Zehn Gründe, warum AKW-Laufzeiten nicht verlängerbar sind

Für eine Laufzeitverlängerung des AKW Neckarwestheim und zwei weiteren Kernkraftwerken fehlen rechtliche Grundlagen und materielle Ressourcen. Foto: Thomas Springer / CC0 1.0

Sommerlochdebatte 2022: Weil Russland weniger Gas liefert als vertraglich vereinbart, plappern alle über die Verlängerung der AKW-Laufzeiten. Zehn Gründe, warum das gar nicht geht.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) will es, das Sachsen-Pendant Michael Kretschmer (CDU) will es auch: Atomkraftwerke länger laufen lassen als geplant. Sogar Teile der Bundesregierung wollen es: Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) fordert, dass Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnisgrüne) die Gasverstromung stoppt und auf Atomkraft umschwenkt. Das aber geht gar nicht, selbst wenn man wollte, wie der Blick ins Detail zeigt:

1. Das Atomgesetz

Derzeit laufen in Deutschland noch drei Atomkraftwerke, alle anderen sind bereits abgeschaltet – 28 Anlagen in Westdeutschland, sechs Reaktoren mit dem Atomausstieg der DDR 1990 in Ostdeutschland. Grundlage für den Betrieb von Atomkraftwerke in der Bundesrepublik ist das Atomgesetz, abgekürzt AtG. In der aktuellen Fassung heißt es in Paragraph 7, Absatz 1a: "Die Berechtigung zum Leistungsbetrieb einer Anlage zur Spaltung von Kernbrennstoffen zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität erlischt … spätestens … mit Ablauf des 31. Dezember 2022 für die Kernkraftwerke Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2".

Natürlich könnte der Bundestag das Gesetz ändern, zuletzt hat er dies vor einem Jahr getan, am 10. August 2021 mit dem "18. AtGÄndG" – dem 18. Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes (im Wesentlichen ging es um Entschädigungen für die Konzerne - siehe Grund zwei).

Und tatsächlich hat die AfD Anfang Juli auch schon den Entwurf eines 19. Änderungsgesetzes in den Bundestag eingebracht. Das macht eine Gesetzesänderung allerdings unwahrscheinlich: Die AfD will eine "Entfristung", also den kompletten Ausstieg aus dem Atomausstieg. Union und FDP wollen einen Weiterbetrieb von "zwei bis vier Jahren", die Grünen haben den "Streckbetrieb" erfunden – einen Weiterbetrieb um einige Wochen oder Monate. Die Energiepolitiker der SPD lehnen jegliche Änderungen am Atomgesetz ab. Wo soll die Schnittmenge für eine Mehrheit zu einer Gesetzesänderung liegen?

Selbst wenn eine solche gefunden würde, ist unklar, ob das Atomgesetz noch in diesem Jahr geändert werden kann. Daniela Winkler, Professorin für öffentliches Recht an der Universität Stuttgart, urteilt: "Das rechtliche Prozedere für eine Laufzeitverlängerung könnte sich zu einer langwierigen Geschichte entwickeln. Bis eine Lösung gefunden wird, könnte der kommende Winter dann schon vorbei sein". Ohne Gesetzesänderung gehen die Reaktoren Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 aber definitiv zum Jahresende vom Netz.

2. Der öffentlich-rechtliche Vertrag

Ein Ziel des "18. AtGÄndG" war, die Klagen der Atomkonzerne gegen den Atomausstieg vom Tisch zu bekommen, die darin eine Enteignung ihres Betriebskapitals sahen. Deshalb wurde ein Vertrag zwischen der Bundesregierung und den Konzernen geschlossen, in dem festgelegt wird, dass die Konzerne insgesamt 2,3 Milliarden Euro bekommen, wenn sie bis zum 31. Dezember 2022 alle ihre Atomreaktoren stilllegen. Im Gegenzug lassen die Energiekonzerne alle Klagen fallen.

Für eine Laufzeitverlängerung ist deshalb nicht nur einer Gesetzesänderung nötig, sondern auch eine Änderung dieses Vertrags. Allerdings gibt es darin keinerlei Regelung für Vertragsänderungen – eben weil beide Seiten nicht davon ausgegangen sind, dass das Thema "Laufzeitverlängerung" tatsächlich noch einmal diskutiert wird.

Das Verwaltungsrecht sieht immerhin "eine Kündigung in besonderen Fällen" vor. Das aber haben die Konzerne am 7. März gegenüber dem Bundesumweltministerium bereits abgelehnt. Logisch! Warum sollten sie auf 4,2 Milliarden Euro vom Steuerzahler verzichten?

