Transparent und dreidimensional

Fachleute und Vordenker im Gesundheitswesen breiten ihre Visionen der Medizin der Zukunft auf der TEDMED-Konferenz aus.

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Von
  • Steffan Heuer

Fachleute und Vordenker im Gesundheitswesen breiten ihre Visionen der Medizin der Zukunft auf der TEDMED-Konferenz aus.

Von der Genetik über die Prävention im Alltag bis hin zur Chemotherapie für Kinder – im Gesundheitswesen und insbesondere bei der Therapie können Geschichten und Web-basierte grafische Darstellungen Ärzte, Forscher und Patienten besser motivieren und auf neue Idee bringen. Über diese Vision des "Storytelling" von der Tumorforschung bis zum Fitness-Bereich debattierten rund 400 Experten, Prominente und Tüftler auf der diesjährigen TEDMED-Konferenz, die in der vergangenen Woche in San Diego zu Ende ging.

Der Ableger der legendären TED-Veranstaltungen brachte Unternehmer wie Anne Wojcicki vom Genomik-Anbieter 23andme oder den Erfinder Dean Kamen in einem Raum zusammen mit Medizinern wie dem Gerontologen Aubrey de Grey, dem Chief Medical Officer von Philips oder dem führenden Entwickler von künstlichem Gewebe und Organen, Anthony Atala.

Unter das Expertenvolk, das über Zellkulturen, OP-Roboter und künstliche Muskeln diskutierte, mischten sich Prominente wie Martha Stewart, Goldie Hawn oder der Autor Andrew Weil, die ihre Ideen zur ganzheitlichen Vorsorge und Pflege vorstellten. Wie ein roter Faden zog sich der Ruf nach mehr Transparenz und Zugang zu komplexen Daten gerade für Patienten durch die viertägige Veranstaltung.

Die wilde Mischung ist beabsichtigt, denn TED steht für "Technology, Entertainment and Design", seit der Grafikdesigner und Autor Richard Saul Wurman die Konferenz 1984 aus der Taufe hob. Die exklusiven Veranstaltungen sind ein ebenso begehrter wie teurer Treffpunkt: Wer eingeladen wird, darf 4.000 Dollar zahlen. Dafür gewährt die Elite in Kreativität und Kommerz Einblicke in ihre Labors und Geschäftspläne.

Vor dem Hintergrund der Debatte um die US-Gesundheitsreform konzentrierten sich viele Redner diesmal nicht nur auf den technischen und medizinischen Fortschritt, sondern auch auf die große Rolle, die Patienten bei Prävention, Diagnose und Therapie spielen können. Indem man aus der wachsenden Bioinformatik-Datenflut eine packende Geschichte konstruiert, so der Konsens, kann man Verhaltensmuster frühzeitig und nachhaltig ändern, Behandlungserfolge verbessern und Kosten senken.

Die Biologin Anne Wojcicki, Ehefrau des Google-Gründers Sergey Brin, gab zum ersten Mal Zahlen ihres inzwischen zwei Jahre alten Dienstes zur Genom-Analyse bekannt. Demnach hat 23andme die DNA von mehr als 30.000 Kunden eingesammelt und besitzt damit eine der größten Gen-Datenbanken der Welt. Verbraucher schicken eine Speichelprobe zur Analyse ein und können anschließend im Browser ihre genetischen Marker für ethnische Herkunft, ausgewählte Erkrankungen sowie die medizinische Verträglichkeit für bestimmte Substanzen auswerten und Daten mit anderen Individuen online teilen.

23andme unterfüttert die Genotyp-Datenbank mit Hilfe von Umfragen. Mehr als 70 Prozent aller Kunden, so Wojcicki, haben mindestens eine von bislang 20 Phänotyp-Umfragen ausgefüllt, die Forschern weiteres kostenloses Datenmaterial liefern. Dabei setzt das Unternehmen verstärkt auf die Zusammenarbeit mit Organisationen, die ihm große Datensätze bescheren. So konnte die Firma innerhalb eines Monats mehr als 3.000 Parkinson-Patienten sowie mehr als 5.000 Senioren einbuchen, die an den "Senior Games" teilnahmen. Im Dezember sollen erste Ergebnisse der Parkinson-Gruppe bereits veröffentlicht werden.

Diese schnelle Erfassung, Auswertung und anschließende Diskussion von Patientengruppen im Netz ermöglicht eine neue Form der Transparenz, sagte Wojcicki: "Verbraucher werden im Gesundheitswesen bislang zu wenig einbezogen. Wieso sollen Menschen keinen Zugang zu ihren eigenen Daten bekommen?" Mediziner hegen neben Datenschutzbedenken allerdings erhebliche Zweifel, dass Patienten und selbst Ärzte mit solchem Datenmaterial wirklich etwas anfangen können.

