Déjà vu

Schien die Debatte um Websperren vorerst vom Tisch, folgte der nächste Paukenschlag nun von Seiten der Europäischen Union. Mit denselben schwachen Argumenten wie zuvor Ursula von der Leyen fordert EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström die rasche Einführung von Sperren im Web.

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Von
  • Holger Bleich
Inhaltsverzeichnis

Manch einem beim Arbeitskreis Internetsperren und Zensur (AK Zensur) dürfte in den letzten Wochen eine Zeile des alten Propellerheads-Songs in den Sinn gekommen sein: „It’s all just a little bit of history repeating“. Mehr als ein Jahr lang hatte das Bürgerrechtsbündnis mit guten Argumenten gegen die Einführung von Sperren zum Ausblenden kinderpornografischer Inhalte im Web angekämpft. Erfolgreich, wie es schien: Das Zugangserschwerungsgesetz ist zwar in Kraft, wird aber nach Beschluss des Bundesinnenministeriums erst einmal nicht angewendet.

Bereits Mitte März hatte sich dann aber angekündigt, dass die Debatte noch nicht ausgestanden ist, sondern auf europäischer Ebene neu hochkocht: Ein Beschlussdokument des EU-Ministerrats war aufgetaucht, in dem sich das Gremium für den schnellen Ausbau eines Filtersystems gegen Darstellungen von Kindesmissbrauch im Web ausspricht. Europaweit schlugen die organisierten Gegner von Websperren Alarm. Offenbar stand eine Ausweitung der Kampfzone bevor.

Am 29. März trat die EU-Kommissarin für Innenpolitik, Cecilia Malmström, vor die Presse und stellte konkrete Pläne zur EU-weiten Bekämpfung von Kindesmissbrauch vor. Um bessere Möglichkeiten für Strafverfolger ging es da unter anderem und um höhere Strafen. Die Kommission will den Begriff der „Kinderpornografie“ weiter fassen als bisher. Dem Vorschlag zufolge soll darunter unter anderem „jegliche Darstellung der Geschlechtsorgane einer Person mit kindlichem Erscheinungsbild für primär sexuelle Zwecke“ fallen. Als Kind soll jede Person unter achtzehn gelten.

Gerade in Verbindung mit dieser Verschärfung hatte es eine andere Maßnahme im Bündel besonders in sich: Die Kommission möchte für alle Mitgliedsstaaten verbindlich festschreiben, dass sie in ihrem Hoheitsgebiet den Zugang „zu Internetseiten, die Kinderpornografie enthalten oder verbreiten, sperren.“

Die deutschen Internet-Aktivisten waren bereits Tage vor dieser Bekanntgabe informiert. Auf Mailing-Listen liefen Diskussionen darüber, ob Malmström wegen ihres bevorstehenden politischen Überraschungscoups im Web künftig „Censorlia“, „Censursula 2.0“ oder „Censilia“ genannt werden solle. Schließlich wurde sie zur europäischen „Censilia“ getauft, einer Neuschöpfung aus ihrem Vornamen und dem englischen „Censorship“ (Zensur).

Der Vorstoß von Cecilia Malmström kam also nicht sonderlich überraschend, wohl aber dessen Form: Malmström präsentierte bereits einen Gesetzentwurf in Form einer europäischen Richtlinie. Dieser Richtlinienentwurf „zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern“ wird schon demnächst den Gang durch die Instanzen antreten.

Wer Malmström Ende März beobachtete, den überkam wohl ein Déjà-vu-Erlebnis nach dem anderen: Sprachwahl, Duktus und Argumente erinnerten sehr an jene politische Kampagne, mit der die frühere Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen vor rund einem Jahr für die Einführung von Websperren plädierte. „Aus Zensursula wird Censilia“ titelten denn auch mehrere Tageszeitungen. In der Tat: Auch Malmström holte zur Untermauerung ihrer Forderungen angebliche „Fakten“ aus dem rhetorischen Giftschrank, die im Verlauf der deutschen Debatte im vergangenen Jahr bereits widerlegt worden waren.

