Verriss des Monats: Shopping-Porno

Die Zeigelust hat eine weitere, technisch forcierte Stufe erreicht: den Hyperexhibitionismus. Ein neuer Web-Service ermöglicht eine Mischung aus Selbst-Schufa und Striptease.

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Von
  • Peter Glaser

Die Zeigelust hat eine weitere, technisch forcierte Stufe erreicht: den Hyperexhibitionismus. Ein neuer Web-Service ermöglicht eine Mischung aus Selbst-Schufa und Striptease.

Die Kunst des gepflegten Verreißens zweifelhafter Produkte ist ein wenig aus der Mode gekommen. An dieser Stelle präsentiert unser Kolumnist Peter Glaser einmal im Monat deshalb eine Rezension der etwas anderen Art: Den Verriss des Monats. Vorschläge für besonders zu würdigende Produkte werden gerne per Mail entgegengenommen.

Die meisten Menschen erleben das Netz als einen eigenartigen Innenraum, der eine gewisse Geborgenheit ebenso vermittelt wie wilde, ungefährliche Abenteuer und eine gewisse Bequemlichkeit im Umgang mit Beziehungen. In den achtziger Jahren hatte die Einübung in die kommenden Verhältnisse begonnen. Damals neu und aufsehenerregend waren Fernsehtalkshows, in denen öffentliche Intimitäts-Inkontinenz vorgeführt wurde, und danach in den neunziger Jahren "Big Brother" – der Begriff verwandelte sich aus seiner ursprünglichen Bedeutung einer diktatorischen Kontrollinstanz in ein Synonym für moderne Fernsehunterhaltung.

Millionen Zuschauer zog es vor die Bildschirme, wenn echte Menschen sich authenisch langweilten und, wie auch sonst, nackt duschten. Ja, man hatte es immer geahnt, aber endlich konnten man es auch sehen. 100 Tage – so lange wie die erste Big Brother-Staffel – hatten im Jahr 80 nach Christus die Spiele zur Einweihung des Amphitheatrum Flavium – des Kolosseums – gedauert, bei denen mehrere Hundert Gladiatoren und etwa 5000 Tiere starben. Die Zivilisation ist fortgeschritten, das also stellte "Big Brother" eindrucksvoll unter Beweis. Alle haben überlebt.

Dann wurde das Internet intim. Menschen begannen im Netz ihre persönlichsten Gedanken und Gefühle auszubreiten, geschützt durch vermeintliche Anonymität. Offenbar fällt es Vielen leicht, Schwächen und Geheimnisse auszusprechen, wenn sie sich einem Computer anvertrauen können. Online-Kommuniktion wirkt für viele Menschen wie eine Wahrheitsdroge.

Und hier kommt nun Blippy ins Spiel – "a fun and easy way to see and discuss the things people are buying". Wir sind im 21. Jahrhundert angelangt. Blippy ist ein neuer Netzdienst, in dem Leute sich gegenseitig zeigen können, wo, wofür und wie viel Geld sie ausgegeben haben. Es ist ganz einfach: man gibt seine Kreditkartendaten ("Visa, Mastercard, and more") oder seine Zugangsdaten bei iTunes, Amazon oder anderen Einkaufsportalen an – und alle können sehen, wofür man sein Geld ausgibt. Web 2.0-gerecht können die Ausgaben natürlich auch kommentiert werden. Ist doch klasse, oder?

Nein, es handelt sich um keine Parodie. Es ist ganz einfach – zynisch? Ist es das, wenn die Leute genau wissen, worauf sie sich einlassen? Oder ist es vielleicht doch ein großes, radikales Experiment, an dem nun immer mehr Menschen Lust haben, teilzunehmen? Hat Larry Ellison Recht behalten, der schon 1999 sagte, dass wir Privatsphäre vergessen können und uns langsam damit abfinden sollten? Und Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, der meint, die weltweit 350 Millionen Mitglieder der mitteilungsfreudigen Community seien Ausdruck einer neuen sozialen Norm, die vor allem mit forcierter Zeigefreude zu tun habe? Und Google-Chef Eric Schmidt, der die Auffassung vertritt, man solle am besten ein Leben führen, in dem es nichts gibt, das einen in Schwierigkeiten bringen kann, wenn es im Netz veröffentlich würde? (Der Nachrichtendienst cnet hat von der Firma Google ein Jahr lang strafweise keinerlei Auskünfte mehr erhalten, nachdem seine Journalisten in einem Experiment persönliche Informationen über Eric Schmidt veröffentlicht hatten – ergoogelte Informationen, wohlgemerkt.)

Sowas wie Blippy sollte bei Facebook vor einiger Zeit durch die Hintertür eingeführt werden – Social Ads. Sie hätten zur Folge gehabt, dass über die Einkäufe, die man beispielsweise bei Amazon tätigt, gleich auch die Facebook-Friends informiert werden. Die zwangsweisen Empfehlungen scheiterten jedoch am Widerstand der Nutzer. Sind es die unterschiedlichen Traditionen im öffentlichen Umgang mit Geld? Während einen ein Amerikaner ganz unbekümmert sein Einkommen wissen lässt, oder wie viel sein Haus, sein Auto, sein Pferd gekostet haben, scheut der Europäer eher zurück und empfindet größere genannte Beträge als protzig und kleine als Ausdruck von Ärmlichkeit. Bemerkenswert an den Blippy-Einblicken ist übrigens, dass oft lange "Einkaufs"-Listen mit einem Gesamtbetrag von Null Dollar oder Pfund zu lesen sind – weil die Leute Kostenloses downloaden.

Ok, manchmal kann man gar nicht genug Informationen übermitteln. "Also", schreibt eine Freundin auf Facebook, "ich habe ihnen meinen Namen, meine Adresse einschließlich Etage und genaue Navigation bis zur Tür gegeben. Die Tür ist zwei Meter neben dem Aufzug, auf der Tür steht mein Name und ich bin die einzige im Haus, die ihren Namen an die Tür geschrieben hat. Und was macht der Sushi-Lieferant? Er klingelt beim Nachbarn".

Sharing ist doch die neue Tugend des Netzzeitalters, wieder mehr Gemeinschaftsgeist undsoweiter. In den allgemeinen Geschäftsbedingungen bei Blippy ist unter "Information Sharing" zu lesen, dass man sich die Möglichkeit vorbehalte, verschiedene Dinge mit "vertrauenswürdigen Dritten" zu teilen, etwa für Direktmarketing-Kampagnen. Der Nutzer erklärt sich damit einverstanden, dass auch seine persönlichen Daten "im notwendigen Maß" mit diesen Dritten geteilt werden.

"Diese Leute", sagt die Datenschützerin und Bürgerrechtlerin Rena Tangens, "dürfen sich nicht beschweren, wenn etwas Schlimmes mit ihren Daten passiert". Mit anderen Worten: Wer sich auf einen Service wie Blippy einlässt, verdient kein Mitleid. (bsc)