Vorratsdatenspeicherung vor dem Bundesverfassungsgericht: Kritische Fragen, schwere Bedenken [Update]

Im Verfahren um die Speicherpflicht von Telefon- und Internetverbindungsdaten haben die Karlsruher Verfassungsrichter Zweifel an der weitreichenden Nutzbarkeit der Daten erkennen lassen. Im bisher umfangreichsten Massenklageverfahren in der Geschichte des Gerichts will das Gericht grundsätzlich über die Zulässigkeit der Speicherpflicht entscheiden.

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Von
  • Jürgen Kuri

Der 1. Senat des Bundesverfassungerichts: Wilhelm Schluckebier, Prof. Dr. Michael Eichberger, Prof. Dres. Hans-Jürgen Papier, Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, Dr. Christine Hohmann-Dennhardt, Prof. Dr. Otto Bryde, Prof. Dr. Johannes Masing, Prof. Dr. Reinhard Gaier (von links nach rechts)

(Bild: Bundesverfassungsgericht)

Das Bundesverfassungsgericht nimmt ein höchst umstrittenes Gesetz unter die Lupe: die sogenannte Vorratsdatenspeicherung, die Pflicht der Telekommunikationsanbieter, die Verbindungs- und Standortdaten ihrer Kunden zu speichern. Das Bundesverfassunggericht sieht sich mit einer nie dagewesenen Zahl von Klagen gegen die Vorratsdatenspeicherung konfrontiert: Allein eine der mehreren anhängigen Verfassungsbeschwerden wird von über 34.000 Bürgern unterstützt. Unter anderem aus Sorge um das informationelle Selbstbestimmungsrecht haben zudem Gewerkschaften und zahlreiche Parteien und einzelne Politiker geklagt. Dazu gehört neben den Altliberalen Gerhart Baum und Burkhard Hirsch die jetzige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts verhandelte nun rund 60 Verfahren in einer Anhörung. Ein Urteil soll es aller Voraussicht nach erst im Frühjahr geben; der Senat hatte aber bereits mit zwei einstweiligen Anordnungen die Anwendbarkeit des Gesetzes eingeschränkt. Zwar darf gespeichert werden, abrufbar sind die Daten jedoch nur zur Verfolgung schwerer Straftaten und zur Abwehr einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person. Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier betonte zu Beginn der Anhörung (die noch bis in die Nacht hinein andauern dürfte), die Beschwerden würden grundlegende Fragen zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit aufwerfen und stellte die Vorratsdatenspeicherung in eine Reihe mit dem "Großen Lauschangriff", der Telefonüberwachung und der Online-Durchsuchung. Bei allen diesen Überwachungsmaßnahmen hatte das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber korrigiert und ihn zu massiven Beschränkungen der Vorhaben gezwungen. Im Rahmen der Entscheidung zur heimlichen Online-Durchsuchung schuf das Verfassungsgericht gar ein neues Grundrecht auf "Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme". [Update: Insgesamt haben die Karlsruher Verfassungsrichter Zweifel an der weitreichenden Nutzbarkeit der Daten erkennen lassen. Das Gericht will nun grundsätzlich über die Zulässigkeit der Speicherpflicht entscheiden.]

Burkhard Hirsch hielt zu Beginn der Anhörung ein flammendes Plädoyer gegen die Vorratsdatenspeicherung. Was die Bundesregierung eingeläutet habe, sei eine Zeitenwende im negativen Sinne, ein Dammbruch. [Update: Der Berliner Rechtsanwalt Meinhard Starostik, der rund 34 900 Kläger vertritt, mahnte eindringlich: "Ist dieser Weg einmal freigegeben, ist die gesamte Erfassung des Alltags die Folge." Der Grünen-Politiker Volker Beck, der mit mehr als 40 Abgeordneten seiner Partei in Karlsruhe geklagt hat, warnte vor einem "schwarzen Tag für die Magna Charta des Datenschutzes".]

Christoph Möllers, Bevollmächtigter der Bundesregierung im Verfahren, räumte ein, dass die Regelung zur Vorratsdatenspeicherung das grundrechtlich garantierte Telekommunikationsgeheimnis einschränkt. Allerdings überwiege die Schutzpflicht des Staates gegenüber seinen Bürgern, das Verhältnis sei gewahrt. [Update: Die Vertretung der Bundesregierung machte insgesamt keine sonderlich gute Figur . Dazu passt, dass der Vorsitzende Richter Papier im späteren Verlauf wörtlich zu Protokoll gab: "Der Senat ist verwundert, dass er für das angegriffene Gesetz heute keinen politischen Verantwortlichen hat finden können, der es verteidigt."]

Im weiteren Verlauf hörte der Senat einige Stellungnahmen von Sachverständigen an, um die tatsächliche Einschränkungen zu erörtern. Constanze Kurz vom Chaos Computer Club etwa warnte vor der Gefahr, dass die Daten zu kommerziellen Interessen missbraucht und mit anderen Datensätzen kombiniert werden könnten. Außerdem wies sie auf die Gefahr hin, dass die Verkehrsdaten mit immer genauer werdenden Lokalisierungen schon beim Provider gespeichert werden könnten. Ergebnis könnten dann präzise Bewegungs- und Sozialprofile von Bürgern sein. Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar bekräftigte derlei Befürchtungen. Ein großes Mobilfunkunternehmen habe seiner Behörde bestätigt, neben den Verbindungdaten auch Daten zur genutzten Funkzelle abzuspeichern. Die Regelung im Telekommunkationsgesetz sei so unklar, dass die Provider eher weit mehr speichern als gefordert.