„Zumindest innerhalb der Europäischen Union“ wolle sie „mit den dunklen Ecken des Internet und den kriminellen Bildern von Kindesmissbrauch aufräumen“, formulierte die Kommissarin. Wo sie die „dunklen Ecken“ verortet, verriet sie nicht. Lediglich aus dem Kontext geht hervor, dass es sich wohl um Missbrauchsdarstellungen im Web handeln muss. An anderer Stelle behauptete Malmström nämlich, dass „die Zahl der Websites mit Kinderpornografie wächst.“ Jeden Tag würden „200 neue Bilder mit Kinderpornografie ins Netz gestellt“.

Mehr Infos

Richtlinienvorschlag 2010/0064 (COD)

Aus dem Vorschlag für eine „Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates“:

„[…] Die Inhalte müssen an der Quelle entfernt werden, und diejenigen Personen, die sich der Herstellung, der Verbreitung oder des Herunterladens von Kindermissbrauchsinhalten schuldig gemacht haben, müssen festgenommen werden. [ …]

Da sich die Entfernung von Kinderpornografieinhalten an der Quelle trotz derartiger Bemühungen aber als schwierig erweist, wenn sich das Originalmaterial nicht in der EU befindet, sollten Verfahren eingeführt werden, um den Zugang vom Hoheitsgebiet der Union zu Internetseiten, die Kinderpornografie enthalten oder verbreiten, zu sperren. Für diesen Zweck eignen sich verschiedene Verfahren: beispielsweise kann die Anordnung einer Sperre durch die zuständigen Justiz- oder Polizeibehörden erleichtert werden oder die Internetanbieter können angeregt oder dabei unterstützt werden, auf freiwilliger Basis Verhaltenkodizes und Leitlinien für die Sperrung des Zugangs zu derartigen Internetseiten zu entwickeln. Um insbesondere sicherzustellen, dass mit Blick auf die Entfernung von Kindermissbrauchsinhalten und die Sperrung des Zugangs zu derartigen Inhalten möglichst vollständige nationale Listen von Webseiten mit Kinderpornografiematerial erstellt werden, und um Doppelarbeit zu vermeiden, sollten die zuständigen öffentlichen Stellen zusammenarbeiten oder ihre Zusammenarbeit verstärken. Derartige Maßnahmen müssen die Rechte der Endnutzer berücksichtigen, den bestehenden Rechts- und Justizverfahren Rechnung tragen und im Einklang mit der Europäischen Konvention der Menschenrechte und der Europäischen Charta der Grundrechte stehen.“

Nun ist es seit Beginn der Debatte um Websperren gang und gäbe, Forderungen nach den Zugangsblockaden mit Zahlen zu untermauern, die keiner Überprüfung standhalten [1]. Malmström setzt noch eins drauf und verzichtet gleich gänzlich auf Quellenangaben. Dass die Zahl der „Websites mit Kinderpornografie“ wächst, ist in Wahrheit durch nichts belegt und darüber hinaus sehr unwahrscheinlich. Verlässliche Zahlen zur Anzahl von Websites oder gar zu dem stets behaupteten profitablen Markt für Missbrauchsdarstellungen von Kindern im Web existieren nicht.

Das Kriminalwissenschaftliche Institut der Uni Hannover erstellt derzeit die erste diesbezügliche Studie. Arnd Hüneke, der die Studie leitet, ist sich nach ersten Zwischenergebnissen sicher: „Einen Markt für kinderpornografische Inhalte gibt es im Web nicht.“ Dies habe sich aus vielen Gesprächen, beispielsweise mit Strafermittlern der Landeskriminalämter, zweifelsfrei ergeben, teilte er c’t mit. Wie Malmström auf ihre Zahlen komme, sei ihm nicht klar.

