Pfefferspray – Taser – Maschinenpistole

Symbolbild: Mika Baumeister/Unsplash

Blutige Polizeiaktion: Junger Beamter erschießt 16-Jährigen in Dortmund. Erschreckte Öffentlichkeit fragt: Was ist das für eine Einsatzstrategie, an deren Ende die Leichenhalle steht? Ein Kommentar.

Ort der Handlung: Dortmund, es ist Montag, der 8. August 2022. Gegen 16.30 Uhr geht bei der Polizeileitstelle ein Notruf ein. Es ist der Auftakt zu einem tödlichen Drama.

Ein Betreuer der katholischen Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt informiert die Leitstelle über einen jugendlichen Heimbewohner. Der soll auf dem Innenhof hocken und sich eine 15 bis 20 Zentimeter lange Klinge gegen den Bauch halten. Es ist die Rede von einer Suizidgefährdung. Die Einsatzzentrale schickt gleich mehrere Streifenwagen los.

Elf Polizisten, kein Plan

Als die Beamten im Schatten der St. Antonius Kirche, die neben der Einrichtung liegt, eintreffen, finden sie Mohammed D. vor. So lautet der Name des 16-jährigen "Problemkindes". Ein Dienstgruppenleiter teilt seine Leute ein. Elf Polizisten sind im Einsatz. Zwei Männer sollen das Geschehen mit der Pistole im Anschlag sichern, ein 29-jähriger Polizeikommissar mit einer Maschinenpistole (MP5, Heckler & Koch) den weiteren Einsatz im Hintergrund flankieren.

Mohammed D., so die offizielle Darstellung, reagiert nicht auf die Zurufe der Polizisten. Also soll Pfefferspray zum Einsatz kommen. Zu dem Zeitpunkt schließen die Beamten nicht aus, dass Mohammed sich tatsächlich umbringen, also Suizid begehen will.

Es kommt Pfefferspray zum Einsatz. Presseberichte, hier am Beispiel des Kölner Stadt-Anzeigers (KStA), nennen das bereits einen "Plan":

Der Plan: Durch das Spray in den Augen gereizt soll sich der Teenager ins Gesicht greifen und das Messer fallen lassen. Der Plan verfehlt, vielmehr springt D. den bisherigen Ermittlungserkenntnissen zufolge auf und läuft mit vorgehaltener Klinge auf die Beamten zu. Die Lage eskaliert.

Kölner Stadt-Anzeiger

Ein "Plan"? Scheint etwas hoch gegriffen.

Das Drama nimmt seinen Lauf. Als nächstes soll einer der Polizisten versucht haben, den Angreifer mit einem Taser zu stoppen. Das ist ein Elektroschocker. Auch ein zweiter Versuch dieser Art - durch einen Kollegen - soll offiziellen Angaben zufolge gescheitert sein. Mohammed D., so die Dortmunder Polizei, rennt mit gezücktem Messer auf die Uniformierten zu.

Dann fallen Schüsse.

Dem Vernehmen nach drückt der 29-jährige Polizeikommissar, der den Einsatz aus dem Hintergrund sichern soll, aus zirka drei Metern Entfernung ab: Wie es heißt, um eine Messerattacke des Jugendlichen auf seine Kollegen abzuwehren.

Fünf Projektile aus der Maschinenpistole MP5 treffen den Körper des Jungen.

Eine Kugel trifft Mohammed in den Bauch, eine in den Kiefer, drei weitere verletzen Schulter und Unterarm. Der Getroffene wird noch ins Krankenhaus gebracht. Noch während der Not-Operation stirbt er an den Schussverletzungen.

Es fielen sechs Schüsse. Ein Projektil verfehlte das Ziel.

"Schaden von der Polizei abwenden"

NRW-Innenminister Herbert Reul, nach den Vorgängen befragt, schildert in den ARD-Tagesthemen von Mittwochabend (10. August) den Vorgang so:

Er (gemeint ist Mohammed D.) ist immer weiter auf die Polizisten, die sich verschanzt hatten, zugerannt, es wurde bedrohlich, und dann hat der Polizist, der dafür zuständig ist, aus 'ner Entfernung die Schüsse abgegeben, um Schaden an den Polizisten abzuwenden.

NRW-Innenminister Herbert Reul

Lakonisch: Eine MP5 sei üblich, wenn eine Bedrohungslage eskaliere und "alles andere den Angreifer nicht stoppen kann".

