Rotes Kreuz sieht Vorwürfe gegen russische Sektion nicht bestätigt

Wagen des Roten Kreuzes in Moskau.

Wagen des Roten Kreuzes in Moskau. Bild: Yulia YasPe, Shutterstock.com

Keine Belege für Vorwürfe aus Leak. Russische Gliederung wird dennoch unter Beobachtung gestellt. Was bei der Debatte außer Acht gerät.

Das Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) wird die Mitgliedschaft des Russischen Roten Kreuzes (RRC) nicht auszusetzen. Dennoch zieht der internationale Verband der Hilfsorganisationen Konsequenzen aus Berichten von Medien mehrerer Länder, die mögliche Verstöße gegen Neutralitätsregelungen beklagt hatten. Diese Vorwürfe waren nun Gegenstand einer Untersuchung des IFRC.

Die Vorwürfe gegen das Rote Kreuz in Russland

An einer internationalen Recherche beteiligte Medien hatten angegeben, zahlreiche Verstöße gegen die Charta des Roten Kreuzes durch die russische Organisation seit Beginn der Invasion der Ukraine im Februar 2022 ausgemacht zu haben. Sie wandten sich an die IFRC als Dachverband nationaler Gesellschaften.

Die IFRC hat die Befugnis, Mitglieder zu suspendieren, die die Prinzipien der Neutralität und Unabhängigkeit der Allianz verletzen. Im vergangenen Jahr war auf diese Weise die belarussische Sektion sanktioniert worden.

Fall Russland: Keine Suspendierung, sondern Überwachung

Nach einer viertägigen Sitzung von IFRC-Funktionären in Genf ist jetzt aber entschieden worden, die Mitgliedschaft des RRC nicht auszusetzen. Es werde jedoch ein Aufsichtsgremium geschaffen. Zudem fordere man das RRC auf, "festgestellte Herausforderungen und mutmaßliche Verstöße" gegen die Integrität, wenn nötig, zu beheben. In der Erklärung heißt es im Wortlaut:

Seit der Eskalation des internationalen bewaffneten Konflikts zwischen Russland und der Ukraine im Februar 2022 gab es sporadische Anschuldigungen gegen das Russische Rote Kreuz (RRC). In jüngster Zeit haben diese Anschuldigungen an Umfang und Reihenfolge zugenommen.

Während des gesamten Konflikts hat die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) mit dem RRC zusammengearbeitet, um Risiken zu ermitteln und Lösungen für die sich entwickelnden Herausforderungen zu finden. Das RRC ist Mitglied des IFRC-Verwaltungsrates.

Seit mehr als 100 Jahren konzentriert sich der humanitäre Auftrag der IFRC auf die Linderung menschlichen Leids unter allen Umständen. (…) Unsere Grundprinzipien - einschließlich Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit - ermöglichen es uns, Menschen auf der ganzen Welt und in Gemeinschaften zu helfen, die viele andere nicht erreichen können. 

Die Anschuldigungen gegen das Russische Rote Kreuz haben verständlicherweise bei den Menschen, denen wir dienen, und innerhalb unseres Netzwerks Besorgnis ausgelöst. In Anbetracht der jüngsten Artikel wandten sich der Präsident und der Generalsekretär der IFRC an das RRC, um eine Klarstellung zu erhalten. Gleichzeitig führte die IFRC eine Überprüfung der Richtigkeit dieser Anschuldigungen durch.

Kritik aus der Ukraine

Vertreter der Ukraine kritisierten diese Entscheidung schnell als schwache Reaktion auf ernsthafte Vorwürfe. "Die IFRC ist zum Fürsprecher für das RRC und damit für die russische Aggression gegen die Ukraine geworden", sagte der Menschenrechtskommissar der Ukraine, Dmytro Lubinets.

Er kritisierte die IFRC dafür, keine stärkeren Maßnahmen ergriffen zu haben und wiederholte Vorwürfe aus Kiew, dass die internationalen Rotkreuz-Organisationen aus Angst, sich mit Moskau anzulegen, Russlands Spiel mitspielen würden.

Vorwürfe gegen das Russische Rote Kreuz

Die Untersuchung, die letzten Monat von einer Gruppe von Medien, darunter auch der Guardian, veröffentlicht wurde, basierte teilweise auf einer Reihe von durchgesickerten Kreml-Dokumenten. Diese schienen Pläne zu zeigen, Ableger des RRC auf besetztem ukrainischem Territorium zu finanzieren.

Die entsprechenden Dokumente stammen aus dem sogenannten Kreml-Leak. Dabei handelt es sich um aus 30 Dokumente und Schriftstücke, die von 2020 bis Dezember 2023 datiert sind. Sie wurden an das estnische Medium Delfi weitergeleitet, das sie gemeinsam mit dem Spiegel, dem ZDF, dem österreichischen Standard, der Schweizer Tamedia-Gruppe, den russischen Exilmedien Meduza und iStories sowie Expressen aus Schweden, Frontstory.pl aus Polen und der Osteuropa-Plattform VSquare.org erhalten und analysiert hat. Später stießen der britische Guardian und der finnische Fernsehsender Yle zu dem Rechercheverbund hinzu.

