Elektronische Gesundheitskarte: Abgespeckt bis aufs Gerippe

Die elektronische Gesundheitskarte wird weiter ausgegeben, doch ihre Funktionen werden weiter eingeschränkt. Das Ergebnis einer ersten Bestandsaufnahme im Gesundheitsministerium ist trist.

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Von
  • Detlef Borchers

Die elektronische Gesundheitskarte (eGK) wird weiter ausgegeben, doch ihre Funktionen werden weiter eingeschränkt. Das elektronische Rezept, mit dem eigentlich Milliarden durch "medienbruchfreie Kommunikation" gespart werden sollen, wird es in der geplanten Form nicht geben. Übrig bleiben der online aktualisierte Versichertenstammdatendienst (VSDD), das Foto auf der Karte und, als freiwillige Anwendung für die Versicherten, die Anlage eines "Notfalldatensatzes".

Gequälte Gesichter auf dem Podium, gedämpfte Stimmung bei der Medizinmesse Medica an den Ständen, die telematische Lösungen für die eGK zeigen. Was der Moderator des Medica-Kongresses als "neue Nachdenklichkeit" anpries, ist eine fulminante Niederlage für die Planer. "Das elektronische Rezept muss zurück in die Werkstatt", bekannte Heiner Vogelsang von der TK, der im Leitungs- und Projektausschuss des Basis-Rollouts sitzt. "Wenn das elektronische Rezept nicht schneller und besser ist als Papier, dann ist das Projekt gescheitert", meinte Norbert Paland, Leiter der Projektgruppe Gesundheitskarte im Gesundheitsministerium, "wir müssen eine neue Sicht der Dinge entwickeln und in der Architektur Veränderungen vornehmen." In der Entwicklung von Anwendungen für die eGK soll der "elektronische Arztbrief" vorrangig angegangen werden, eine B2B-Anwendung, die allein mit dem Heilberufsausweis (HBA) der Ärzte funktioniert. Roland Heise, Leiter der Online-Anbindung der eGK bei der Projektgesellschaft Gematik, gab sich indes unverzagt: "Der Durchbruch für die Gesundheitskarte wird kommen, wenn Anwendungen wie der eKiosk für die Versicherten da sind. Der unabhängige Patient wird Wirklichkeit, wenn Menschen ohne Computerkenntnisse erfahren können, dass sie Herr ihrer Daten sind."

Das Aus für das elektronische Rezept, das die Medica am ersten Messetag beschäftigte, wurde von Moll-Tönen aus Berlin begleitet. Dort traf sich Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) mit Doris Pfeiffer, Chefin des Krankenkassen-Verbandes, und mit Carl-Heinz Müller, Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Das Ergebnis der Bestandsaufnahme der Karte ist trist. Das Versichertendatenmanagement wird konzentriert verfolgt, bei den freiwilligen Anwendungen bleibt der Notfalldatensatz übrig, der zuvor "klinischer Basisdatensatz" hieß, weil kein Notarzt dieser Welt im Ernstfall nach einer Chipkarte sucht. Der gelernte Arzt Rösler verkündete: "Die Realisierung weiterer medizinischer Anwendungen wird so lange mit einem unbefristeten Moratorium belegt, bis praxistaugliche, höchsten datenschutzrechtlichen Anforderungen entsprechende Lösungen vorgelegt werden."

Zuvor hatte Rösler verfügt, dass der Rollout des Systems, der im Oktober in der Region Nordrhein begonnen hat, weiter fortgesetzt wird. Zumindest auf Seiten der Leistungserbringer läuft es prächtig: Nach Gilbert Mohr, Stabstelle IT der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, haben sich 66 bis 67 Prozent der Ärzte ein gesponsortes Lesegerät bestellt, gleich 85 Prozent der Zahnärzte sind dabei, und sagenhafte 90 Prozent der Krankenhäuser haben das abgegeben, was Jan Wiegels, Leiter der IT-Abteilung der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen, eine "Bereitschaftserklärung" nennt, die neue Karte zu akzeptieren. In diesem Zusammenhang beklagte Wiegels die hohen Lizenzgebühren, die die Hersteller von Krankenhaus-Informationssystemen (KIS) für die Anpassung ihrer Software verlangen. Die neuen Schuldigen sind jetzt die Krankenkassen. Bis zum Jahresende werden nach Angaben von Gilbert Mohr 120.000 neue Karten in der Region ausgeliefert sein, in der 9 Millionen Versicherte leben. Diese homöopathische Dosierung müsse beendet werden.

Auch beim Arztbrief, der beim Neustart des Systems die Rolle des Motors einnehmen soll, sah Mohr bedenkliche Tendenzen. Tatsächlich würden Ärzte lokal untereinander gut vernetzt sein und sich mittels Mail und Kryptographie (etwa PGP) austauschen und Befunde verschicken. "Sie tun dies aber in einer solchen Vielfalt, dass einem Angst und Bange wird. Hier braucht es einheitliche Mechanismen", erteilte Mohr den Ad-hoc-Lösungen der Ärzte und Zahnärzte eine Absage.

Mit der Bestandsaufnahme zur Gesundheitskarte am ersten Tag hat sich das Thema auf der weltgrößten Medizinmesse nicht erschöpft. Dass sich Daniel Bahr (FDP), der neue Staatssekretär im Gesundheitsministerium, offenbar mehr für eine USB-Lösung an Stelle der kontaktbehafteten Karte interessierte, gab Spekulationen neuen Aufschwung, allen technischen Vorbehalten zum Trotz. Mehrere Vorträge und Diskussionsrunden zur "Königsdisziplin" stehen noch aus. Gemeint ist die elektronische Patientenakte, auf die sich die IT-Industrie nach ernüchternden Kontakten mit der deutschen Telematikinfrastruktur konzentriert.

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