Mehr Burnout wagen gegen Lehrermangel?

Der Ansatz, den Lehrerberuf durch gute Arbeitsbedingungen attraktiver zu machen, findet momentan wenig Beachtung. Symbolbild: steveriot1 auf Pixaby (Public Domain)

Kultusminister wollen Mangel an Pädagogen mit Mehrarbeit, größeren Klassen und Mental-Health-Angeboten beheben. Gewerkschaften und Bildungsverbände reagieren entsetzt.

Wie soll man dem grassierenden Lehrermangel Herr werden? Ganz einfach: Indem man den Mangel verschärft. Blödsinn? Genau. Aber so gehen die Kultusminister der 16 deutschen Bundesländer das Problem an – beziehungsweise kapitulieren sie davor. Mehrarbeit für Pädagogen, größere Klassen, Fern- und Hybridunterricht, Rekrutierung von Quereinsteigern und Pensionären, Lehramtsstudierende an die Front. Wenn das am vergangenen Freitag durch ein Beratergremium der Kultusministerkonferenz (KMK) vorgelegte Notfallkonzept eines lehrt, dann das: die Politik ist mit ihrem Latein am Ende.

Entsprechend erbost haben Gewerkschaften und Bildungsverbände auf die sogenannten Empfehlungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) reagiert. Von einem "bildungspolitischen Offenbarungseid" sprach der Verband Bildung und Erziehung (VBE). "Es ist geradezu absurd, dass durch Verschlechterungen in den Arbeitsbedingungen erfolgreich für den Lehrerberuf geworben werden soll."

Schluss mit Teilzeit

Für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sind die Maßnahmen ein "Ausdruck von Hilflosigkeit". Die Misere sei "dramatisch und Zeugnis systemischen Versagens". Der konservative Deutsche Lehrerverband (DL) hält eine Erhöhung der Arbeitsbelastung für "absolut kontraproduktiv, weil dies erheblich mehr Kolleginnen und Kollegen in die krankheitsbedingte Frühpensionierung treiben und das Berufsbild langfristig noch unattraktiver machen würde".

Stichwort: Teilzeit. Fast die Hälfte der Lehrkräfte in Deutschland arbeitet mit reduzierter Stundenzahl. Was nach "schönem Lenz" klingt, hat neben familiären Motiven vor allem damit zu tun, dass ein volles Deputat nicht mit dem Unterricht endet, sondern erhebliche Heimarbeit beinhaltet – Vor- und Nachbereitung, Tests- und Klassenarbeiten konzipieren, Korrekturen.

Nach einer Studie der GEW Sachsen vom Oktober 2022 arbeitet ein Drittel der Vollzeitkräfte im Freistaat mehr als 48 Stunden pro Woche, während sie für 40 Stunden bezahlt werden. Die langen Ferienzeiten mögen einen Teil der Überlast kompensieren, ein Burnout wartet aber nicht bis zum Urlaub.

Gleichwohl hat die SWK die "größte Beschäftigungsreserve" im Beschränken von Teilzeitregelungen ausgemacht. "Bereits eine maßvolle Aufstockung der Arbeitszeit" aller Betroffenen habe "erhebliche Effekte" und eine Reduktion auf unter 50 Prozent solle "nur bei Vorliegen eng gefasster Gründe" gewährt werden, konstatiert das Gremium.

Außerdem wolle man die "Möglichkeit einer befristeten Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung" nach dem Modell der "Vorgriffsstunden" prüfen. Dieses besagt, dass Mehrleistungen in Zukunft mit reduzierten Stundenkontingent auszugleichen sind. Jedoch werde der noch lange anhaltende Lehrermangel dies "schwer machen (...), weshalb die finanzielle Abgeltung realistischer zu sein scheint".

Schönrechnerei rächt sich

Zum Ausmaß der Engpässe gibt es verschiedene Zahlen. Die KMK rechnet bis 2025 mit rund 25.000 fehlenden Lehrkräften, bis 2030 mit 31.000. Allerdings lagen die Kultusminister mit ihren Prognosen wiederholt voll daneben, wodurch sich die Situation erst so zuspitzen konnte. Die GEW klagte denn auch über "Schönrechnerei", was beispielsweise dazu führte, dass die Ausbildungserfordernisse an den Hochschulen massiv unterschätzt wurden.

Das politische Versagen reicht aber viel weiter. Ursächlich für das Desaster ist eine unheilvolle Mischung aus föderaler Fehlplanung und -steuerung und einer Bildungspolitik im Zeichen von Spardiktaten, Entstaatlichung und Privatisierung. Mindestens zwei Jahrzehnte lang wurde der Bedarf an Pädagogen nicht danach bemessen, was wahrhaftig und gemäß wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Besten des Kindeswohls ist.

