Verarmung und Spaltung – neuerdings nur durch Putin?

Das Bild einer klassenlosen Volksgemeinschaft im Kampf gegen Despoten aus dem Osten ist realitätsfern. Symbolbild: Gerd Altmann auf Pixabay (Public Domain)

Wenn Ungleichheit als Werk einer fremden Macht gilt und Gewerkschaften und Armutsforschung sich gleich mit um den nationalen Schulterschluss kümmern.

In Deutschland gibt es, nicht zu knapp, materielles Elend. Die Armut der Lohnabhängigen ist – spätestens, seit "Rot-Grün" vor 20 Jahren eine regierungsoffizielle Armuts- und Reichtumsberichterstattung beschloss – ein anerkanntes Thema. Sozialverbände sind hier aktiv, machen regelmäßig Rückmeldung. Auch das Statistische Bundesamt hat im August wieder Zahlen zur Armut in Deutschland 2021 veröffentlicht.

Und natürlich haben die Menschen, die vor der Notwendigkeit stehen, "durch Zusammenhalt wirksame Gegenmacht gegen Arbeitgeber- und Kapitalmacht zu schaffen" (DGB-Grundsatzprogramm), ein eigenes Vereinswesen auf ihrer Seite – nämlich die zahlreichen Gewerkschaften, die es hierzulande im (und auch neben dem) Dachverband DGB gibt und die in vielstimmiger Form Klage führen.

Die "Rückkehr der sozialen Frage"

Mit der Globalisierungsrhetorik der 1990er-Jahre wurde in der gewerkschaftlichen Bildung der Fokus auf die "Rückkehr der sozialen Frage" gerichtet – passend zum rotgrünen Vorhaben der Agenda 2010 in Sachen Volksverarmung, an dem ja auch ein prominenter Gewerkschafter wie der berüchtigte Peter Hartz mitwirkte. Die nachfolgende Finanz- und Wirtschaftskrise bestätigte die Notwendigkeit, auf verarmte Menschen aufzupassen, denn der hochgelobte Marktmechanismus versagte erneut bei seiner Aufgabe, allgemeine Wohlstandsmehrung zustande zu bringen.

Hat nun die neue Aufmerksamkeit für das "Armutsproblem", das ja im Zuge der gesundheitspolitischen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie wieder vielfach besprochen und mit viel Respekt für besonders betroffene Bevölkerungsgruppen ausgebreitet wurde, zur Verringerung der materiellen Not geführt?

Weit gefehlt! Das "Problem" hat sich vielmehr verschärft, es macht den Fachleuten Sorgen, beherrscht die Titelseiten der Zeitungen und kommt, allerdings in einer leicht verfremdeten Weise, als allergrößte Herausforderung fürs Land daher, in dem doch angeblich dank Sozialer Marktwirtschaft allseitige Güterversorgung und breiter Wohlstand regieren.

Wachsende Armut in Deutschland, hieß es letztens bei Krass & Konkret, wird offiziell "angesagt, geleugnet und gleichzeitig als epochale Herausforderung ins Bedrohungsszenario vom bösen Putin eingebaut."

Denn seit der russischen Invasion in der Ukraine und der daraufhin beschlossenen westlichen Sanktionspolitik kann die Verantwortung für Armut in Deutschland externalisiert werden. Es gab sie zwar schon vorher, aber das war noch nicht so schlimm und vor allem nicht systembedingt – wenn es jetzt schlimmer wird, ist dafür der russische Präsident verantwortlich.

In diesem Kontext war ausführlich vom neuen Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands die Rede, der zum Juni erschienen war und nicht, wie üblich, in der Öffentlichkeit als Pflichtübung wohlwollend zur Kenntnis genommen, sondern ganz forsch von einflussreichen Medien mit halbseidenen bis irreführenden Interpretationen zurückgewiesen wurde.

Suitbert Cechura hat das in seinem Beitrag "Akzeptiertes Elend" in der Tageszeitung junge Welt am 3. August ausführlich dargelegt. Stein des Anstoßes war demnach die erste und zentrale Aussage des Sozialverbandes, dass die Armut im Lande bereits vor Beginn des Ukraine-Krieges ein Rekordhoch erreicht hatte:

Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,6 Prozent im zweiten Pandemie-Jahr (2021) einen traurigen neuen Höchststand erreicht. 13,8 Millionen Menschen müssen demnach hierzulande derzeit zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie. Der Paritätische Wohlfahrtsverband rechnet angesichts der aktuellen Inflation mit einer weiteren Verschärfung der Lage..."


Der Paritätische – Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege, "Armutsbericht 2022"

Die Rechenkunststücke der Experten, die das Problem schönzureden versuchten, waren erstaunlich. Ein allgemeiner Trend wurde bezweifelt, einzelne Härtefälle zugegeben. Dabei sind absolute und relative Armut mit ihren jeweiligen Folgen nicht zu übersehen. "Ungleichheit tötet" – hieß es zum Beispiel. Anfang des Jahres im Oxfam-Bericht, der das Elend der globalisierten Marktwirtschaft ins Visier genommen hatte. Friedhelm Hengsbach wies jüngst in einem Kommentar auf die Befunde des Reports hin, demzufolge "163 Millionen Menschen mehr als vor der Pandemie seit Anfang 2020 zusätzlich in eine Armutslage abgerutscht" sind.

Oxfam hatte den Report Ende Januar 2022 vorgelegt. Einen Monat später, mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine und der nachfolgenden "Zeitenwende" in Deutschland, hat sich dann der Blick aufs Elend in der Welt verändert: Es ist nicht mehr marktwirtschaftlich hausgemacht, sondern kennt einen persönlichen Verursacher, einen Mann, der in Moskau residiert.

Putin – und nicht die lange akzeptierte Ungleichheit – tötet systematisch Menschen auf dem Globus, wie die jüngsten westlichen Einlassungen zum Welthungerproblem noch einmal klargestellt haben.

Dass Preise steigen – übrigens bereits vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine – soll man sich, wenn nicht gerade ein nationales Feindbild zur Hand ist, wie einen Naturprozess vorstellen, verursacht durchs Steigen an der einen Stelle, was dann Dasselbe an anderer Stelle nach sich zieht. So gehen Erklärungen von Experten und stellen streng genommen einen "Fall von Desinformation" dar.

Jetzt, angesichts der deutschen Energiekrise, wird die Verteuerung der Lebenshaltungskosten dem Publikum wie eine bittere Pille angekündigt, die man – leider – schlucken muss. "Wer arm ist, wird fest in den Fängen der Armut bleiben und noch ärmer werden", schrieb dazu jüngst Kathrin Gerlof bei Telepolis. Zugleich bemüht sich ein Teil der Armutsforscher wieder, mit ähnlichen Methoden wie sie Cechura bei der Rezeption des Berichts vom Juni aufgespießt hat, die soziale Lage aufzuhübschen und zu entdramatisieren.

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