Scheidender Verfassungsrichter: "Unantastbare Menschenwürdekerne" nicht hinreichend beachtet

Laut Hans-Jürgen Papier sollten die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wie zur Vorratsdatenspeicherung "künftig auch die Gesetzgebung prägen". Das Grundrecht auf Schutz der informationellen Selbstbestimmung werde aber nicht nur durch den Staat, sondern auch durch Private und Unternehmen bedroht.

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Von
  • Jürgen Kuri

Nach mehreren Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zugunsten der Freiheitsrechte der Bürger setzt dessen scheidender Präsident Hans-Jürgen Papier auf Einsicht beim Gesetzgeber. Er hoffe, dass die Entscheidungen wie zuletzt zur Vorratsdatenspeicherung "künftig auch die Gesetzgebung prägen werden", sagte Papier am Sonntag im Deutschlandfunk.

Er gehe davon aus, dass die Gesetzgebung auf die Vorgaben des Gerichts reagieren werde, "so dass wir nicht mehr so häufig Diskrepanzen zwischen der Gesetzgebung auf der einen Seite und der verfassungsmäßigen Rechtsprechung auf der anderen Seite vorfinden werden". Papier wies auf das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit hin und betonte, dass es zunächst Aufgabe der Politik sei, hier für einen "gewissen harmonischen Ausgleich" zu sorgen. "Und sie hat in den letzten Jahren nicht immer das an harmonischem Ausgleich gefunden, das wir – das Bundesverfassungsgericht – eigentlich verlangen müssen." Es seien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts "unantastbare Menschenwürdekerne" herausgearbeitet worden. Diese seien vom Gesetzgeber "in aller Regel nicht hinreichend beachtet" worden.

Das höchste deutsche Gericht hatte am vergangenen Dienstag entschieden, dass die massenhafte Speicherung von Telefon- und Internetdaten ohne konkreten Verdacht unzulässig ist. Die bislang gespeicherten Daten müssten unverzüglich gelöscht werden. Mit der Regelung hatte Deutschland eine EU-Richtlinie umgesetzt. Allerdings meinte Papier im Deutschlandfunk auch, der deutsche Gesetzgeber sei weit über die Intention der Europäischen Union hinausgegangen. Während es der EU um die Verfolgung schwerer Straftaten gehe, habe der Gesetzgeber hierzulande auch die Verwendung der Daten für geringere oder mittlere Kriminalität zugelassen. "Es gibt durchaus eine grundgesetzkonforme Umsetzung der Richtlinie", betonte Papier.

Papier räumte zugleich ein, dass das Grundrecht auf Schutz der informationellen Selbstbestimmung heute nicht nur durch den Staat, sondern auch durch Private und Unternehmen bedroht werde. "Der Staat hat wie bei den Freiheitsrechten, die körperliche Unversehrtheit, das Leben oder die Gesundheit schützen, auch hier beim Grundrecht auf Datenschutz eine Schutzpflicht. (...) Hier ist in der Tat der Gesetzgeber gerufen und gefordert." Allerdings trage auch jeder einzelne Bürger "ein hohes Maß an Selbstverantwortung" im Umgang mit seinen Daten.

In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung hatte Papier bereits festgehalten: "Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass das Verbot einer Totalüberwachung zur Identität der Verfassung Deutschlands gehört und auch von der europäischen Gesetzgebung nicht im Grundsatz negiert werden darf. Das ist eine Entscheidung, die weit über den konkreten Fall hinausreicht." Gesetze, die Grundrechtseingriffe ermöglichen, müssten nicht nur den Menschenwürdekern unangetastet lassen. Sie hätten auch für "ein angemessenes Verhältnis von Zweck und Mittel" zu sorgen und "hinreichend bestimmt" zu sein, betonte Papier. "Einige Gesetze des Bundes und der Länder sind – absichtlich oder unabsichtlich – über das Ziel hinausgeschossen, Terrorismus oder Schwerkriminalität zu bekämpfen."

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(jk)