Herausforderung des Westens

Die Neuordnung der Welt und aufstrebende Mächte stellen die Rolle der bisher führenden Staaten auf den Prüfstand. Wie die Nato reagiert. (Teil 2 und Schluss)

Der vorwärtsorientierte Anspruch, sich eine "hochintensive dimensionsübergreifende Kriegsführung gegen gleichwertige Wettbewerber, die Kernwaffen besitzen" in einer Weise durchzusetzen, "dass andere Mächte gar nicht erst auf die Idee kommen, uns anzugreifen", legt beredtes Zeugnis davon ab, dass andere Mächte keinen Grund sehen um ihrer nationalen Selbstbehauptung willen, auf den Zugriff zur einzigartigen, ultimativen atomaren Wunderwaffe als Ultima Ratio ihres Selbstbehauptungswillen innerhalb der US-und Nato-regelbasierten Weltordnung freiwillig zu verzichten.

Um die militärisch bewerkstelligte weltweite Durchsetzung, Geltung und "Verteidigung" der "globalen Interessen" der mit einem "klaren Wertekompass in der Hand" (Außenministerin Annalena Baerbock, 18.03.2022) ausgestatteten USA, Nato und Europa ein für alle Mal sicher zu stellen und darüber die regelbasierte Weltordnung westlicher Machart unwidersprechlich zu machen, sieht sich das westliche Bündnis verantwortungsvoll herausgefordert, konsequent neue Anstrengungen darauf zu verwenden, jegliche nukleare Erst- oder Zweitschlagskapazität von welchem Kernwaffenstaat auch immer, so zu neutralisieren, dass einem möglichen Gegner immerzu diese Rechnung aufgemacht werden kann:

Das Bündnis verfügt über die Fähigkeiten und die Entschlossenheit, jedem (!) Gegner nicht annehmbare Kosten aufzuerlegen, die weit schwerer wiegen würden als die Vorteile, die er zu erzielen erhoffen könnte.

Strategisches Konzept der Nato 2022, Madrid, 29.06.2022

Da aber das Programm einer durch den nuklear bewaffneten Westen beaufsichtigten Denuklearisierung der vorgefundenen Staatenwelt zur Wiederherstellung der unbedingten Kernwaffen-Überlegenheit des Westens immer noch eine nicht zu übergehende Relativierung schon in der Entschlossenheit Russlands vorfindet, auf sein ansehnliches Nuklearwaffenpotenzials so zu bestehen, dass es keinen nuklearen Enthauptungsschlag, keinen "Global First Strike" seitens der USA und der Nato zulässt, sondern jederzeit auf der Stufenleiter der angedrohten "Full Spectrum Dominance" mitgehen kann, ist seitens des Westens die atomare Einkreisung (Kern-)Russlands geboten:

Das nukleare Abschreckungsdispositiv der Nato beruht auch auf vorwärtsdislozierten Kernwaffen der Vereinigten Staaten in Europa und auf den Beiträgen der betreffenden Verbündeten.

Strategisches Konzept der Nato, Madrid, 29.06.2022

Die einkreisende Vorwärtsdislozierung der US- und Nato-Kernwaffen in unmittelbarer Nähe der russischen Westgrenze in Gestalt des Raketenabwehrschirms, um Russland jede atomare Erst- und Zweitschlagsfähigkeit zu nehmen, hat die Atomkriegsgefahr angesichts des nuklearen Selbstbehauptungs- und Widerstandswillen Russlands soweit radikalisiert, dass die USA und die Nato bislang darauf achten, formell und unmittelbar nicht als Kriegspartei in ihrem Stellvertreterkrieg gegen Russland mithilfe der Ukraine aufzutreten.

Auf diese Weise erspart der seit dem 24. Februar 2022 von den USA und der Nato gegen Russland geführte Stellvertreterkrieg dem Westen im Moment das nukleare Risiko, die Ukraine in das Bündnis aufzunehmen.

Die nukleare Kapitulation Russlands steht noch nicht an, an der Zerstörung Russlands mittels eines "totalen Wirtschaftskrieges" arbeiten USA, Nato und EU parallel zur Wiederherstellung einer unschlagbaren nuklearen Erstschlagkapazität mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln.

