Über Klagenfurt der Geist von Uwe Tellkamp

Gewinnerin Ana Marwan beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2022. Bild: Amrei-Marie / CC-BY-SA-4.0

Bachmann-Preis geht an eine gelungene Reflexion unserer Corona-Erfahrungen; Tellkamp setzt "Der Turm" fort.

Uwe Tellkamp war 2004 ein besonders hell strahlender Bachmann-Star mit einer auf DDR-Bashing setzenden Sieger-Story. Der dezidiert konservative Jungautor und Mediziner bekam mit seinem auf Goethe anspielendem "Turm" nur vier Jahre später auch noch den Deutschen Buchpreis. Der Millionen-Bestseller rechnete zum Plaisir der Feuilletons mit der Dresdner DDR-Intelligenzia ab.

Seitdem wartete man auf eine Fortsetzung, die just herauskam, inzwischen leider überschattet vom "Pegida-Skandal" des Autors. Die Auseinandersetzung mit dem Ukrainekrieg blieb dezent im Hintergrund und ohne kritische Stimmen.

Pegida im Kulturpalast

Der Dresdner Tellkamp hatte 2018 bei einer Debatte im Dresdner Kulturpalast unter Applaus behauptet, 95 Prozent der Flüchtlinge (jener, die Merkel 2015 einreisen ließ) kämen, um in unsere Sozialsysteme einzuwandern. Dies wurde als Parole der gerade in Dresden florierenden Pegida-Bewegung betrachtet und Tellkamp wurde zur Unperson.

Sein Verlag, natürlich der renommierte Suhrkamp-Verlag, distanzierte sich per Twitter von dieser Äußerung seines Erfolgsautors. Allein diese Distanzierung war ein handfester Skandal im eher betulichen deutschen Literaturbetrieb.

So hatte man sich den literarischen Konservatismus auch wieder nicht vorgestellt. Vom Bachmann-Preis zu Pegida, AfD und womöglich in die Nähe der Identitären? Igitt. Tellkamp klagte seither über mangelnde Aufmerksamkeit, allenfalls Springers Welt und die ebenso stramm konservative Schweizer NZZ würden ihn heute noch beachten. Und das ZDF, das ihm aktuell eine Doku widmete: "Der Fall Tellkamp".

TDDL erwähnen Tellkamp nicht

Die 46. "Tage der deutschsprachigen Literatur" (TDDL) erwähnten ihren gefallenen Engel Tellkamp nicht, obwohl die Feuilletons seine lang erwartete Turm-Fortsetzung gerade besprechen, um nicht zu sagen: verreißen. Aber eher kleinlaut, man will Tellkamp nicht zuviel Aufmerksamkeit gönnen. Die TDDL sind eine Veranstaltung der Kärntner Landeshauptstadt Klagenfurt und des ORF in Zusammenarbeit mit dem Kultursender 3sat, der die Veranstaltung größtenteils life übertrug, und des Deutschlandfunks (DLF).

Die Trägerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2022 heißt Ana Marwan. Die in Slowenien geborene Autorin gewann mit ihrem leisen Text "Wechselkröte", der eine Frau in häuslicher Klausur beschreibt. Darin sah man eine gelungene Reflexion unserer Corona-Erfahrungen der letzten Jahre.

Die Zutaten: Unerwünschter, aber vielleicht unter Naturschutz stehender Krötenlaich im Swimmingpool, eine Schwangerschaft, ein abwesender Vater, ein zu oft ungesehenes Gesicht im Spiegel, täglich eine neue Bluse, vom allzu hastigen Paketboten überbracht, hypothetisches Kind, das Jahrzehnte später die greise Mutter nur aus Pflichtgefühl besuchen würde. Die feine Komposition aus fragilen Bildern überzeugte die Jury.

Trostpreise für die Cargo-Kultur

Die vier Trostpreise gingen alle an männliche Teilnehmer, angefangen beim immerhin mit 12.500 Euro noch halb so hoch bewerteten DLF-Preis, den der von der DLF-Feuilletonistin Insa Willke eingeladene Alexander Bulucz, der beim DLF mit ihr zusammen arbeiten soll, gewann.

Der ökonomisch Drittplazierte Juan S. Guse wurde als Soziologie-Doktorand vorgestellt, der nebenher in Klagenfurt Feldforschung treiben wolle. Guse legte eine raffiniert-surreale Story vor, bei der einigen der sieben Juroren dämmerte, dass sie als versteckte Satire auf den Wettbewerb deutbar sei: Im Taunus haben Ethnologen ein bislang unbekanntes Naturvolk entdeckt, das von einer internationalen Forschergruppe der Uno studiert wird. Eine Expedition von sieben Linguisten, Geologen, Ethnologen soll versuchen, Kontakt zum scheuen Naturvolk aufnehmen.

Es lebt vermutlich unterirdisch, zeigt sich fast nackt, aber mit Metallhelmen gekleidet, seine Sprache blieb bei wenigen kurzen Begegnungen unverständlich. Die sieben Forscher dringen in einen unbekannten Taunus vor (der Taunus gilt als touristisch völlig abgegrastes Gebiet) und werden von den Indigenen auf einen Nachbau des Frankfurter Flughafens geführt: Es ist eine Cargo-Kultur.

Jury versagt bei hermeneutischer Eiersuche

Das benennt der Text aber nicht, ein literarischer Kunstgriff, der den Vorhalt plakativer Bevormundung des Lesers abwehren kann. Guse zeigte sich, am Rande der TDDL interviewt, schwer enttäuscht, dass kein Juror dieses literarisch-hermeneutische Osterei gefunden hat. Es gibt tatsächlich Naturvölker in Melanesien, die als Cargo-Kult Flughäfen aus Palmwedeln nachbauten, weil dort im Zweiten Weltkrieg Luftwaffen-Stützpunkte lagen.

In ihre Hände gelangten militärische "Cargo"-Güter, kistenweise Konserven, Kleidung, Werkzeug, erschienen den Menschen als göttliche Gaben. Die wollten sie durch nachahmende Kulte um imitierte Flughäfen weiterhin erlangen.

Nachahmung gibt es in der Literatur auch, gerade in Klagenfurt, Guses Text ist vermutlich durchaus auch selbstkritisch gemeint. Aber suchen insbesondere die Juroren nicht dauernd im abgegrasten Taunus der deutschen Literatur nach völlig neuen Formen? Gerade so wie Ethnologen nach unverfälschten Naturvölkern?

Und wo suchen die TDDL? Bei ihre Innerlichkeit in seelischer Nacktheit präsentierenden Nachwuchsschreibern, die gegenüber der Kritiker-Keule einen Stahlhelm zuweilen gut gebrauchen könnten. Doch Guses Text deutet am größeren Horizont sogar eine generelle Kritik westlicher Lebensformen an. Erfolgheischend imitierende Cargo-Culture durchzieht alle auf Status und Prestige setzenden Gruppen und Institutionen. Wie war das, als die DDR-Bürger 1990 alle nur noch West-Produkte wollten? Warum verkauft man Ramsch am besten mit Werbung durch Prominente?

Physik-Nobelpreisträger Richard Feynman sah Cargo-Culture sogar bei manchen Kollegen in der Wissenschaft, die ohne viel Nachdenken erfolgreiche Forschungsmethoden kopieren. Wissenschaft, Wirtschaft, Mode, Kunst – Cargo-Culture findet man überall. Doch so weit ging die Klagenfurter Deutekunst heuer nicht.