Ein Plädoyer für die Einbeziehung geografischer Daten in die Krankheitsgeschichte gab Bill Davenhall von der Firma ESRI, einem der größten Anbieter geografischer Informationssysteme. Ausgehend von seinem Herzinfarkt mit Anfang 60 breitete Davenhall seine Biografie vor den Zuhörern aus. Er verknüpfte die Wohnorte seit seiner Geburt mit öffentlich zugänglichen Daten über Luftverschmutzung, Schwerindustrie und Giftmüllvorkommenn. "Wir hören immer, dass Gesundheitsrisiken von den Genen, dem Lebenswandel und der Umwelt abhängen, aber kein Arzt fragt je nach den Ortsdaten", kritisierte Davenhall.

Dabei hätten Umweltschutzbehörden und andere Institutionen diese Daten für Milliarden Dollar bereits erfasst und aufbereitet – sie müssen nur in Verbindung mit persönlichen Daten gebracht werden. Ortsangaben, die Aufschluss über krebserregende Substanzen und andere Krankheitsfaktoren erlauben, gehören in die elektronischen Gesundheitsakten, forderte Davenhall. Dank der Allgegenwärtigkeit von Mobiltelefonen sei die detaillierte Erfassung längst kein Problem mehr.

Ins gleiche Horn stieß der Chirurg Richard Satava, wissenschaftlicher Berater der US-Armee zur Zukunft der Medizin. Wer sich beim Nachdenken über Therapien und Technologien von Morgen nur auf traditionelle Experimente und Nachweise verlässt, verpasst ihm zufolge den fundamentalen Wandel hin zur Ära der "Bio-Intelligenz". So bezeichnet Satava die Verschmelzung von Informationstechnologie und Biomedizin, bei der Mikroroboter und ferngesteuerte Instrumente inzwischen einen entzündeten Blinddarm per Magensonde entfernen und bei dem sich schwere innere Blutungen mit Hochintensitäts-Ultraschall stoppen lassen.

Schon bald, prophezeite der Militärberater, werden Ärzte Behandlung und Therapie an virtuellen Modellen jedes Patienten durchspielen und sogar jahrelang im voraus modellieren können. Die Armee experimentiert bereits mit so genannten Holomeren, oder dreidimensionalen virtuellen Patienten. Solche visuellen Daten gehörten in die Krankenakte jedes Menschen. "Wieso lesen wir immer noch Text? Ein Holomer kann vor unseren Augen altern, so dass wir im voraus wissen, was mit uns passieren wird."

Da der menschliche Körper mit seinen 100 Billionen Zellen und vor allem das Wechselspiel komplexer genetischer und metabolischer Vorgänge noch weitgehend unerforscht ist, stecken Anbieter im Bereich der biologischen Datenerfassung – geschweige denn Simulation – noch in den Kinderschuhen. Aber sie setzen verstärkt auf den permanenten Daten-Input durch Patienten.

Die Medizintechnikabteilung des Philips-Konzerns etwa bietet seit kurzem einen simplen Bewegungsmelder an, der sich wie ein Halsband tragen lässt und Aktivitätsdaten auf eine Website hochlädt, wo sie Nutzer und Berater auswerten können. Das "directlife"-Produkt wird samt Abonnement vor allem an große Unternehmen vertrieben. Diese hoffen, ihre Mitarbeiter so zu mehr proaktivem Verhalten zu motivieren, sagte Gregory Soderberg, bei Philips für "New Wellness Solutions" in Nordamerika verantwortlich, im Gespräch mit Technology Review. Nach ersten Tests mit rund 25.000 Philips-Angestellten wird der Sensor nun an Großkunden wie Dell verkauft. Für den deutschen Markt liefen Gespräche mit der Deutschen Bank und Bayer, so Soderberg.

Der Chipriese Intel arbeitet wiederum in Pilotprojekten in den USA und Irland an einem neuartigen Sensornetz, das möglichst viel Patientenbeobachtung und Pflege aus dem Krankenhaus ins eigene Heim verlagern soll, berichtete Eric Dishman von der "Digital Health Group" des Unternehmens. "Das Handy ist vielleicht das wichtigste medizinische Instrument, das es gibt", sagte Dishman. Damit lässt sich beispielsweise auswerten, ob sich der Tremor in den Händen verschlimmert oder die kognitive Reaktionszeit am Telefon zugenommen hat.

