aus Russland geschützt werden, indem sie einen legalen Status bekommen.

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Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Der Nansen-Ausweis wurde von Polarforscher und Diplomat Fridtjof Nansen kreiert, als dieser 1921 zum Hohen Kommissar des Völkerbundes für russische Flüchtlinge wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik allen ins Exil geflohenen Menschen die Staatsbürgerschaft entzogen. Rund zwei Millionen Menschen waren auf einmal staatenlos. 53 Staaten unterschrieben eine Vereinbarung, wonach sie das Nansen-Zertifikat als Reisedokument anerkennen. Sie trat am 5. Juli 1922 in Kraft.

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Der von den Wohnsitz-Ländern auszustellende Ausweis enthielt neben Foto und Unterschrift sowie den Stempeln der Passbehörde auch die russischen Adressen der Flüchtlinge. Später wurde er auch Flüchtlingen aus Armenien, aramäischen Christen und jüdischen Flüchtlingen vor dem Nationalsozialismus ausgestellt. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden 450.000 Nansen-Ausweise ausgegeben.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Bertolt Brecht notierte 1941 in den "Flüchtlingsgesprächen": "Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so eine einfache Weise zustande wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird."

Dies galt erst recht für die aus Russland geflohenen Menschen. Die junge Sowjetregierung hatte ihnen die Staatsbürgerschaft entzogen; wenn sie ID-Papiere besaßen, waren dies nutzlose Dokumente des untergegangenen russischen Reiches. Ohne Ausweis war es ihnen unmöglich, eine Wohnung zu mieten, Arbeit zu bekommen oder in ein anderes Land zu reisen. Der Erwerb von Eigentum, die Eheschließung und andere, von der Bürokratie zu dokumentierende, Akte waren für "sans papiers" ausgeschlossen. Die Staatenlosigkeit war ein verhängnisvolles Schicksal.

Der Norweger Fridtjof Wedel-Jarlsberg Nansen (* 10. Oktober 1861 in Store Frøen bei Christiania, (Oslo); † 13. Mai 1930 in Lysaker) war ein Multitalent. Er arbeitete unter anderem als Zoologe, Neurohistologe, Polarforscher, Ozeanograph und als Diplomat Norwegens. Für seine Idee des Nansen-Pass für staatenlose Flüchtlinge und weitere Verdienste erhielt er im Jahr 1922 den Friedens-Nobelpreis. Das Foto stammt aus dem Jahr 1897.

Als Fridtjof Nansen zum Flüchtlingskommissar ernannt wurde, begann er darum sofort mit der Arbeit an einem Flüchtlings-Ausweis. Nansen hatte die Idee für ein solches Papier mit Joachim von Winterfeldt-Menkin diskutiert, dem neuen Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes, der den kriegerischen Sanitätsdienst in einen Wohlfahrtsverein umbauen musste. Unter der Leitung des Völkerbundes wurden eine Reihe von Konferenzen veranstaltet, die schließlich zu dem Nansen-Ausweis führten. Nachdem das amtliche Papier durch staatliche Übereinkünfte in der Welt war, entstand 1926 das "Office International Nansen pour les réfugiés russes" auf Deutsch schlicht "Nansen-Amt", das über die Ausgabe des Ausweises wachte, der jährlich erneuert werden musste.

1930 wurde die "Nansen-Marke" erschaffen, die auf den Ausweis geklebt wurde. Diese Ausweisgebühr dokumentierte, dass die Inhaberin oder der Inhaber des Ausweises sich an der Finanzierung des Systems beteiligte und ihn nicht als wohltätiges Almosen erhielt. "Diese Mechanismen waren die Basis eines neuen internationalen, auf Lastenausgleich beruhenden Flüchtlingsregimes der Zwischenkriegszeit und galten als diplomatischer Erfolg. Auch historiografisch firmierte die Flüchtlingshilfe lange als einzige Errungenschaft der praktischen Arbeit des Völkerbundes" urteilt die Historikerin Kathrin Kollmeier. Für seine Bemühungen um den Ausweis und für seinen Kampf gegen die Hungersnot in der Ukraine erhielt Nansen 1922 den Friedensnobelpreis. Er spendete das Preisgeld der Flüchtlingshilfe.

