"Fünfte Kolonne" 2022

Regierung und breite Öffentlichkeit sind sich des Rechts und der Pflicht des deutschen Ukraine-Engagements sicher und machen der verbliebenen Friedensbewegung den Vorwurf der Unmoral bis hin zum Landesverrat.

Vor vierzig Jahren bezog der damalige Generalsekretär der führenden Partei einer schwarz-gelben Koalition Stellung gegen eine Bewegung im Land, die sich einem Nato-Nachrüstungsbeschluss mit nuklearen Mittelstreckenraketen auf deutschem und westeuropäischem Boden entgegenstellte.

Auch Teile der SPD, deren Kanzler in der vorhergehenden sozialliberalen Koalition den Beschluss mitgetragen hatte, waren inzwischen davon abgerückt. Heiner Geißler warf ihnen wie allen Aufrüstungsgegnern also vor, "nahtlos Argumente der Sowjet-Union" zu übernehmen und "in der geistigen Auseinandersetzung in der Bundesrepublik zu einer fünften Kolonne der anderen Seite" zu werden.

Auch gegen die grünen Abgeordneten Otto Schily und Joschka Fischer, die einen drohenden Atomkrieg mit dem Holocaust verglichen hatten, holte er aus:

Der Pazifismus der dreißiger Jahre, der sich in seiner gesinnungsethischen Begründung nur wenig von dem heutigen unterscheidet, hat Auschwitz erst möglich gemacht.

Solche Keulenschläge kündeten von der Entschlossenheit der Regierung, galten aber in Teilen der führenden Medien und der öffentlichen Meinung für überzogen. Vor allem stoppten sie nicht die Friedensbewegung, auf die sie abzielten. Ihre Demonstrationen brachten (lt. Wikipedia) 1981 350.000 bzw. 1982 500.000 Menschen nach Bonn, mobilisierten 1983 in vier Städten 1,3 Millionen, und die grünen Repräsentanten des Protests zogen erstmals in den Bundestag ein.

Auch heute warnen auf Abrüstung und Entspannung gesonnene Bürger vor einem militärischen Überborden des Kriegs in der Ukraine und über die Grenzen dieses Landes hinaus. Und auch heute hören sie die Titel der Zurückweisung, wie sie schon damals in Gebrauch waren. Der Kanzler nennt ihre Skepsis gegen Waffen für Kiew "zynisch" und "aus der Zeit gefallen", was sich auch deutlich gröber formulieren lässt.

Deutschlands bekanntester Politikversteher, Prof. Herfried Münkler, bezeichnet die Gegner der Lieferung von Kampfpanzern als moralisch verkommene "Unterwerfungspazifisten".

Der ehemalige Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse erhebt den Vorwurf, Rüstungskritiker verfolgten einen "Pazifismus auf Kosten anderer". Für Russlands Invasion, zu der es sich durch die "Schwäche und Uneinigkeit des Westens" ermuntert gesehen habe, kenne er "keinen anderen Vergleich: wie Hitler-Deutschland 1939".

Ralf Fücks, damals ein Adressat von Geißlers Auschwitz-Vorwurf, benutzt diesen Kontext nun seinerseits und sieht in gelieferten Raketenwerfern den Gradmesser dafür, "wie ernst es uns mit dem deutschen 'Nie wieder' ist" (Antwort auf den offenen Brief der "Emma").

Einem Sascha Lobo schwillt darüber regelrecht der Kamm:

Lumpen-Pazifisten sind zuvorderst selbstgerecht. Es sind Menschen, die ihren Stuhlkreis-Prinzipien auch um den Preis des Lebens Dritter folgen.

Alexander Graf Lambsdorff (FDP) rundet ab und bezeichnet die Teilnehmer der Ostermärsche als "fünfte Kolonne Wladimir Putins" (WDR 16.4.22).

Was an Friedensbewegung noch vorhanden ist, wird damit konfrontiert, dass in Politik, Medien und breiter Öffentlichkeit nur noch die Parolen als salonfähig und moralisch integer gelten, die von den amtierenden Friedensfreunden heute neu definiert werden.

Das Peace-Zeichen gerät zur Nato-Ikone. Frieden schaffen geht nur mit Waffen. Und Pazifisten, die das nicht mittragen, sind Mörder im Geiste. Dieser Bestandteil der "Zeitenwende" ist erklärungsbedürftig.

Kontinuität und Unterschiede

Seitens der Nato ist hier in der Hauptsache eine Kontinuität festzuhalten. Die sog. Raketenlücke von damals wurde als Defizit der eigenen Verteidigung entdeckt, und die Nachrüstung rechtfertigte sich mit einem Vorrüsten des Gegners. Freilich in dem anspruchsvollen Sinn, dass ein sowjetischer Atomangriff auf Westeuropa bis dato nur durch den interkontinentalen Schlagabtausch abzuschrecken sei.