3. Der "Atom-TÜV" – die periodische Sicherheitsüberprüfung

Wie jeder Baukran, jeder Spielplatz, jedes Auto muss auch ein Atomkraftwerk über einen technischen Leistungstest zeigen, dass es einsatzbereit ist und die Allgemeinheit nicht gefährdet. Bei den Atomkraftwerken heißt dieser "TÜV" periodische Sicherheitsüberprüfung, die alle zehn Jahre durchgeführt werden muss. Eigentlich war diese Sicherheitsüberprüfung bei allen drei noch verbliebenen AKW schon 2019 fällig.

Damals einigten sich Betreiber und Staat aber darauf, keinen "großen" TÜV mehr zu machen – wo doch die Anlagen sowieso kurz vor dem Abschalten sind. Laut Gesetz endet diese Ausnahmeregel am 31. Dezember 2022.

Anders als beim Auto ist der "TÜV" bei einem Atomkraftwerk aber nicht mal so in ein, zwei Wochen zu schaffen: Er dauert bis zu zwei Jahre und kostet mehrere Millionen, selbst dann, wenn die Anlagenbetreiber keine korrodierten Maschinenteile oder verschlissene Flansche austauschen müssen. Deshalb haben die Anlagenbetreiber auch hier abgewunken: Sie wollen keine periodische Sicherheitsüberprüfung beantragen, sondern abschalten.

4. Die Frage der Haftung für Risiken

Natürlich könnte der Gesetzgeber auch hier sagen: Okay, dann nochmal sechs Monate ohne diese Sicherheitsüberprüfung. Die Betreiber der Atomkraftwerke haben in diesem Falle aber klar gemacht, dass sie selbst beim kleinsten Vorkommnis, geschweige denn bei einem Unfall nicht mehr haften werden. Tatsächlich nämlich ist diese periodische Sicherheitsüberprüfung auch für die Konzerne ein Sicherheitsmechanismus: Er gibt ihnen die Gewissheit, dass die Anlagen technisch einwandfrei betrieben werden können.

Wenn die Konzerne nicht mehr haften, haftet der Staat. Also wir. Michail Gorbatschow hat einmal erklärt, dass die Behebung des GAUs in Tschernobyl die Sowjetunion in den ersten beiden Jahren 30 Prozent des Bruttosozialprodukts gekostet hat. Nicht (nur) die wirtschaftliche Schwäche der Sowjetunion führte zu ihrem Ende, es waren die immensen Schäden durch die Atomkraft, für die im Sozialismus die Allgemeinheit haftete.

5. Die Klagen gegen die Staatshaftung

Dies ist heute zum Glück anders geregelt: Wer ein wirtschaftliches Unternehmen betreibt, der haftet für die Risiken, die aus seinem Wirtschaftsbetrieb entstehen. Wer giftige Unkrautvernichter in Verkehr bringt, der haftet dafür. Wer einen Tagebau aufschließt, muss Geld zurückstellen, um ihn rekultivieren zu können, wer Atommüll produziert, muss Mittel ansparen, um ihn später entsorgen zu können.

Es lässt sich im Einzelfall darüber streiten, ob die Summen jeweils angemessen sind (und im Falle einer GmbH ist diese Haftung beschränkt): Unstrittig ist aber, dass eine Staatshaftung für die Risiken der Atomkraft vor keinem deutschen Gericht standhält. Einige Akteure aus der Anti-Atom-Szene haben bereits angekündigt, im Fall des Falles gegen diese Form von "Gewinne privatisieren, Risiken verstaatlichen" Klage einzureichen.

6. Die Arbeiter in den Atomkraftwerken

Es gibt nach derzeitigem Stand am 1. Januar 2023 gar kein Personal mehr, dass die Atomkraftwerke "fahren" kann: Den Experten wurde längst gekündigt und sie haben sich natürlich nach einer attraktiven Alternative umgesehen. Klar könnte man sie bitten, doch noch acht Wochen oder vielleicht sechs Monate weiter zur Stange zu halten.

Würden Sie aber ihrem neuen Arbeitgeber dafür absagen – nur um zu wissen, dass sie gleich wieder auf Jobbewerbung gehen müssen? Natürlich wird eine Restmannschaft sich weiter um die abgeschalteten Atomkraftwerke kümmern (müssen). Aber das ist eben eine Restmannschaft, die gerade für abgeschaltete Atomkraftwerke ausreicht.

7. Die Anschlussfirmen zur Stilllegung

Diese Restmannschaft macht mit Spezialfirmen "Schluss" in den Reaktorblöcken. Mit diesen Unternehmen müssten zehn Jahre im Voraus Verträge abgeschlossen werden, "damit die dann auch verfügbar sind", erklärt Frank Mastiaux, Vorstandsvorsitzender von EnBW, die den Reaktor Neckarwestheim 2 betreibt. Und nach Mastiauxs Worten am 31. Dezember 2022 abschaltet: "Wir haben eine Gesetzeslage, wir haben einen ökonomischen Plan und eine Umsetzungsverpflichtung." Dahinter hänge ein Rattenschwanz an anderen Effekten. Vertragsstrafen vielleicht, die fällig werden, wenn die gebuchten Firmen doch nicht zum Zuge kommen?

