Magna Charta der Wissensgesellschaft

Im Vorfeld des UN-Weltgipfels zur Informationsgesellschaft im Dezember stellte die Heinrich-Böll-Stiftung die Eckpunkte einer "Charta der Bürgerrechte für eine nachhaltige Wissensgesellschaft" vor.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 37 Kommentare lesen
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Richard Sietmann

Im Vorfeld des UN-Weltgipfels zur Informationsgesellschaft im Dezember stellte heute die Heinrich-Böll-Stiftung die Eckpunkte einer "Charta der Bürgerrechte für eine nachhaltige Wissensgesellschaft" vor. "Es kommt darauf, Regeln zu schaffen, die eine künstliche Verknappung von Wissen ausschließen", begründete die Politikwissenschaftlerin Jeanette Hofmann vom Wissenschaftszentrum Berlin heute vor der Presse das zentrale Anliegen. Die Charta, offiziell als Arbeitspapier für den World Summit on the Information Society (WSIS) eingereicht, zielt unmittelbar auf die Abschlussdeklaration, die die Regierungs- und Staatschefs als Ergebnis ihres Treffens vom 10. bis 12. Dezember 2003 in Genf unterzeichnen wollen.

In insgesamt zehn Punkten fordert der Entwurf die Sicherung des Zugangs zum Wissen "für jedermann, zu jeder Zeit, von jedem Ort und zu fairen Bedingungen" und erinnert daran, "dass Wissen im Prinzip Erbe und Besitz der Menschheit und damit frei ist. Das kommerziell verwertete Wissen ist dem gegenüber die Ausnahme". Des Weiteren verlangt die Charta die Offenheit technischer Standards und offene Organisationsformen, denn "proprietäre Lösungen führen zu unerwünschten Monopolbildungen und verhindern, dass sich alternative und neue Infrastrukturen herausbilden". Sie hebt die Notwendigkeit zur Sicherung der Privatsphäre und der Erhaltung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt ebenso hervor wie die Überwindung der digitalen Spaltung und die Informationsfreiheit als Bürgerrecht auf politische Beteiligung und transparente Verwaltung.

Der vor zwei Jahren beschlossene UN-Gipfel geht auf die Initiative von Entwicklungsländern zurück, die sich davon vor allem Unterstützung für den Ausbau der Infrastruktur und die Anschaffung von Kommunikationstechnik erhoffen. Die Federführung zur Vorbereitung obliegt denn auch der eher technisch orientierten UN-Organisation International Telecommunication Union (ITU) und nicht der für die Bereiche Bildung, Kultur und Wissenschaft zuständigen UNESCO, die aber in die Vorbereitung mit eingebunden ist.

"Der Gipfel bietet ein Forum, um die Prinzipien einer künftigen Wissensgesellschaft international zu diskutieren", betont die Berliner Politikwissenschaftlerin und kritisiert, bislang seien die Diskussionen "allzu stark durch die Bestandsinteressen der Informationswirtschaft geprägt". Die Charta-Initiative, der unter anderen der Geschäftsführer der Humanistischen Union, Tobias Baur, der Politikwissenschaftler Claus Leggewie von der Universität Gießen, der Informationswissenschaftler Rainer Kuhlen von der Deutschen UNESCO-Kommission und ICANN-Direktor Andy-Müller Maguhn angehören, ruft deshalb dazu auf, den Genfer Gipfel im Dezember als Chance zur Gestaltung einer demokratischen Wissensgesellschaft zu begreifen.

Die Gelegenheit dazu bietet sich gleich zweifach: Auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre, der Kontrastveranstaltung zum Davoser Weltwirtschaftsforum, wurde parallel zum World Summit -- zur selben Zeit und ebenfalls in Genf -- die Durchführung eines "Gegengipfels" beschlossen. Die Gründe dafür waren einerseits Frustrationen über die Intransparenz der ITU; andererseits provozierte die Non-Government Organisations (NGOs) der Umstand, dass sich zu der UN-Veranstaltung nicht nur Unternehmensverbände, sondern auch einzelne Firmen als Teilnehmer akkreditieren konnten. "Das ist recht ungewöhnlich", kritisiert Ralf Bendrath von der NGO-Koordinierungsgruppe zum WSIS diese Gipfelkonstruktion, "die sind dann doppelt repräsentiert."

Die Bundesregierung, die bis zur PISA-Katastrophe ständig die Informations- und Wissensgesellschaft propagierte, hat bislang noch keine eigene Vorlage in den WSIS-Diskussionsprozess eingebracht; dem Vernehmen nach soll erst nach der WSIS-Vorbereitungskonferenz, die in den kommenden zwei Wochen in Genf stattfindet, eine interministerielle Absprache zur Positionsbestimmung erfolgen. "Die deutsche Bundesregierung", klagt Ralf Fücks vom Vorstand der Bündnis 90 / Die Grünen nahestehenden Heinrich-Böll-Stiftung angesichts der knappen Zeit, "scheint dem Gipfel bisher keine große Bedeutung beizumessen." Die hat im Moment vielleicht auch andere Sorgen -- und mit der Entwicklung längerfristig tragfähiger Strategien ist sie bisher ohnehin nicht aufgefallen. (Richard Sietmann) / (jk)