Die strategische Beweglichkeit verlangte daher mehr, nämlich ein zweites finales Bedrohungsszenario unterhalb dieser Schwelle, ein weiteres atomares "Gleichgewicht" von Europa aus als zusätzliche Eskalationsstufe vor der letzten. So kalkuliert(e) eben das Nato-Bündnis, dessen Monopolanspruch das atomare Patt mit einer ebenbürtigen Konkurrenzmacht nicht verträgt. Gorbatschows Einlenken kam dem militärischen Ausleben dieser Unvereinbarkeit bekanntlich zuvor.

Die Ideologie der Nachrüstung, sie sei nur die Reaktion auf die sowjetische Bedrohung, war zwar objektiv blamiert, die zugrundeliegende Absicht aber lebte ungerührt fort.

Mit der von Jelzin vollendeten Zerlegung und der weniger gelungenen Kapitalisierung des ehemals sozialistischen Imperiums forderte der Westen die "Friedensdividende" seines historischen Siegs ein: Zum einen ließen sich zumindest in Europa die immensen Kosten der Aufrüstung zurückfahren – eine Gewinnmitnahme, die heute als naiv und unverantwortlich betränt und gegeißelt wird. Vor allem aber konnte die Osterweiterung von EU und Nato auf den Weg gebracht werden, um die Suprematie der USA und des Westens wasserdicht zu machen.

Was folgte, war der Konter von Putins Russland, das aus dem geerbten Waffenarsenal den Anspruch ableitete, vom westlichen Imperialismus als Macht nach dessen Art respektiert zu werden. Einschlägiger Testfall war die Besetzung der Krim und das Beharren auf einer Neutralität der Ukraine.

Die Nato sah deshalb ihren bisherigen Kurs doppelt im Recht und ließ es auf einen Krieg ankommen, den ihr Stellvertreter – entsprechend finanziert und munitioniert – gleich als Beitrag zum übergeordneten Ziel führen soll, Russland als globale Macht zu ruinieren.

In diesem Stellvertreterkrieg liegt auch der entscheidende Unterschied zur alten Ost-West-Konfrontation. Bei allen Kosten, die die Aufrüstung der Ukraine und der Wirtschaftskrieg gegen Russland verursachen, fallen die substanziellen Kriegsopfer an Menschen und Gütern nicht auf dem Boden Deutschlands und anderer Nato-Staaten an, was nach deren Willen mindestens vorerst auch so bleiben soll.

Deshalb beeilen sich die Verbündeten zu versichern und in ihrer Bewaffnung der Ukraine zu berücksichtigen, dass Russland den Krieg nicht gewinnen darf – ohne den Sieg über Putin zum eigenen Kriegsziel zu erklären.

So glaubt der Westen auch das atomare Risiko handhaben zu können, gerade weil er es im Zweck seiner Konfrontation nicht ausschließt. Was Berlin betrifft, so soll ein Szenario umgangen werden – dessen befürchtete Möglichkeit vor vierzig Jahren eine Massenbewegung hervorgerufen hat.

Im Spruch "Raketen sind Magneten!" und in der Warnung vor einem "Schlachtfeld Deutschland" benannte der Mainstream der damaligen Pazifisten die patriotische Grundlage seiner Opposition. Hier macht der heutige Stellvertreterkrieg also einen weiteren Unterschied.

Die politische Klasse in Deutschland hält ihre "Zeitenwende" daher in breitem Konsens für so nötig wie machbar. Die Waffenhilfe und einen Wirtschaftskrieg, der die Weltmacht Russland durch weitgehenden Ausschluss vom Weltmarkt in die Knie zu zwingen soll, organisieren Regierungs- und C-Parteien gemeinsam.

Die milliardenschwere Aufrüstung der Bundeswehr nennen sie "Ausrüstung" und geben damit immerhin zu verstehen, dass sie in Europa zur führenden Militärmacht werden und ihre ökonomische Dominanz um die entsprechende gewaltsame Grundlage ergänzen wollen. Nach der Wirkung auf das Wachstum der Wirtschaft und auf die "Schuldentragfähigkeit" des Staats hin meinen sie, jede Summe finanzieren und Schäden von systemischer Bedeutung kompensieren zu können.

Das ist insofern nicht ohne, als die Wucht der eingeleiteten Sanktionen und Boykotte gerade darauf beruht, das eigene Wirtschaftsleben einschneidend zu schädigen. Davor warnt sogar eine kleine Minderheit von Politikern.

Мinisterpräsident Kretschmer erklärte, Deutschland müsse im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vermitteln und erwirken, "dass dieser Krieg eingefroren wird". Mit Blick auf russische Rohstoffe sagte der CDU-Politiker:

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir diese Rohstofflieferungen brauchen.

So etwas wird derzeit aber als Privatmeinung oder im Fall von Ex-Kanzler Schröder als schlimmere Verirrung abgetan. Ein krisenhafter Einbruch oder ein öffentlicher Stimmungswechsel kommen der "Zeitenwende" bislang jedenfalls nicht in die Quere.