Zudem experimentiert Intel mit einem "magischen Teppich", dessen Sensoren messen, wie sich eine Person zu Hause bewegt: ob sie wankt oder stolpert und in welchen Räumen sie sich wie lange aufhält. Diese feinkörnigen Daten könnten Ärzten wichtige Aufschlüsse über eine Krankheit erlauben. Dishman verglich zentralisierte Gesundheitsleistungen in Kliniken mit alten Mainframe-Rechnern, die weitgehend vom PC abgelöst wurden. "Wir müssen uns vom Mainframe-Denken verabschieden und auch im Gesundheitswesen zu dezentralen persönlichen Systemen übergehen", forderte der Intel-Mitarbeiter, dessen Firma von einem Boom solcher Telemedizin-Geräte natürlich profitieren würde.

Verhaltensforscher und Neurologen versuchen derweil die genauen Mechanismen zu ermitteln, wieso gerade der spielerische Umgang mit Diagnose und Therapie Verhaltensänderungen bei Patienten bewirkt. Der Genetikprofessor Steve Cole legte dar, wie die Hopelab-Stiftung Videospiele einsetzt, um Leukämie-kranke Kinder und Jugendliche zur regelmäßigen Einnahme von Chemotherapie-Pillen zu bewegen. Dazu entwickelte die kalifornische Stiftung ein eigenes Videospiel namens "Re-Mission".

Mit Hilfe von Gehirn-Scans habe man nachgewiesen, dass der virtuelle Kampf gegen Krebszellen im eigenen Körper die Compliance maßgeblich steigere und Neuerkrankungen um mehr als 50 Prozent senke. Das Spielformat erhöht Motivation, Interesse und das Erinnerungsvermögen, um wirklich jeden Tag über drei Jahre hinweg Medikamente einzunehmen, so Cole: "Spaß zu haben ist eine der ganz großen vernachlässigten Chancen im modernen Gesundheitswesen."

Eine Zusammenarbeit, die nicht nur Fachgebiete überschreitet, sondern auch die Grenzen zwischen Ärzten und Patienten verwischt, liegt unterdessen John Abele am Herzen. Der Gründer und Aufsichtsratschef von Boston Scientific, Hersteller von Stents und Kathetern, gründete dazu ein eigenes Fortbildungszentrum. "Viele Mediziner sind aufgrund ihrer Spezialisierung hoch qualifizierte Fachidioten und nicht gerade austauschfreudig", sagte Abele im Gespräch mit Technology Review. "Bei der Zusammenarbeit hakt es bis heute." Daran habe auch moderne Technik nur wenig geändert. Er verwies auf die Möglichkeit, Operationen und andere Behandlungen durch Videokonferenzen mit gleichzeitig laufenden Chaträumen und weiteren Koordinierungsmöglichkeiten für möglichst viele Interessenten in aller Welt zu öffnen. "Wir haben das schon vor 30 Jahren ausprobiert, und es hat sich bewährt."

Wer Fortschritte im Gesundheitswesen erzielen wolle, so Abele, sollte auch Patienten einbeziehen und das System basisdemokratisch reformieren. Als Beispiel verwies er auf die Grameen-Stiftung, die von ihrem Ursprungsland Bangladesch in die USA expandiert sei. Sie bietet Mikro-Gesundheitsvorsorge an, indem sie Nachbarn und Freiwillige von Haushalt zu Haushalt schickt, um Informationen an der Basis einzuholen und gleichzeitig weiter zu verbreiten. "Ein genialer Ansatz, die finanzielle Gesundheit einer Familie mit physiologischer Gesundheit zu verbinden." Dazu reichten oft einfachste Mittel. "Ein Mobiltelefon ist Telemedizin", so der ehemalige CEO von Boston Scientific. "Von mehr Transparenz und Kritik können alle nur profitieren."

Die Offenheit kann jedoch an anderer Stelle die Kosten erhöhen. Je mehr Patienten über neue Therapiemöglichkeiten wissen, um so größer wird der Erwartungsdruck, sie auch verfügbar zu machen. Der Serienerfinder Dean Kamen, der unter anderem den Segway-Roller entwickelte, gab auf der TEDMED einen Einblick in Design und Bau von künstlichen Armen, die er im Auftrag von DARPA entwickelte, der Forschungsabteilung des Pentagon.

In nur knapp einem Jahr baute Kamens Team einen Kunstarm, der weniger als vier Kilo wiegt und 14 Freiheitsgrade besitzt. Veteranen, die den Arm testeten, besaßen nach weniger als zehn Stunden genügend taktiles und haptisches Feinvermögen, um eine Weintraube aufzuheben, ohne sie zu zerdrücken. Selbst Rosinen ließen sich so aufheben. Noch ist unklar, wie viele dieser bionischen Arme gebaut werden können, sobald sie zur Serienreife entwickelt sind, und was sie kosten werden. (bsc)