Demokratie reloaded

Die Zeiten ändern sich: Die APO wollte "das System" noch zerschlagen. Die Internet-Generation will die Demokratie verflüssigen.

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Es ist noch gar nicht so lange her, da habe ich mich in einem Blog-Eintrag öffentlich darüber gewundert, warum gerade die technikverliebten Netzbewohner die Idee von Wahlcomputern so rigoros ablehnen. Denn eigentlich ist das doch paradox: In Zeiten von Twitter, iPhone, Facebook, Blogs und Wikipedia wählen wir alle vier Jahre. Mit Hilfe von Bleistift und Papier. Ich meine, ich habe mittlerweile überall, ständig – wahrscheinlich sogar auf dem Klo, ich muss das bei Gelegenheit mal prüfen – mehr Internet-Konnektivität als das komplette Hochleistungs-Rechenzentrum meiner Uni vor fünfzehn Jahren. Ich kann ständig auf – na sagen wir mal zumindest einen großen Teil – des Weltwissens zugreifen, mich in Echtzeit über die neusten Nachrichten aus den entlegensten Weltgegenden informieren, und mich mit wenigen Mausklicks weltweit mit Menschen vernetzen, die ähnliche Interessen verfolgen wie ich. Die Regierungssysteme der westlichen Industriemetropolen aber funktionieren noch immer, als gäbe es noch nicht einmal das Telefon.

Ich weiß, ich weiß – das Verfassungsgericht, die Manipulationsgefahr und das Transparenzgebot: Ich kenne die Argumente gegen Wahlcomputer. Aber heißt das nun, dass es wirklich gar keine Möglichkeit gibt, die Hilfsmittel der modernen Informations- und Kommunikationstechnik zur politischen Modernisierung zu nutzen? Vielleicht gibt es demnächst eine Antwort auf diese Frage, denn die Piratenpartei will jetzt das Konzept der „liquid democracy“ testen.

In ihrem Wiki erklären die Piraten das Konzept einer „Mischform zwischen indirekter und direkter Demokratie“: "Während bei indirekter Demokratie ein Delegierter zur Vertretung der eigenen Interessen bestimmt wird und bei direkter Demokratie alle Interessen selbst wahrgenommen werden müssen, ergibt sich bei Liquid Democracy ein fließender Übergang zwischen direkter und indirekter Demokratie. Jeder Teilnehmer kann selbst entscheiden, wie weit er seine eigenen Interessen wahrnehmen will, oder wie weit er von anderen vertreten werden möchte. Insbesondere kann der Delegat jederzeit sein dem Delegierten übertragenes Stimmrecht zurückfordern, und muss hierzu nicht bis zu einer neuen Wahlperiode warten.“

„Liquid Democracy“ – flüssige Demokratie – klingt allerdings nicht nur ein bisschen weichgespült, sondern ist es auch. Selbst die Verfechter der Idee betonen, dass es hier ja auf gar keinen Fall darum ginge, das bestehende System abzuschaffen. Nur ein bisschen ergänzen will man es - natürlich mit Hilfe von cleverer Software: Datenbanken, Wikis, Mind Maps - das volle Programm des modernen Wissensmanagements: „Texte“, meinte irgend jemand dazu auf dem 26C3-Kongress, „haben die schöne Eigenschaft, dass man sie diffen kann“. Einen Konsens zu finden, reduziert sich damit auf ein informationstheoretisches Problem: Man muss den Raum der verschiedenen Vorschläge für einen Antrag nur nach dem kleinsten, gemeinsamen Nenner durchsuchen. Und wenn man eine Diskussion als Entscheidungsbaum darstellt, fällt die logische Konsequenz quasi automatisch unten raus. Der unbedingte Glaube an die Rationalität politischer Diskussionen, der sich in solchen technischen Lösungen widerspiegelt, ist geradezu rührend – und kann eigentlich nur aus der Nerd-Ecke kommen. Ich bin trotzdem gespannt, wie das Experiment ausgeht. (wst)