Was in den geleakten Dokumenten stand

Auf Basis dieser Dokumente stellten die Medien fest, dass hochrangige Personen in regionalen RRC-Niederlassungen von der Notwendigkeit eines Krieges mit "ukrainischen Nazis" sprachen und uniformierte Rotkreuz-Mitarbeiter häufig bei militärischen Ausbildungsveranstaltungen für Kinder anwesend waren.

Anfang dieses Jahres unterzeichnete das Russische Rote Kreuz eine Kooperationsvereinbarung mit Artek, einem Jugendcamp auf der annektierten Krim, in das einige aus der Ukraine deportierte Kinder geschickt wurden. Der Leiter von Artek, Konstantin Fedorenko, wurde von den USA und der EU mit Sanktionen belegt.

Kontakte auf die Krim

Ferner war der Leiter des RRC, Pavel Savchuk, Vorstandsmitglied der Allrussischen Volksfront (ONF), einer vom Kreml gegründeten Bewegung, die das Markenzeichen für das Z-Zeichen besitzt, das Symbol für Russlands Invasion der Ukraine. Savchuk wurde auf der ONF-Website als solcher identifiziert, bis journalistische Nachfragen dazu früher in diesem Jahr gestellt wurden. Dann wurde sein Foto entfernt.

Die IFRC behauptet, Savchuk sei seit März 2022 nicht mehr in der ONF tätig gewesen.

Vertreter der Ukraine wirft ICRC Zynismus vor

Fürs Erste wurde der russische Ableger jedoch nicht auf die gleiche Weise behandelt. Eine IFRC-Erklärung besagte, dass der russische Ableger "während der gesamten Überprüfung kooperiert" habe und sie keine Beweise für viele der Vorwürfe gefunden habe. Sie empfahl eine Schulung in den Prinzipien des Roten Kreuzes für alle RRC-Mitarbeiter.

Lubinets bezeichnete die Haltung der IFRC als zynisch: "Sie ignoriert die Tatsache, dass das RRC mit sanktionierten Personen und Organisationen zusammenarbeitet, die bei der Entführung ukrainischer Kinder helfen."

Das Rote Kreuz und Regierungen

Weitgehend außer Acht gerät bei der Debatte, dass die nationale Gliederung des roten Kreuzes gemeinhin mit Regierungen zusammenarbeiten. Das US-amerikanische Rote Kreuz etwa bestand zuletzt aus einer halben Million Freiwilligen und 35.000 Angestellten. Der Vorstand besteht aus 12 bis 20 Mitgliedern, darunter der Vorsitzende, der vom Präsidenten der Vereinigten Staaten ernannt und bestätigt wird. Der Vorstand ernennt einen Präsidenten und CEO zur Leitung der Geschäftsaktivitäten des Roten Kreuzes.

Vor allem die US-Regierung hat in den vergangenen Jahren die Neutralität des Roten Kreuzes gefährdet. Vor knapp 20 Jahren schon warnte Nicholas Young, der damalige Geschäftsführer des britischen Roten Kreuzes, der US-geführte "Krieg gegen den Terror" gefährde die Neutralität in einem erheblichen Maße. Grund dafür sei die Missachtung des internationalen Rechts durch die US-geführte Koalition im Irak.

Neutralität als Grundlage der Arbeit

Sir Nicholas Young betonte die Bedeutung der Neutralität für die Arbeit des Roten Kreuzes. "Die Achtung, auf die das Rote Kreuz angewiesen ist, das Gefühl, dass wir, wenn wir unser Emblem tragen und unsere Arbeit tun, geschützt sind, heilig sind, ist bedroht", sagte er.

Die Organisation könne nur solange über die Frontlinien hinweg arbeiten, wie sie als neutral wahrgenommen wird. Gehe dieses Gefühl der Unparteilichkeit verloren, sei auch die Mission des Roten Kreuzes verloren.

Gefährdung durch US-Politik

Die Mission des Roten Kreuzes wurde laut Nicholas auch dadurch gefährdet, dass Colin Powell, der ehemalige US-Außenminister, humanitäre Hilfe als "wichtigen Teil unserer Kampftruppe" im Irak bezeichnete:

Der humanitäre Raum, in dem wir arbeiten, wurde eingeengt; einerseits durch das Gefühl, dass die weißen Typen im weißen Land Rover Teil der Koalition sein müssen, weil wir anscheinend die gleiche Art von Arbeit wie sie machen; andererseits durch das Gefühl, dass die nichtstaatlichen Gruppen das internationale humanitäre Recht nicht verstehen, die Rolle von NGOs in der Region nicht verstehen.