Dass Russland nicht gewillt ist, seine Entwaffnung, Zerstörung und Kapitulation hinzunehmen signalisiert Russland regelmäßig mit der Mahnung an den Westen, es nicht zur nuklearen Auseinandersetzung kommen zu lassen, was diesen zu nichts anderem beflügelt als:

Die nukleare Abschreckung der Nato muss glaubhaft bleiben. Daher hat die Bundesregierung sich jetzt für die Beschaffung der F-35 entschieden.

Außenministerin Baerbock, Auftaktveranstaltung zur Entwicklung einer Nationalen Sicherheitsstrategie, 18.03.2022

Mit anderen Worten: "Wenn wir uns im Kräftemessen des 21. Jahrhunderts global behaupten wollen, dann müssen wir alle unsere Instrumente auf die Höhe der Zeit bringen – militärisch, politisch, analog, digital, technologisch." (Baerbock, ebd.)

Das gilt vornehmlich auch gegenüber der kommenden Nuklearmacht China und dem erklärten chinesischen nationalen Selbstbehauptungswillen, eine atomare Einkreisung durch die USA und dem in der Nato versammelten Westen, nicht hinzunehmen, sondern sich seinerseits die ungehinderte Verfügungsfreiheit über die Einzigartigkeit der nuklearen Wunderwaffe zuzulegen.

Dieser neben Russland zusätzlich drohenden Relativierung der atomaren Überlegenheit der USA und der Nato ist mit einer präventiven Eskalation in Sachen atomarer Einkreisung Chinas im Indo-Pazifischen Raum zu begegnen:

Der indopazifische Raum ist für die Nato wichtig, da Entwicklungen in dieser Region unmittelbare Auswirkungen auf die euro-atlantische Sicherheit haben können.

Strategisches Konzept der Nato, Madrid, 29.06.2022

Die vorwärtsdisloziert-präventive nuklearen Einkreisung Chinas ist die offensive Kalkulation, China vor die Alternative zu stellen, von seinem nuklearen Selbstbehauptungswillen Abstand zu nehmen oder einen atomaren Weltkrieg zu riskieren: "Wir setzen uns weiterhin dafür ein, die Risiken eines Atomkriegs zu verringern." (Biden-Harris National Security Strategy, October, 2022) Andererseits herrscht auch ein illusionsloser, nuklearstrategischer Realismus diesseits und jenseits des Atlantiks:

Unsere Konkurrenten und potenziellen Gegner investieren massiv in neue Kernwaffen. In den 2030er Jahren werden die Vereinigten Staaten zum ersten Mal zwei große Nuklearmächte abschrecken müssen, die beide über moderne und vielfältige globale und regionale Nuklearstreitkräfte verfügen werden.

Biden-Harris, ebd.

Chinas nationaler Selbstbehauptungswille bleibt davon unbeeindruckt, weshalb seine Antwort darauf lautet wie in der Staatengemeinschaft in der regelbasierten Weltordnung üblich:

Wir müssen die Modernisierung der Landesverteidigung und der Streitkräfte beschleunigen. Ein starkes Land muss ein starkes Militär haben, denn nur dann kann es die Sicherheit der Nation garantieren [...] Wir werden uns gegen Hegemonie und Machtpolitik wehren und uns dafür einsetzen, dass die Räder der Geschichte in Richtung heller Horizonte rollen, und wir werden niemals zulassen, dass uns eine fremde Macht tyrannisiert, unterdrückt oder unterjocht. Jeder, der dies versucht, wird sich auf Kollisionskurs mit einer großen Stahlmauer wiederfinden, die von über 1,4 Milliarden Chinesen geschmiedet wurde.

Xi Jinpings rede zum 100. Jahrestag der KPCh, 1. Juli 2021

Darüber hinaus lässt die chinesische nationale Staatsräson hinsichtlich der von den USA und der Nato projektierten militärisch-nuklearen Einkreisung die Welt wissen, dass der chinesische "große Traum" und die "patriotische Einheitsfront" (Xi Jinping) fraglos miteinschließen:

Die Lösung der Taiwan-Frage und die Verwirklichung der vollständigen Wiedervereinigung Chinas ist eine historische Mission und eine unerschütterliche Verpflichtung der Kommunistischen Partei Chinas.