Kein Geheimnis: Die Polizei in Nordrhein-Westfalen verwendet Maschinenpistolen vom Typ MP5 von Heckler & Koch ("die wohl populärste Maschinenpistolenserie der Welt"). Diese sind nicht etwa Spezialkräften vorbehalten, sondern gehören in vielen Streifenwagen zur Ausrüstung. Es gebe regelmäßig Schießtrainings mit allen bei der Polizei eingesetzten Waffen, wird offiziell mitgeteilt.

Die Frage ist: Was ist "alles andere" in Reuls Aussage? Was gehört denn vernünftigerweise dazu, einen (mutmaßlichen) Angreifer zu stoppen, bevor eine MP zum Einsatz kommen muss?

Warum konnten elf Einsatzkräfte den jungen Mann mit dem Messer nicht stoppen?

"Nicht verhältnismäßig"

"Nicht verhältnismäßig", urteilt der Bochumer Kriminologe Thomas Feltes, befragt im Tagesthemen-Beitrag. Feltes erläutert das Mittwochabend so:

Ich kann das nicht (…) nachvollziehen, worin die Eskalation gelegen haben soll. Also wenn fünf oder sechs Schüsse aus einer MP auf einen 16-Jährigen, ganz offensichtlich auch psychisch gestörten Jugendlichen abgegeben werden, dann ist das in meinen Augen eine Situation, die ich versuchen muss, anders zu lösen – vorher.

Kriminologe Thomas Feltes

Ein anderer Kritiker ist Rafael Behr. Behr arbeitet als Professor für Polizeiwissenschaften an der Akademie der Polizei Hamburg und lehrt dort Kriminologie und Soziologie. Außerdem leitet Behr die Forschungsstelle Kultur und Sicherheit, die ebenfalls zur Polizeiakademie gehört. Im Gespräch mit Focus online nimmt er Stellung zu der Dortmunder Aktion:

Bei fast 50 Messerangriffen in Nordrhein-Westfalen in diesem Jahr frage ich mich, warum die Beamten nicht anders auf dieses Einsatzgeschehen vorbereitet werden - und warum man ihnen nicht andere Einsatzmittel an die Hand gibt.

Rafael Behr, Polizeiakademie Hamburg

Als Beispiel für planvolles Vorgehen nennt Behr "Distanzstangen" oder "Kettenhemden", wie sie bei Sondereinsatzkommandos (SEKs) zur Ausrüstung gehörten. Und fügt hinzu: "Mir sind zwei Dinge schleierhaft. Erstens: Warum nimmt jemand dorthin eine MP5 mit? Und zweitens: Wer von den Polizisten hat Führungsverantwortung übernommen?"

Den Einsatz von elf Beamten sieht er als (theoretisch?) konzertierte Aktion, also als ein (potenziell?) abgestimmtes Zusammenwirken der Polizeikräfte – jedoch war es das hier? Eine konzertierte Aktion wäre nach Behr "womöglich erfolgreicher gewesen als Schüsse aus einer Maschinenpistole".

Mohammed D. ist tot; ihm nützt die Expertise nichts mehr. Der junge Senegalese war als unbegleiteter Flüchtling über Mali nach Deutschland eingereist, verstand offenbar weder Englisch noch Deutsch. Erst vor kurzem war er von Mainz nach Dortmund gekommen, wurde hier der Jugendeinrichtung zugeteilt und soll dort zuletzt auch übernachtet haben.

Erkenntnisse über den genauen Ablauf des Geschehens am Montagnachmittag erhoffen sich die Ermittler von Zeugenbefragungen: Demnach sollen drei Betreuer des Jugendtreffs vernommen werden, die den Einsatz mitansahen. Auch die Polizisten, die nicht schossen, sollen als Zeugen befragt werden.

Die Leiche des 16-Jährigen wurde derweil obduziert. Der vorläufige Obduktionsbefund bestätigte Verletzungen durch fünf Schüsse. Außerdem seien sechs Projektilhülsen gefunden, also wohl sechs Schüsse abgegeben worden.

Bei einem Angriff habe man nur Sekundenbruchteile für eine Entscheidung, erklärt Frank Schniedermeier vom Vorstand der Gewerkschaft der Polizei NRW im Interview. Bleibe noch Zeit, sollte ein Warnschuss in die Luft abgegeben werden - ansonsten müsse man so schießen, dass das Gegenüber "angriffsunfähig" sei.

Unabhängig von dem Fall in Dortmund gehören Messerangriffe, so Schniedermeier, zu den gefährlichsten Angriffen auf Polizisten.