TikTok: Wenn der Krieg plötzlich intim wird – Propaganda inklusive

Nach Tagebüchern, TV und Warblogs liefern im Ukraine-Krieg nun Spots auf dem Smartphone subjektive Einblicke in die Lage vor Ort. An Desinfo mangelt es nicht.

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TikTok-Forscher Marcus Bösch

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TikTok gilt weithin als Spaß-Plattform mit tanzenden Teenagern, Menschen, die Spaghetti auf weißem Ledersitz im Auto essen oder fast auf ihre Katze treten, sowie weiteren Banalitäten. Kurz vor und während des Angriffskriegs Russland auf die Ukraine hat das soziale Netzwerk aber teils eine andere Funktion übernommen. Zu Wort meldeten sich dort inzwischen "unglaublich viele Augenzeugen" mit Updates zur Lage vor Ort, weiß der Hamburger TikTok-Forscher Marcus Bösch.

Deren Videos wirkten "unmittelbar und intim", also "ganz anders als die klassische Kriegsberichterstattung". Wirklich neu sind die mehr oder weniger authentischen, überaus subjektiven Einblicke in das Leben der Menschen nicht, aber das Medium der Wahl ändert sich immer wieder und damit auch der Charakter sowie die Wirkung der Aussagen. Anstelle von Tagebüchern im 2. Weltkrieg, Fernsehaufnahmen im Vietnam-Krieg und Warblogs im Irak-Krieg sind es jetzt kurze, mit dem Smartphone gedrehte Filmchen, die im Idealfall das Verständnis der Zuschauer erweitern.

Schon recht frühzeitig habe man die Vorbereitungen für den aktuellen Krieg auf TikTok sehen können, erklärte Bösch am Mittwoch auf dem online abgehaltenen "11. Deutschen Social TV Summit" der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM). Otto-Normal-Nutzer hätten im Januar und Anfang Februar endlose militärische Züge und Fahrzeugkorsos gefilmt, die alle aus Russland in Richtung Ukraine unterwegs waren. Damals habe es auch bereits Hinweise gegeben, wie man eine Notfalltasche packen sollte, die später vielen nützlich gewesen seien. Mit dem Start des Raketenbeschusses und Einmarsches am 24. Februar hätten dann auch Journalisten in Kiew Beiträge auf der Plattform "ganz anders" geposted, führte der Wissenschaftler aus. Auch von Korrespondenten werde nicht mehr nur "das durchgegeben, was der Fernschreiber hergibt".

Selbst großen US-Sendern habe TikTok als Quelle gedient. Schutzsuchende hätten teils nicht viel anderes zu tun gehabt, als im Bunker ein Video zu drehen. Der Hashtag "Ukraine" sei auf dem Netzwerk in den ersten Monaten 36 Milliarden mal verwendet worden. 88 Millionen Views habe allein ein zu Michael Jacksons "Smooth Criminal" tanzender ukrainischer Soldat generiert. "Teils gesteuert, teils aus Unwissen" werde seitdem auch viel Desinformation verbreitet, weiß Bösch.

Der Fallschirmabsprung eines russischen Soldaten etwa habe sich als Material aus einer Übung herausgestellt. Entstanden sei ein ganz neues Genre: die "Shaky Windows"-Videos mit verwackelten Handy-Aufnahmen. Wer genauer hinschaue, sehe aber, dass die Konten dann teils in Litauen registriert seien und die ursprünglichen Sounds von Pyrotechnik aus einem Fußballspiel stammten.

Die Propaganda kochten parallel beide Seiten hoch. Die Ukraine pflege dabei ein Heldennarrativ, berichtete der Experte. Präsident Wolodymyr Selenskyj werde sexualisiert, als Marvel-Superheld dargestellt, seine alten Filme würden recycelt. Dazu kämen Mythen wie der "Geist von Kiew", der im Sinne des Hochhaltens der Moral unzählige russische Soldaten und Flugzeuge abgeschossen haben soll. Waffen würden als baumelnder Penisersatz gezeigt, dazu "viele Tanzskills" – Hauptsache siegessicher. Inzwischen filmten Geflüchtete aber auch, wie etwa Rassismus oder eine Jobsuche in anderen Ländern aussähen.

Russland habe derweil über TikTok Falschinformationen von staatlichen Kanälen wie RT verbreitet, erläuterte Bösch. Influencer seien in einschlägige Kampagnen einbezogen worden, die "in ein Gang-artiges Zeigen des 'Z' als Symbol der Invasion" gemündet seien. Zu sehen gewesen sei auch ein Nutzer, der in einer Telegram-Gruppe Anweisungen bekommen habe, wie ein TikTok-Video auszusehen habe und welche Narrative etwa zur Donbass-Region transportiert werden müssten. Die Redeskripte hätten sich dann auch "teils bis aufs Wort" geglichen.

Seit dem 6. März gibt es dem Forscher zufolge aber eine neue Situation: Da habe Da habe TikTok das Hochladen von Videos in Russland teils untersagt. So gebe es nun das Phänomen, dass dort nur noch ein "isoliertes, langsam durchalterndes Propaganda-Universum" bestehe. Aus Ukraine würden indes weiter Inhalte hochgeladen, die jeden einzelnen Tag des Konflikts dokumentierten. Darunter fänden sich oft "riesige Diskussionsstränge in den Kommentaren", die Lesern "multiperspektivische Einblicke" vermittelten.

Inwieweit der chinesische Betreiber ByteDance Einfluss nehme, lasse sich von außen schwer beurteilen, meint Bösch. Es handle sich letztlich um eine Blackbox. Klar sei, dass der Anbieter wie die anderen Apps "alle Daten mitnimmt", die er irgendwie kriegen könne. Dieser wisse sekundengenau, "welche Inhalte mich interessieren". Der Empfehlungsalgorithmus sorge zudem dafür, dass Beiträge unabhängig von der Zahl der eigenen Follower sofort viral gehen könnten. Bekannt sei auch, dass es diverse Zensurmaßnahmen gegeben habe. Es empfehle sich immer, in die Kommentare und auf das Upload-Datum eines Videos zu schauen.

(kbe)