Xi Jinping, ebd.

Das gebietet seitens der "Weltmacht mit globalen Interessen" (Biden) für das angebrochene 21. Jahrhundert und darüber hinaus eine grundsätzliche Klarstellung:

Wir werden [...] unser Militär modernisieren und stärken, damit es für die Ära des strategischen Wettbewerbs mit Großmächten gerüstet ist [...] über das gesamte Konfliktspektrum hinweg, um Konkurrenten daran zu hindern, den Status quo in einer Weise zu verändern, die unseren lebenswichtigen Interessen schadet [...] Unser Militär ist unbesiegt - und wir werden es auch bleiben [...] Wir sind keine passiven Zeugen der Geschichte; wir sind die Autoren der Geschichte.

Biden-Harris National Security Strategy, October, 2022

Für den deutschen Konkurrenten ergibt das folgende Lagebeurteilung: "Und Deutschland? Nein, Deutschland ist keine globale Führungsmacht [...] Deutschland, ein Land so klein im Weltmaßstab und praktisch ohne eigene Ressourcen und Bodenschätze." (Steinmeier-Rede: "Alles stärken, was uns verbindet", 28.10.2022)

Und nun: "Was folgt daraus? Wie sollen wir Europa und der Welt dann gegenübertreten?" (Steinmeier-Rede auf der MSC 2020, 14. 2. 2020)

Angesichts dessen, dass Deutschland gemessen am eigenen Weltordnungsmacht-Anspruch nach wie vor keine globale Führungsmacht mittels der "Schicksalsgemeinschaft Europa" (ebd.) darstellt, gilt umso mehr: "Für heute und für morgen gilt: Europa ist der unabdingbare Rahmen für unsere Selbstbehauptung in der Welt [...] Was wir brauchen, ist [...] ein glaubhafter Wille zur Selbstbehauptung Europas." (ebd.)

Mit einem Wort: "Wir brauchen den Willen zur Selbstbehauptung und auch die Kraft zur Selbstbeschränkung." (Steinmeier-Rede an die Nation, 28.10.2022) Ersteres ist den politischen Entscheidungsträgern, Letzteres den berühmten Menschen im Land vorbehalten.

Kein Wunder also, wenn es auf dieser stabilen Grundlage ruhend nunmehr heißt: "Die traurige Wahrheit ist leider: Die Welt ist auf dem Weg in eine Phase der Konfrontation." (Steinmeier, ebd.)

Dahin, zu dieser "Zeiten- und Epochenwende" hat es die abendländische Wertegemeinschaft in Gestalt von US-, Nato-, deutscher und europäischer Selbstbehauptungswille in den letzten 30 Jahren gebracht, dem die "Bali-Erklärung der Staats- und Regierungschefinnen und -chefs der G20 vom 15. - 16. November 2022" Rechnung trägt, indem sie in Anbetracht des Kommenden dazu auffordert:

[...] das humanitäre Völkerrecht einzuhalten, darunter den Schutz von Zivilbevölkerung und Infrastruktur in bewaffneten Konflikten. Der Einsatz oder die Androhung des Einsatzes von Kernwaffen ist unzulässig. Entscheidend sind die friedliche Konfliktbeilegung, Bemühungen zur Krisenbewältigung sowie Diplomatie und Dialog. Unsere Zeit darf nicht eine des Krieges sein.

G-20-Bali-Erklärung 15.-16.11.2022

Ein atomarer Weltkrieg wird also in Kauf genommen. Doch nicht nur das: Seit einer gewissen Zeit sieht sich die bislang monopolar dominierende westliche Geo- und Weltordnungspolitik der USA und des Westens einer sich am Horizont abzeichnenden Herausforderung gegenüber, die ihren globalen, demokratisch praktizierten und legitimierten Selbstbehauptungswillen zu neuen Höhenflügen antreibt.