Blick in den Abgrund

Eine neue Studie deutet darauf hin, dass sich Selbstmordabsichten als Nebenwirkung von Antidepressiva bereits 48 Stunden nach Beginn der Therapie in einer Veränderung der Hirnaktivität ankündigen.

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Von
  • Lauren Gravitz

Eine neue Studie deutet darauf hin, dass sich Selbstmordgedanken als Nebenwirkung von Antidepressiva bereits 48 Stunden nach Beginn der Therapie in einer Veränderung der Hirnaktivität ankündigen.

Seit fünf Jahren tauchen immer mehr medizinische Studien auf, die einen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Antidepressiva und Selbstmordgedanken aufzeigen. Das Risiko ist zwar gering, aber dennoch ernst zu nehmen – weshalb die US-Arzneimittelbehörde FDA inzwischen entsprechende Warnhinweise auf der Verpackung vorschreibt. Bislang können Ärzte und Pfleger das Risiko nur erkennen, indem sie ständig ein Auge auf ihre Patienten haben. Forscher der Universität von Kalifornien in Los Angeles (UCLA) haben möglicherweise einen Weg gefunden, um die Sache abzukürzen: Sie lesen in den Hirnströmen einer Person, die Medikamente gegen Depressionen nimmt, ob sie suizidgefährdet ist.

Ihr Ansatz ist die so genannte quantitative Elektroenzephalographie (QEEG). Bei der herkömmlichen EEG platzieren Ärzte eine Kappe mit Elektroden auf dem Schädel. Jede einzelne dieser Elektroden misst daraufhin die elektrische Aktivität einer bestimmten Hirnregion, die sich in zum Teil wild gezackten Kurvendiagrammen äußert. Neurologen untersuchen damit Patienten zum Beispiel auf Epilepsie oder Hirnverletzungen. Die UCLA-Forscher beschränken sich aber nicht auf die Kurvendiagramme: Sie füttern die Messdaten in einen Rechner ein, der mit Hilfe eines speziellen Algorithmusses eine Karte der Hirnaktivitäten erstellt.

Damit untersuchen die Wissenschaftler am UCLA-Labor für Hirnforschung, Verhalten und Pharmakologie, wie Patienten auf verschiedene Medikamente gegen Depressionen ansprechen. In den Hirnaktivitätskarten wollen sie zum einen frühzeitige Hinweise finden, ob eine Therapie tatsächlich wirksam ist. Zum anderen geht es ihnen um die berüchtigten Nebenwirkungen der Mittel, die oft lange vor der beabsichtigten Stimmungsaufhellung eintreten. „Nachdem so viel über Selbstmordgedanken durch Antidepressiva zu lesen war, fing ich an, nach Veränderungen in der Hirnaktivität zu suchen, die darauf hindeuten“, erklärt UCLA-Psychologin Aimee Hunter.

In einer ersten Studie hatten Hunter und ihre Kollegen gesunden Testpersonen Placebos oder Antidepressiva verabreicht. Dabei zeigte sich bereits, dass die fraglichen Nebenwirkungen im mittleren und rechten Bereich des Stirnlappens auftreten. Nach nur einer Woche hatte bei den Probanden mit Medikamenten die Aktivität in dieser Region abgenommen, während sie in den Placebo-Fällen leicht zugenommen hatte.

Hunter setzte daraufhin eine neue Studie an. Über einen Zeitraum von zwei Monaten nahm sie mehrere neue QEEGs von 72 Testpersonen – das erste 48 Stunden nach Beginn der Studie, dann weitere nach einer, zwei, vier und acht Wochen. Zusätzlich zu jedem QEEG mussten die Probanden einen Fragebogen zu ihrer momentanen Stimmung ausfüllen. Darin wurde auch nach etwaigen Selbstmordgedanken gefragt.

Als Aimee Hunter dann die Auswertung fertig hatte, sah sie den Effekt ganz deutlich. Bei den Personen, die Antidepressiva genommen und auch Selbstmordgedanken eingeräumt hatten, hatte die Aktivität in der zentral-rechten Stirnlappen-Region bereits nach 48 Stunden drastisch nachgelassen. Mehr noch: Die Abschwächung war sechs Mal größer als bei den Probanden, die auch Antidepressiva bekommen, aber keine Selbstmordgedanken geäußert hatten. Nach zwei Wochen hingegen hatte sich die Aktivität der Stirnlappen-Region bei beiden Gruppen wieder angeglichen.

„Das war ziemlich seltsam: zuerst ein jäher Abfall des Signals und dann – gar nichts mehr“, sagt Hunter. Seltsam deshalb, weil die Selbstmordgefahr bei derart behandelten Depressionspatienten nachweislich erst nach Wochen akut wird. Hunter hatte in den QEEGs offenbar einen Blick in die Zukunft der jeweiligen Testperson erhascht.

„Sie ist da einer heißen Sache auf der Spur“, findet Barry Lebowitz, Psychiatrie-Professor an der Universität von Kalifornien in San Diego. „Das ist eindeutig ein erster Schritt hin zu personalisierten Therapien mit Antidepressiva.“

Zwar habe man schon mit anderen Verfahren versucht, deren Wirkung im Voraus abzuschätzen, sagt Lebowitz, der zuvor mit Hunters Gruppe zusammengearbeitet hat, aber an der neuen Studie nicht beteiligt war. Die seien aber alle unglaublich teuer und auch nicht für die alltägliche Praxis geeignet. „Die Art der physiologischen Messung, über die Hunters Gruppe jetzt berichtet, kann man dagegen wirklich einsetzen. Ein EEG-Gerät kann sich im Prinzip jeder Arzt leisten“, betont Lebowitz.

Für Ira Lesser, Psychatrie-Professor an der UCLA, könnte das Verfahren auch helfen, die zugrunde liegenden Vorgänge im Gehirn aufzuklären. „Wir können mit dieser Studie anfangen, die Entstehung von Selbstmordgedanken neurochemisch zu betrachten. Das könnte zu ganz neuen Studien führen“, sagt Lesser.

Bereits 2008 war der Bostoner Hirnforscher Dan Iosifescu mit einem vergleichbaren Ansatz zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. „Wir können aber noch nicht sagen, ob der beobachtete Effekt wirklich existiert oder nur ein Mess-Artefakt ist“, gibt Iosifescu zu bedenken. „Eine Intensivierung von Selbstmordgedanken kommt nur selten vor, in weniger als zehn Prozent aller Fälle. Deshalb brauchen wir sehr große Datenreihen, um diesen Effekt angemessen zu untersuchen.“

Aimee Hunter will nun ausprobieren, ob er auch bei kürzeren, zehnminütigen EEGs mit weniger Elektroden sichtbar wird. Für die QEEGs wurden die Testpersonen eine Stunde vermessen. Außerdem will sie deutlich mehr Probanden untersuchen. „Es gibt sicher noch viel zu tun“, sagt Hunter, „aber wir hoffen, dass wir am Ende ein Verfahren bekommen, um Antidepressiva sicherer als heute einzusetzen.“

Das Paper: A. M. Hunter et al.: „Brain functional changes (QEEG cordance) and worsening suicidal ideation and mood symptoms during antidepressant treatment“, Acta Psychiatrica Scandinavica, 2010 (Abstract); DOI: 10.1111/j.1600-0447.2010.01560.x
(nbo)