Vielmehr bog man die Größe entsprechend gesellschaftlicher, politischer und vor allem haushälterischer Notwendigkeiten beliebig zurecht. Zugleich legte man immer wieder neue und durchaus gutgemeinte Schulreformen auf – Inklusion, Ganztagsbetreuung, Förderung sozial benachteiligter Kinder –, die aber ohne die nötige personelle Unterfütterung nicht nur zum Scheitern verurteilt sind, sondern das pädagogische Kerngeschäft noch mehr verunmöglichen.

Das alles, untermalt noch von schlimmen Kampagnen gegen die "faule und überbezahlte" Lehrerschaft, hat den Beruf nachhaltig entwertet, weshalb heute viel zu wenig Nachwuchs nachrückt. Wobei es freilich auch an Zehntausenden Studienplätzen an den chronisch unterfinanzierten Hochschulen mangelt – einmal mehr aus "Spargründen".

Zu allem Überfluss beläuft sich der Sanierungstau bei den Schulgebäuden inzwischen auf 45 Milliarden Euro. Kaputte Klos, bröckelnde Fassaden und Turnhallen mit Dachschaden gehören in der "Bildungsrepublik Deutschland" (Ex-Kanzlerin Angela Merkel, CDU) zum Schulalltag – so wie ständiger Unterrichtsausfall.

Große Klassen, große Belastung

Realitätsnähere Studien als die der KMK haben bis 2025 rund 40.000, bis 2030 circa 85.00 und bis 2035 gar bis zu 156.000 fehlende Lehrkräfte ermittelt. Detaillierte Vorhersagen liegen laut SWK für Nordrhein-Westfalen vor. Dort könne der Bedarf an Mathematiklehrkräften im Schuljahr 2030/31 noch zu 37,2 Prozent gedeckt werden, in Chemie zu 26 Prozent, in Physik zu 18,1 Prozent und in Informatik zu 4,6 Prozent. Dabei sind die über 200.000 ukrainischen Flüchtlingskinder noch nicht mitberücksichtigt.

Den Ukraine-Krieg konnte die Politik nicht voraussehen. Dass auf die Schulen eine riesige Pensionierungswelle zurollt und geburtenschwache Jahrgänge den Zulauf an die Unis schmälern, wussten die Verantwortlichen aber sehr wohl. Immerhin sieht man die Dinge inzwischen klarer: Laut Einschätzung der SWK-Wissenschaftler werde das Problem "aller Voraussicht nach in den kommenden 20 Jahren bestehen bleiben". Bislang war die KMK von einer Entspannung ab dem Jahr 2035 ausgegangen.

Auf heftige Kritik stößt vor allem das Rezept der SWK, größere Klassen einzurichten. Demnach wären "zunächst die definierten Obergrenzen auszuschöpfen". Sobald andere Maßnahmen ausgereizt seien, "darf in der Sekundarstufe I auch eine befristete Erhöhung der maximalen Klassenfrequenz nicht ausgeschlossen werden". Nicht überzeugend wirkt die Begründung. So zeige die Forschung, "dass Effekte der Klassengröße auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler eher gering sind". Bekannt ist dem Gremium aber auch: "Lehrkräfte nehmen große Klassen als Belastung wahr."

Pädagogen, seid achtsam!

Abhilfe sollen hier "mehr Angebote der Gesundheitsförderung" schaffen, etwa "Achtsamkeitstrainings" sowie "Meditation, Atem- und Visualisierungsübungen". Erfolgversprechend seien auch "eMental-Health-Angebote, (...) die internetbasiert (kognitiv-)verhaltensorientierte Strategien vermitteln und zu mittleren bis großen und nachhaltig positiven Effekten auf die berufliche Distanzierungsfähigkeit, Sorgengedanken, Depressivität und Schlafbeschwerden führen".

"Das ist blanker Hohn", befand die GEW-Bundesvorsitzende Maike Finnern. Es drohe eine Spirale aus "Überlastung durch Lehrkräftemangel und Lehrkräftemangel durch Überlastung", die zu Abwanderung aus dem Beruf führen werde, äußerte sie. "Die Politik darf nicht den Fehler machen, den dramatischen Lehrkräftemangel auf dem Rücken der Lehrkräfte und letztlich der Kinder, Jugendlichen und auch der Eltern auszutragen."

Was seit Jahren so läuft, soll genau so weitergehen. Nach Ansicht der SWK-Gutachter braucht es außerdem mehr "Selbstregulierungskompetenzen" auf Seiten der Schülerinnen und Schüler. Ausgebaut werden müssten "Formate des Hybridunterrichts" und "Maßnahmen zur Erhöhung der Selbstlernzeiten". Hat der Nachwuchs ja alles in der Pandemie gelernt – oder auch nicht.