Längst ist aber jedem halbwegs fachkundigen Politiker klar, dass Zugangserschwerungen fürs Web allenfalls marginale Auswirkungen auf die Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen haben. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Diese Darstellungen sind im Web selbst für geübte Surfer nicht zu finden. Dokumentationen der sexuellen Ausbeutung von Kindern werden in geschlossenen Zirkeln, beispielsweise P2P-Systemen, getauscht. Auch dies wurde Forscher Hüneke von den Ermittlern ausdrücklich bestätigt.

Doch offensichtlich glaubt die EU-Kommission fest an ihr Schauermärchen von den „dunklen Ecken“ im Web. Nach Ansicht von Malmström sind sie irgendwo da draußen im Internet, jedenfalls aber außerhalb der EU. Und da sei es nun einmal „sehr schwierig, die Inhalte entfernen zu lassen“. Diese Behauptung hält sogar im Richtlinienentwurf selbst als Begründung zur Notwendigkeit von Websperren her. Als selbst der fachunkundigen Tagespresse auffiel, wie schwammig diese Aussage ist, legte Love Berggren, ein Mitarbeiter der Kommissarin, ergänzend nach: Er benannte konkret die USA und Russland als Staaten, in denen die Inhalte schwer entfernt werden könnten, als Schurkenstaaten im genannten Sinne also.

Demgegenüber hat ausgerechnet die von der EU mitgegründete und unterstützte Internet-Beschwerdestelle Inhope jüngst ausdrücklich bestätigt, dass die Staaten USA und Russland prima kooperieren. Gehen Hinweise auf Missbrauchsdarstellungen ein, bittet Inhope nach sachlicher Prüfung die hostenden Provider, die Inhalte schnell zu entfernen. Auf diese Art gelinge die Löschung von Kinderpornografie im Netz in nahezu 100 Prozent aller Fälle, und das nicht nur hierzulande, sondern auch im Ausland, betonte Alexandra Koch als Leiterin der deutschen Beschwerdestelle.

Da das Vorgehen in den einzelnen Staaten unterschiedlich sei, gebe es freilich Unterschiede in der Bearbeitungsdauer. Während in Russland im Schnitt nach drei Tagen die Inhalte entfernt würden, dauere es in den USA länger, da dort die Hinweise zunächst an die Strafverfolgungsbehörden weitergegeben würden und nach einer Woche eine Prüfung erfolge, ob die Inhalte aus dem Netz genommen wurden oder nicht.

Bundesdeutsche Ermittler wenden gerne ein, ihnen sei der „kurze Dienstweg“, den Inhope beschreitet, verbaut. Im Rahmen einer Anhörung der CDU/CSU Mitte März etwa erklärte BKA-Präsident Jörg Ziercke, im Januar seien 104 und im Februar nochmals 180 Anfragen vom BKA an das Ausland weitergegeben worden. Nach einer Woche waren demzufolge im Januar noch 14 Prozent der beanstandeten Inhalte im Netz, im Februar seien es gar 50 Prozent gewesen.

Auf die Frage, warum das BKA die Webadressen nur an Behörden, nicht aber wie Inhope direkt an die Hostingprovider zur Kenntnis gibt, antwortete Ziercke: „Also ich glaube, wir würden es uns auch verbitten, wenn der CIA oder das FBI oder der chinesische Nachrichtendienst oder wer auch immer hier in Deutschland dafür sorgen will, dass bestimmte Dinge gesperrt oder gelöscht werden sollen.“ Dieses Argument ist schwer nachvollziehbar, setzt es doch die Kenntnisgabe von Darstellungen schwerer Straftaten mit der Einflussnahme durch fremde Geheimdienste gleich. Falls tatsächlich solche Überlegungen die Arbeit der Polizei behindern, sollte die Kommission unbedingt hier ansetzen und den Ermittlern einen flexibleren Rahmen für die Erledigung ihrer Aufgaben verschaffen.