Ähnlich skeptisch äußern sich auch die anderen Betreiberfirmen. Die Diskussion über Atomkraft führe nicht weiter, erklärte beispielsweise RWE-Chef Markus Krebber. "Wir müssen uns um die Sachen kümmern, die wirklich die Probleme lösen. Gasinfrastruktur aufbauen, Gas sparen." Zudem sollten Notfallpläne erarbeitet und die Energiewende beschleunigt werden.

8. Die abgebrannten Brennelemente

Mit den Brennstäben könne man jetzt noch ein paar Wochen weitermachen, sagt EnBW-Chef Mastiaux, "aber das ist es dann. Dann müsste man über neue Brennstäbe reden." Brennelemente gibt’s nicht von der Stange, es handelt sich um Spezialanfertigungen, die mindestens ein Jahr, häufig anderthalb Jahre im Voraus bestellt werden müssen.

Selbst wenn es jetzt ein Gesetz zur Laufzeitverlängerung gebe und auch die anderen Dinge irgendwie geregelt werden könnten – wenn die jetzigen Brennstäbe aufgebraucht sind, ist definitiv Schluss mit der Atomkraft in Deutschland.

"Für die Beschaffung und Einsatzplanung neuer Brennelemente benötigt man unter normalen Umständen 18 bis 36 Monate", urteilt Jochen Lambauer, Vorsitzender der VDI-Gesellschaft Energie und Umwelt. Weiterlaufen könnten die Atomkraftwerke also erst irgendwann Ende 2023 oder Anfang 2025.

Denn erst dann könnten neue Brennstäbe Strom produzieren – falls die Atomkonzerne bereit sind, solche überhaupt bestellen zu wollen. Ökonomisch wäre das nämlich Unsinn: Die drei verbliebenen AKWs müssten von den Mannschaften 18 bis 36 Monate weiter betrieben werden, ohne dass in der Zeit etwas produzieren.

9. Die Suche nach einem Endlager für den Atommüll

Vehement gegen einen Weiterbetrieb spricht sich das "Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung" aus. Mit gutem Grund: Seit dem Jahr 2017 läuft in Deutschland mit dem "StandAG" - dem Standortauswahlgesetz - die Suche nach einem Endlager für den Atommüll – und zwar für exakt jene Menge, die bis zum 31. Dezember 2022 anfällt: rund 1900 Castorbehälter. Ein aufwendiges, hochkomplexes Verfahren: Geplant ist, bis zum Jahr 2031 Standorte für Probebohrungen zu identifizieren, in denen der Atommüll "bestmöglich" verwahrt werden kann – für eine Million Jahre.

Das geht aber natürlich nur, wenn bekannt ist, wie groß die Restmenge des Mülls ist: Wird sie größer, fallen bestimmte Standorte aus dem Suchverfahren heraus, weil mehr Müll mehr Platz braucht und bestimmte unterirdischen Gebirgsmassive für mehr Müll nicht mehr groß genug sind. Wolfram König, Präsident des Bundesamtes: "Jetzt Laufzeitverlängerungen zu beschließen, wäre nicht nur eine zusätzliche Hypothek für die Entsorgung. Der mühsam errungene gesellschaftliche Konsens würde auch grundsätzlich infrage gestellt werden."

10. Der Stromexport

Das Sommerloch aufgetan hat Putins Spiel mit dem Erdgas. Atomkraftwerke produzieren aber bekanntlich kein Gas, sondern Strom. Davon gibt es aber in Deutschland genug, im ersten Halbjahr produzierten die deutschen Stromfabriken 18 Milliarden Kilowattstunden mehr, als hierzulande verbraucht wurden. Der Strom ging vor allem in die Schweiz, nach Österreich, Polen und Frankreich.

Ein Argument des Sommerlochs ist: Es gibt ja Gaskraftwerke in Deutschland, die sollen bitte schön zugunsten der AKW aufhören, Gas zu verstromen. Aber solch ein Argument kann nur gebrauchen, wer vom deutschen Elektrizitätssystem keine Ahnung hat: Gaskraftwerke werden in Sekundenschnelle angefahren, was immer dann passiert, wenn es im Stromnetz Engpässe gibt. Atomkraftwerke brauchen dagegen bis zu einem Tag, um an- oder abgefahren werden zu können, weshalb das im Regelbetrieb auch nie passiert.

Wer Gaskraftwerke durch AKWs ersetzen will, der riskiert Blackouts – bis hin zum Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft, die ohne Strom nicht produzieren kann. Mit Gas produzierten Strom durch Atomkraft austauschen zu wollen, bedeutet Deutschlands Stromversorgung zu destabilisieren.

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