Beobachter der Anhörung überraschte, wie kritisch einige Senatsrichter den Bevollächtigten der Bundesregierung befragten. Mehrmals sah sich Christoph Möllers mit der Frage konfrontiert, ob die Erhebung der Verbindungsdaten vielleicht erst der Anfang sei. Warum man nicht gleich Verleihdaten in Bibliotheken oder Fluggastdaten auf Vorrat speichern wollte, wollte ein Richter wissen. Die Antwort blieb Möllers bislang schuldig. "Ich möchte den Gesetzgeber fragen, wo er die Grenzen sieht für eine solche Speicherung", sagte Verfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt – und warf damit die Grundsatzfrage auf, ob der Staat einen derart gigantischen Datenvorrat überhaupt anlegen darf. "Kann man alle Daten erstmal speichern, ohne dass es ein Eingriff in Grundrechte ist?"

Die konkrete Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung erörterte das Bundesverfassungsgericht ebenfalls. Unabhängige Experten, Datenschutzbeauftragte und Povidervertreter referierten über Datensicherheitsaspekte. Der Dresdener Informatikprofessor Andreas Pfitzmann erklärte, Vorratsdatenspeicherung von Kommunikationsdaten gefährde und schwäche eine demokratischen Gesellschaft deutlich. "Sie ist aus technischer Sicht die unangemessenste aller in Diskussion befindlichen Maßnahmen im Bereich Strafverfolgung und Gefahrenabwehr." Im weiteren Verlauf beleuchtete das Gericht den zweiten Themenkomplex, nämlich die Nutzung der Daten. Stellung nehmen unter anderem die Chefs von BSI, BKA und Bundesnetzagentur. Außerdem kamen Vertreter der Medienindustrie zu Wort.

[Update: Jan Florian Drücke, Leiter Recht und Technik beim Bundesverband Musikindustrie, zitierte aus der bekannten Brennerstudie. Pro legalem Download eines Musikstücks seien acht rechtswidrige Downloads zu verzeichnen. Man könne die illegalen Dateitauschvorgänge beweissicher dokumentieren, es fehlten eben nur Name und Anschrift des Nutzers. Und da das "Internet kein rechtsverfolgungsfreier Raum" sei, käme die Vorratsdatenspeicherung den Rechteinhabern zugute. Auch nach Ansicht des Vertreters des Börsenvereins des deutschen Buchhandels dürfe "sich informationelle Selbstbestimmung nicht vollständig gegen Urheberrecht durchsetzen."

Die obersten Polizeibehörden plädierten erwartungsgemäß für die Beibehaltung der sechsmonatigen Speicherungsfrist. BKA-Präsident Jörg Ziercke nannte zahlreiche Beispiele von Verbrechen, bei denen es für die Ermittlungsergebnisse besser gewesen wäre, wenn die Ermittler Zugriff auf die Vorratsdaten gehabt hätten. Das Internet dürfe kein verfolgungsfreier Raum werden, betonte auch er.]

Mit einem Urteil wird in zwei bis drei Monaten gerechnet. Der frühere FDP-Innenminister Gerhart Baum rechnet damit, dass die Bestimmungen zur Vorratsdatenspeicherung auf keinen Fall Bestand haben wird. "Die Vorratsdatenspeicherung ist ausnahmslos grundgesetzwidrig", sagte Baum der Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen.

Mit der seit 2008 geltenden Pflicht zur Speicherung der Daten hatte die frühere große Koalition eine Richtlinie der Europäischen Union aus dem Jahr 2006 umgesetzt. Seit dem 1. Januar 2008 müssen Telefonanbieter Verbindungs- und Standortdaten ihrer Kunden verdachtsunabhängig aufbewahren (§ 113a TKG). Für die Internetprovider galt eine Übergangsfrist bis Januar 2009. Bei dieser Vorratsdatenspeicherung müssen Telekommunikationsanbieter sechs Monate lang speichern, wer mit wem wann telefoniert hat. Bei Mobilfunkgesprächen wird auch archiviert, von wo aus telefoniert wurde. Konkret gespeichert werden Rufnummer, Uhrzeit, Datum der Verbindung und – bei Handys – der Standort zu Beginn des Gesprächs. Bei Internet-Nutzern werden Daten zum Zugang (IP-Adresse) sowie zur E-Mail-Kommunikation und Internet-Telefonie erfasst. Der Kommunikationsinhalt oder der Aufruf einzelner Internetseiten sollen nicht gespeichert werden. Zugriff haben Polizei und Staatsanwaltschaft. Dafür brauchen sie in der Regel einen Richterbeschluss. Aber auch Geheimdiensten stehen die Vorratsdaten prinzipiell offen. In mehreren Verfügungen haben die Verfassungsrichter den Zugriff der Ermittler aber bis zu einer Entscheidung über die Klagen gegen die Vorratsdatenspeicherung stark eingeschränkt.

Siehe dazu auch: