Die "andere Türkei", die Ukraine und der Westen

Die türkische Opposition hat durch Erdogans Schwäche im kommenden Jahr Machtchancen. Was würde sie in der Außenpolitik anders machen?

Der amtierende türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan geht mit schwerem Gepäck in die bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni 2023. Die Türkische Republik hat erhebliche wirtschaftliche Probleme – zu nennen ist hier vor allem die Inflation, die offiziell 80 Prozent und laut unabhängigen türkischen Experten 180 Prozent beträgt.

Die Zustimmung für den zeitweise scheinbar übermächtigen türkischen Führer und seine "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) ist stark zurückgegangen. Die Partei liegt laut jüngsten Umfragen nur noch bei 30 Prozent gegenüber 45 bis 50 Prozent im letzten Jahr.

Hauptproblem: Gallopierende Inflation

Erdogan unternahm erfolglose Versuche, die wirtschaftliche Lage zu verbessern, insbesondere zur Stärkung der Währung. Dennoch erlebte die Lira in den letzten Jahren eine fünffache Abwertung. Der Präsident verstärkte daraufhin seine außenpolitischen Aktivitäten.

Die türkische Wirtschaft unter der AKP-Herrschaft basierte in den letzten 20 Jahren auf einer extremen Abhängigkeit von ausländischen Investitionen. Nun, in einer Zeit anhaltender Konflikte mit dem Westen und Ländern der Nahost-Region kam es zu einem vorhersehbaren Abfluss von westlichem Kapital aus der Türkei.

Es ist hier kein Zufall, dass Erdogan als Ausgleich versuchte, neue Brücken zur Nato, zu Saudi Arabien, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und sogar Israel zu bauen. Diese außenpolitischen Aktivitäten führten jedoch weder dazu, dass Erdogans Versäumnisse im eigenen Land ausgeglichen wurden noch Ankara das erhoffte Image als Weltmacht erhielt. Nicht zuletzt deswegen schickte sich der türkische Präsident auch an, eine wichtige Rolle bei der Lösung des ukrainisch-russischen Konflikts zu spielen.

Währenddessen kritisieren führende türkische Oppositionelle auch den außenpolitischen Kurs der Regierung. Führende Oppositionelle halten es für erforderlich, das früher hohe Niveau der Beziehungen zum Westen wiederherzustellen und die Abhängigkeit Ankaras von Moskau in den Wirtschaftsbeziehungen zu verringern, vor allem beim Thema Energie.

Sechserbund gegen Erdogan mit ehemaligen Weggefährten

Aktuell besteht die Opposition aus sechs Parteien von Bedeutung, die sich Anfang diesen Jahres mit zwei Zielen zusammengeschlossen haben: Erdogan zu besiegen und in der Türkei wieder ein parlamentarisches Regierungssystem zu schaffen. Die älteste Partei des Landes, die republikanische und säkulare Werte in der Tradition Mustafa Kemal Atatürks verteidigt, ist dabei die Republikanische Volkspartei (CHP).

Sie verfügt aktuell über 134 der 600 Parlamentssitze und wird mit Kemal Kilicdaroglu von einem erfahrenen Politiker geführt. Die zweite große Partei im Bündnis, "Eine gute Partei" genannt verfügt über 37 Parlamentssitze und baut vor allem auf ihre charismatische Anführerin Meral Aksener, einer früheren türkischen Innenministerin aus der Epoche vor Erdogan.

Neben von Anfang an gegen Erdogan gerichteten Kräften sind am Bündnis aber auch frühere Weggefährten und Unterstützer des Präsidenten beteiligt. Diese kehren nun mit eigenen Parteien in die Politik zurück. Etwa der ehemalige Ministerpräsident Ahmet Davutoglu mit seiner "Partei der Zukunft" oder der frühere Wirtschaftsminister und Außenminister der Türkei Ali Babacan mit der "Partei für Demokratie und Fortschritt".

Neben den beiden großen Oppositionsparteien und den Gründungen früherer Erdogan-Gefährten sind am Oppositionsbund noch die früher ebenfalls mit Erdogan verbündete islamische "Partei des Glücks" und die liberalkonservative Demokratische Partei beteiligt, die westliche Werte hochhält.

Dieses bunte Bündnis soll nach aktuellen Medienleaks unter der Führung des CHP-Vorsitzenden Kilicdaroglu in den Wahlkampf starten. Die Agenda der Opposition enthält eine stärkere Priorisierung der Innenpolitik, doch außenpolitische Themen kann sie nicht ignorieren, vor allem nicht die zentralen Punkte des Ukraine-Krieges und des türkischen Verhältnisses zum Westen.

