Kann der westdeutsche Nato-Beitritt Vorbild für die Ukraine sein?

Nato-Gipfel in Madrid am 22. Juni 2022. Bild: Bundesregierung, Kugler

Die New York Times glaubt das jedenfalls. Sie hält das geteilte Deutschland für ein Lösungsmodell im Ukraine-Krieg. Ein Blick auf die Geopolitik zeigt, warum der Vergleich hinkt.

In Vorbereitung auf den Nato-Gipfel am 11. und 12. Juli in der litauischen Hauptstadt Vilnius arbeiten die Mitgliedsstaaten derzeit einen mittelfristigen Plan aus, um der Ukraine weiterhin praktische militärische Hilfe zu leisten, einschließlich garantierter Waffenlieferungen.

Langfristiger soll es in den Gesprächen um einen Plan zu einem schrittweisen Nato-Beitritt der Ukraine gehen. Als Vorbild könnte das historische Beispiel Westdeutschland dienen.

Seit über einem Jahr befindet sich die Ukraine in einem Verteidigungskrieg mit einem übermächtigen Gegner. Es scheint sowohl dem Nato-Training der ukrainischen Einheiten als auch den überraschenden Mängeln der russischen Militärmaschinerie geschuldet, dass den Aggressoren ein schneller Sieg durch eine gelungene Invasion und Eroberung Kiews zuerst überraschend erschwert wurde und dann unmöglich erscheinen ließ, – von dem Widerstand der Ukrainer ganz zu schweigen.

Dennoch bleibt Russland ein übermächtiger Gegner und die Ukraine damit abhängig von westlicher Unterstützung. Ein potenzielles Ende des Konflikts ist also in erster Linie Gegenstand von Verhandlungen zwischen Nato-Mitgliedstaaten und erst in zweiter Instanz ein mögliches Ergebnis von russisch-ukrainischen Friedensgesprächen.

Es mag zynisch klingen, aber vielleicht ist dieser Zustand sogar wünschenswert. Krieg befeuert für gewöhnlich den Nationalismus der beteiligten Länder, besonders bei denjenigen, die dazu verdammt sind, auf eigenem Boden zu kämpfen und zu sterben. Ironischerweise macht ein Erstarken der nationalistischen Kräfte ein friedliches Ende des Konflikts immer unwahrscheinlicher.

Wenn jedoch die westlichen Unterstützer der Ukraine entscheiden, eine Schwächung Russlands sei längerfristig betrachtet den enormen finanziellen Aufwand nicht wert, könnten Friedensverhandlungen für die Ukraine schnell von einer politischen Möglichkeit zu einer schlichten Notwendigkeit werden.

In einem solchen Fall wäre es für die ukrainische Regierung, genau wie für die russische, eine Frage des politischen Überlebens, keine Niederlage eingestehen zu müssen. Wie die jüngsten Entwicklungen beim Kampf um Bachmut zeigen, ist ein eindeutiger Ausgang des Krieges eher unwahrscheinlich.

Daher diskutieren die Vereinigten Staaten und Europa im Vorfeld des Nato-Jahresgipfels derzeit darüber, wie die Sicherheit der Ukraine im Falle einer Beendigung der Kämpfe gewährleistet werden kann. Präsident Wolodymyr Selenskyj verlangt konkretere Garantien für eine mögliche Nato-Mitgliedschaft seines Landes.

Im Grunde würde eine solche Aufnahme unter den aktuellen Bedingungen gegen den Grundsatz der Nato verstoßen, keine Länder aufzunehmen, die sich in aktiven bewaffneten Konflikten befinden. Dieses Argument wäre allerdings während eines Waffenstillstandes aus Kraft gesetzt.

In der New York Times resümiert Europa-Korrespondent Steven Erlanger darüber, inwiefern das Beispiel Westdeutschlands, das trotz der Teilung des Landes in die Nato aufgenommen wurde, als Präzedenzfall für die Ukraine dienen könnte.

Das westdeutsche Modell könnte, so Erlanger, der Ukraine echte Sicherheit bieten, auch in dem wahrscheinlichen Fall, dass Russland eine Rückgabe des gesamten Gebiets weiter ausschließt. Wenn der Krieg, wie anzunehmen, nicht zu einem Rückzug und einer Niederlage Russlands führt, könnte eine Nato-Mitgliedschaft gepaart mit festen Waffenstillstandslinien die für die Ukrainer angenehmste und vor allem sicherste Lösung sein.

Erlanger zufolge könnte dann ein Nato-Beitritt, wie einst in Deutschland, den Frieden festigen, den Wiederaufbau ermöglichen, private Investitionen anziehen und die Rückkehr von Geflüchteten erleichtern.

Der Fall Deutschlands zeigt, so argumentiert Erlanger, dass die Nato ein Land mit "erheblichen territorialen Problemen" und einer feindlichen Besatzung aufnehmen und so zu einer Stabilisierung der geopolitischen Lage beitragen kann. Trotz oder gerade wegen des eingefrorenen Ost-West-Konflikts zum Zeitpunkt des westdeutschen Nato-Beitritts wurde die Aufnahme der BRD in das Verteidigungsbündnis als entscheidender Schritt zur Friedenssicherung in Europa angesehen.

Sowjet-Russland konnte Bedenken anmelden, war aber nicht in der Lage, den Beitritt zu verhindern.

Diese Darstellung des Kalten Krieges als eingefrorener Konflikt gibt Bedenken hinsichtlich einer "westdeutschen Lösung" auf. Denn dafür müsste der Ukraine-Krieg erst einmal einfrieren. Deshalb hängt die Zukunft der ukrainischen Sicherheitspolitik mittelfristig auch eher vom Ausgang der bevorstehenden Gegenoffensive ab und davon, ob sie zu einem längeren Waffenstillstand, stabilen Grenzen oder Friedensgesprächen führt.