Sachverständigenrat zu Corona-Maßnahmen: "Wir hätten vieles besser machen können"

Screenshot Pressekonferenz der Sachverständigenkommission des Bundes. Video: SZ

Nötig seien bessere Daten, bessere Kommunikation - "Abweichende Meinungen sind sehr ernstzunehmen" - und mehr Orientierung an Evidenz und Verlauf. FDP-Vize Kubicki fordert Rücktritt von RKI-Chef Wieler.

Was haben die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie gebracht und wie sehen die Empfehlungen des Sachverständigenausschusses aus? So lautete die Fragestellung an das 18-köpfige Gremium.

Bei der Pressekonferenz von Vertretern des Gremiums heute Mittag wurde vor allem der Zeitdruck deutlich, unter dem die Beantwortung dieser Fragestellung steht, wenn sie seriös und evidenzbasiert geschehen soll.

Um es anschaulich zu machen: Der Bericht des Sachverständigenausschusses hat 160 Seiten. Sehr viele Aussagen, exemplarisch von Hendrik Streeck, wiesen auf den schwierigen Kontext von wissenschaftlichen Studien hin, wenn es um Anwendungsempfehlungen geht. Ort und Zeit der Studien spielen eine große Rolle, das Coronavirus verändert sich, auch die Einstellungen in der Bevölkerung zu Maßnahmen: "Ein Lockdown kann am Anfang einer Pandemie sinnvoll sein, nach einer Zeit verpufft aber die Wirkung."

Politisch soll aber schnell und grundsätzlich entschieden werden: Der Herbst ist nicht weit, die Verlängerung des Infektionsschutzgesetzes, die Grundlage neuer Maßnahmen, steht an. Wie wird das Fundament zu dieser Entscheidung aussehen?

"Keine Generalabrechnung", fortlaufende Arbeit

Es gibt viele offene Stellen, heißt das große Fazit der Runde, die sich der Presse stellte. Eigentlich sei man noch mittendrin in der Arbeit. Ein Folgeauftrag sei unabdingbar, hieß es. Viele "Baustellen" sind längst noch nicht erledigt, um eine oft gebrauchte Metapher zu verwenden.

Der Zwischenstand, wie ihn Christoph M. Schmidt, zusammenfasste: Das Gremium liefert "keine Generalabrechnung", die Hoffnung liege in einem "Neuanfang eines besser fundierten Diskurses". Man wolle Verengungen vermeiden, hieß es in der Fragerunde. Mehr multi-disziplinäre Aspekte für ein besseres Verständnis.

Kritik an der Kommunikation

Fehler und Lücken in der Kommunikation waren ein zentrales Thema. Dazu ein bezeichnender Satz von Jutta Allmendinger: "Abweichende Meinungen sind sehr sehr ernstzunehmen". Sie plädierte dafür, dass z.B. Stimmen aus Sportvereinen, von den Krankenkassen, von örtlichen Gemeinschaften mehr gehört werden. Das Spektrum der Kommunikation sollte ausgeweitet werden. Dass die Kommunikation verbessert werden müsse, war nicht nur von ihr zu hören.

Kritik an der Datenlage

Ein anderes großes Feld, das öfter angesprochen und zur Hauptsache wurde, ist die Datenlage, genauer: die erheblichen Daten-Lücken. Ein großes Problem sei, dass man nicht die Daten habe, die den Evidenzgrad haben, den man sich wünsche. Die Datenbasis fehlt an vielen entscheidenden Stellen. Dieser Eindruck entstand aus der Pressekonferenz.

Generell hätten Datenerhebung, Datenmanagement und Datenverteilung deutliche Verbesserungen nötig, um die Gesundheitspolitik auf einen besseren Stand zu bringen, so Christoph M. Schmidt, Präsident des RWI – Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Essen. Und das gelte nicht nur für Corona. Großbritannien und die Vereinigten Staaten hätten einen Vorsprung bei "Public Health".