Befreiung von der "Abhängigkeit von Russland"

Hier sollte man nicht vergessen, dass Erdogan trotz seiner jetzt vorsichtigen Haltung bereits am 24. Februar die russische Militäraggression unmissverständlich verurteilte und erklärte, dass "die Türkei den Kampf der Ukraine zum Erhalt ihrer territorialen Integrität unterstützt". Vertreter der türkischen Opposition brauchen keine Vorsicht walten zu lassen und können sich noch härtere Statements gegen Moskau leisten.

Schon seit dem ersten Kriegstag fordern sie die Regierung auf, "das Land von der Abhängigkeit von Russland zu befreien". Darunter verstehen sie eine Aufgabe des russischen S-400 Flugabwehrraketensystems und der gemeinsamen Projekte im Bereich der Energie. Oppositionsführerin Meral Aksener sieht es als erforderlich an, das von russischer Seite gebaute Atomkraftwerk Akkuyu zu verstaatlichen.

Aksener gab sich im März sogar besorgt, dass "niemand dafür bürgen kann, dass es im Putins Kopf keine Pläne gibt (…) türkische Gebiete als fehlende Teile von Russland" zu annektieren.

Solche Äußerungen sind möglich, da die große Mehrheit der türkischen Gesellschaft das Vorgehen Russlands auf dem ukrainischen Territorium ablehnt. Laut einer im März durchgeführten Umfrage des türkischen Forschungszentrums Areda Survey äußerten sich 68,8 Prozent der Türken negativ über die Politik des Kreml in der Ukraine und nur 31,2 Prozent stimmten ihr zu.

Basierend auf dieser Stimmung fordert die türkische Opposition ihre Regierung auf, sich hier mit den westlichen Ländern solidarisch zu zeigen und sich in der Frage eindeutiger zu positionieren, etwa durch antirussische Sanktionen. In diesem Zusammenhang kritisiert die Opposition auch die Entscheidung der Türkei, sich im Europarat bei der Suspendierung Russlands der Stimme enthalten zu haben.

Einig war sich die Opposition auch bei der Aufnahme von Schweden und Finnland in die Nato, die von Erdogan aktiv verzögert wurde. Zum einen betont sie das Recht der Schweden und Finnen, "die Sicherheit ihrer Länder vor einer möglichen russischen Invasion zu gewährleisten". Zum anderen wurde Erdogan vorgeworfen, mit seinen harten Vorwürfen der Unterstützung des "Terrorismus" prokurdischer Organisationen in Skandinavien eigentlich nichts erreicht zu haben, als er seine Position zum nordischen Nato-Beitritt änderte.

Außenpolitische Abenteuer begeistern nicht mehr

Kritisiert werden seitens der Opposition auch immer wieder Erdogans Zugeständnisse im Bezug auf Syrien. So beschuldigte Kilicdaroglu Ende Juni den türkischen Präsidenten, ständig an die Tür "des Mörders von 33 türkischen Militärangehörigen" zu klopfen. Er bezog sich dabei auf einen Luftangriff im Februar 2020 auf türkische Truppen, der offiziell von der syrischen Luftwaffe durchgeführt wurde, den viele Türken jedoch Russland zur Last legen.

Zusätzlich fällt es Erdogan jedoch vor allem schwer, innenpolitisches Versagen mit der außenpolitischen Situation zu rechtfertigen. So erinnerte Ali Babacan als früherer Wirtschaftsminister und heutiger Oppositionsführer daran, dass selbst in den krisenhaften Jahren 2002 bis 2004, als die USA ihre Invasion im Nachbarland Irak starteten und die Türkei Terroranschläge erlebte, die Inflation im Land von 29 Prozent auf neun Prozent gesenkt werden konnte. "Die Ursache für die Inflation ist nicht der russisch-ukrainische Krieg, die Ursache sind Sie" betonte Babacan gegenüber Erdogan.

Es könnte Erdogan den Sieg im nächsten Jahr kosten, dass die Bevölkerung angesichts der inneren Probleme das Interesse an seinen außenpolitischen Abenteuern verliert. Die Militäreinsätze im Irak oder Syrien stoßen nicht mehr auf Begeisterung unter den Türken angesichts eines ständigen Preisanstiegs für grundlegende Konsumgüter. Hier besteht eine Chance für die Opposition, die Initiative zu ergreifen.

Ruslan Suleimanov war bis Anfang 2022 leitender Nahost-Korrespondent der russischen Nachrichtenagentur Tass. Nach seinem dortigen Ausscheiden aus Protest gegen den Ukraine-Krieg arbeitet er als TV-Journalist in Aserbaidschan und freier Journalist in der Türkei.