Zu den bekanntesten "Nansen-Flüchtlingen" zählten der Fotograf Robert Capa, der Tänzer Rudolf Nurejew, der Sprachwissenschaftler Yakov Malkiel und der Reeder Aristoteles Onassis. Hannah Arendt spottete über diese Form der Flüchtlings-Aristokratie. Mit 450.000 ausgestellten Ausweisen bei rund 9,2 Millionen Flüchtlingen, die 1920 durch Europa irrten, ist das nicht ganz von der Hand zu weisen.

Arendt widmete aber dem Problem der Staatenlosigkeit mehrere Kapitel in ihrem Buch "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" und machte Vorschläge, die später von dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen aufgegriffen wurden. Schließlich war sie selbst staatenlos geworden: Am 14. Juli 1933 wurde im Deutschen Reich das "Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit" beschlossen. In 10.487 Fällen wurde die deutsche Staatsangehörigkeit widerrufen, wovon hauptsächlich jüdische Deutsche betroffen waren.

Nach einer Gesetzesverschärfung verloren bis 1941 weitere rund 250.000 Menschen ihre deutsche Staatsangehörigkeit. Sie wurden größtenteils deportiert und ihr Vermögen beschlagnahmt. Die Betroffenen hatten keine Möglichkeit, Rechtsmittel gegen die Ausbürgerung einzulegen. Oft wurde ihnen die Ausbürgerung nicht einmal mitgeteilt.

Der Nansen-Pass gab Geflüchteten, die durch Unrechtstaaten mit dem Entzug der Staatsbürgerschaft bestraft wurden, eine neue Hoffnung.

(Bild: Norwegische Nationalbibliothek)

Dagegen war der Nansen-Ausweis so etwas wie ein behelfsmäßiger Rettungsring für seine Inhaber, auch wenn er keinen echten Pass eines souveränen Staates ersetzen konnte. In seiner Autobiografie "Erinnerung, sprich" beschrieb der Schriftsteller Vladimir Nabokov die Mühen und Wege, in Berlin 1922 den Nansen-Ausweis zu bekommen und nannte ihn ein "höchst minderwertiges Dokument von kränklich grüner Farbe. Sein Inhaber war wenig mehr als ein auf Bewährung entlassener Verbrecher und hatte die größten Strapazen auf sich zu nehmen, wenn er etwa ins Ausland reisen wollte – je kleiner die Länder, desto mehr Umstände machten sie."

Immerhin: Mithilfe des Nansen-Ausweises konnte Nabokov 1936 ausreisen und sich nach Paris absetzen, danach übersiedelte die Familie in die USA. "Das Nansen-Zertifikat war eine international ausgehandelte technisch-bürokratische Antwort auf neuartige politische Aggressionen gegen verletzliche Bevölkerungsgruppen, dokumentierte Identität (also Herkunft) anstelle des Heimatlandes und stiftete eine (neue) Identität als Flüchtling. Es lässt sich als ein Normalisierungsversuch mittels eines Provisoriums deuten", schreibt Kathrin Kollmeier. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Nansen-Ausweis 1946 zunächst durch das London Travel Dokument und 1951 durch das Reisedokument der Genfer Flüchtlingskonvention ersetzt.

Einblick in den Nansen-Pass. Links oben ist die im Text beschriebene Nansen-Marke zu sehen.

(Bild: fram museum)

Angesichts der Klimakrise und der Erderwärmung, die Millionen von Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat zwingt und Inselstaaten verschwinden lässt, haben Schweden und die Schweiz 2015 die Nansen-Initiative (PDF-Datei) ins Leben gerufen, die die "Agenda for the Protection of Cross-Border Displaced Persons" betreibt. Unter vielen Punkten wie die Stärkung der Resilienz in den betroffenen Gebieten findet sich ein Passus, den man am besten mit "Migration mit Würde" übersetzen könnte.

In ihm wird ein Nansen-Ausweis für Klima-Flüchtlinge gefordert. Die "Protection Agenda" ist mittlerweile von 109 Staaten unterzeichnet worden. Doch bislang ist der Pass für Klimaflüchtlinge noch nicht umgesetzt.

Eine gute Ergänzung könnte ein Besuch des Deutschen Historischen Museums in Berlin sein. Es hat am 1. Juli eine Ausstellung initiiert, die bis 15. Januar 2023 das Thema Staatsbürgerschaft behandelt, am Beispiel Frankreichs, Deutschlands und Polens seit 1789. Darin wird auch beschrieben, wie bestimmte Staatsbürgerschaften Türen öffnen, andere auch welche verschließen können.

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(mawi)