Konkreter wurde Virologin und Infektiologin, Helga Rübsamen-Schaeff. Sie forderte laufende Evaluierungen. Zu Maßnahmen müsse gleichzeitig eine Studie angesetzt werden. Der Begriff einer "repräsentativen Zufallsstichprobe", die vonnöten sei, fiel öfter und dazu auch der Appell zu mehr Mut zu Stichproben.

Lockdowns, Zugangsbeschränkungen, Masken

Konkreteres zu einzelnen Maßnahmen war von Hendrik Streeck zu hören, unüberhörbar dabei die Kritik an schematischen Vorhaben. Etwa zu den Lockdowns. "Jede Maßnahme hat ihre Zeit. Lockdowns zum Beispiel am Anfang". Haben sich Ansteckungen schon weit verbreitet, erschöpfe sich die Maßnahme. Die Bereitschaft, Maßnahmen mitzutragen, lasse nach.

Dazu kommt, wie Streeck anhand des Beispiels der 2G- oder 3G-Zugangsbeschränkungen anmerkte, auch ein anderer Zeitfaktor, der sich bei den Virusvarianten zeige – eine starke Verbreitung des Omikron-Virus ist anders einzuschätzen als diejenige einer gefährlicheren Variante – und bei der Impfung.

Zwar schloss das Sachverständigen-Gremium die Frage nach Impfwirkungen aus, die falle unter Kompetenzbereiche anderer Sachverständiger, aber bei der Beurteilung der 2G/3G-Regelungen müsse man berücksichtigen, dass Impfwirkungen, die Verbreitung betreffend, nach einer gewissen Zeit, wie bei der Omikron-Variante zu sehen, verpuffen.

Streeck verwies an diesem Punkt aber auch darauf, dass man noch nicht wisse, wie sich die Situation mit Impfungen, die auf neue Varianten zugeschnitten sind, ändert. Tests hält er gegenwärtig trotz Unwägbarkeiten für ein Mittel bei der Frage nach Zugangsbeschränkungen.

Zur Masken-Frage äußerte Streeck zunächst die Grundaussage: "Masken wirken", um zu präzisieren: "Richtig getragen hat die Maske einen Effekt." Ansonsten nur mäßig oder gar keinen. Offen bleibt nach einem Bericht der SZ, der das Sachverständigengutachten vorliegt, könne man nicht sagen, ob die Schutzwirkung von FFP2-Masken gegenüber medizinischen Masken (OP-Masken) wirklich besser sei.

Schulschließungen

Die Beurteilung der Schulschließungen gehört zu den angesprochenen offenen Baustellen. Sie seien noch nicht "in voller Gänze zu beurteilen", hieß es.

Es gebe da ein ganzes Geflecht an Auswirkungen, so die Bildungssoziologien Jutta Allmendinger. Unbeantwortet, so die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), sei etwa die Frage, wie lang anhaltend Kompetenzverluste sind?

Wer daraus vorschnell schließt, dass Allmendinger über psychische Auswirkungen hinwegging, täuscht sich. Sie sprach von einem "ganzen Bündel an negativen Auswirkungen" der Maßnahmen, mit denen Personen, insbesondere vulnerable Gruppen, zu kämpfen haben.

Es gab eine Menge kritischer Anmerkungen zur Corona-Politik, aber auch, deutlich bei der Einschätzung der wirtschaftlichen Auswirkungen, milde Töne, wonach die Krise "glimpflicher" ablief, als man dies zwischenzeitlich befürchtet hatte.

Viele, viele Fragen bleiben unbeantwortet. Etwa auch zum Entscheidungsproblem in der Politik: Wer darf welche Maßnahmen beschließen?

Ein Vertreter der Bild-Zeitung stellte die Frage, ob die Vertreter des Gremiums der Meinung sind, dass eine Entschuldigung für die Corona-Maßnahmen-Politik fällig sei?

Die für den Stil der vorsichtig vortragenden Sachverständigen bezeichnende Antwort lautete: "Wir hätten vieles besser machen können."

Aus der Politik kommen schärfere Töne: FDP-Vize Wolfgang Kubicki fordert, dass Gesundheitsminister Lauterbach RKI-Chef Wieler entlässt.