Die Argumente der Kommission für die Einführung von Websperren stehen also auf wackeligen Beinen. Vielleicht hat Innenkommissarin Malmström deshalb bei der Präsentation ihrer politischen Ziele eine ungewöhnliche Maßnahme ergriffen: Hinter dem Podium hing die überdimensionale Skizze eines offensichtlich leidenden Kindergesichts. Dazu schallten Malmströms Worte durch den Saal: „Hinter den Bildern im Internet verbergen sich weltweit Schicksale missbrauchter Kinder. Deshalb müssen wir alles tun, um unschuldige Kinder zu schützen.“

Da muss der wenig fachkundige, emotional aufgeladene Bürger denken: Wer gegen die Sperren solcher Bilder ist, redet dem Kindesmissbrauch das Wort. Mit derselben perfiden Polemik hatte auch von der Leyen versucht, ihre Widersacher öffentlich zu diskreditieren. Gerade das besonders heikle Thema gebietet es den politisch Handelnden aber, analytisch und faktenbasiert darzustellen und zu entscheiden.

Messbare Erfolge kann bisher kein Land vorweisen, in dem die DNS-Websperren bereits angewandt werden. Bei nüchterner Betrachtung erschließt sich ohnehin nicht, wieso eine Zugangserschwerung im Web dazu beitragen soll, Kindesmissbrauch einzudämmen.

Die Sperren sind für pädophile Konsumenten mit minimalem Aufwand dauerhaft zu umgehen. Landen Adressen mit derlei Inhalten erst einmal auf euro-päischen Sperrlisten, sinkt der Druck für die Ermittler, sofort dagegen vorgehen zu müssen. Infolgedessen bleiben sie tendenziell sogar länger für die Zielgruppe verfügbar. So könnten die Websperren im Kampf gegen die Darstellung von Kindesmissbrauch sogar schädlich wirken.

Statt sich mit diesem wichtigen Einwand der Sperrengegner auseinanderzusetzen, eröffnete Malmström aber lieber ein Scheingefecht: „Beim Thema Reglementierung des Internet werfen Bürgerinitiativen zu Recht die Frage nach der freien Meinungsäußerung auf“, erklärte sie. Und weiter: „Bilder von Kindesmissbrauch können jedoch unter keinen Umständen als legitime Meinungsäußerung gelten.“

Dem Medienecho nach zu urteilen, hat dieser rhetorische Kniff erneut funktioniert. In Wahrheit hat allerdings keine Bürgerinitiative je behauptet, dass die Darstellung von Kindesmissbrauch durch die Meinungsfreiheit gedeckt sei. Malmström lenkte das öffentliche Interesse geschickt um den tatsächlichen Kern der Debatte herum: Die Sperre von Webseiten anhand nicht öffentlicher schwarzer Listen, wie sie nun auch in Europa geplant sind, greift in das Grundrecht auf Informationsfreiheit ein. Eine solche Maßnahme kann nur erfolgen, wenn sie in angemessenem Verhältnis dazu beiträgt, andere Grundrechte zu wahren. Verhältnismäßig könnte sie aber nur sein, wenn fundiert bestätigt wäre, dass Websperren tatsächlich helfen, den Kindesmissbrauch einzudämmen. Ein solcher Nachweis fehlt bislang. Die Kommission könnte sich darum verdient machen, dieses Defizit auszuräumen und das dunkle Feld der Missbrauchskriminalität auszuleuchten. Es handelt sich um ein altes und komplexes kriminelles Phänomen, dem nicht einmal teilweise mit simplen technischen Maßnahmen beizukommen ist. Wer dies behauptet, betreibt nur symbolische Politik, die gegen den Missbrauch nichts bewirkt.

[1] Axel Kossel, Holger Bleich, Verschleierungstaktik, Die Argumente für Kinderporno-Sperren laufen ins Leere, c’t 9/09, S. 20

EU-Innenkommissarin verteidigt Vorstoß zu Websperren, 14.04.2010 (hob)