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Ducatis Superbike geht mit voll tragendem Motor und extrem kurzhubigem V2 neue Wege

Alles anders: Die Technik der Ducati 1199 Panigale

Technik cgl

In eine Zeit, in der sich die meisten Motorrad-Hersteller konservativ nur an Variationen bekannter Rezepte wagen, platzt Ducati mit dem teuersten Projekt der Firmengeschichte und macht alles ganz anders

Stuttgart, 21. Februar 2012 – Der größte Teilbereich der Freizeitfahrzeuge sind Motorräder. Deren Markt ist insofern besonders, weil er noch stärker emotional aufgeladen ist als selbst die ärgsten Ausprägungen der Autokultur. Der Motorradmarkt dankt außerdem selbst heute noch interessante technische Lösungen, die im Auto-Massenmarkt mehr und mehr hinter Gestaltung und Vermarktung zurücktreten. Diese beiden Faktoren machen es vielleicht verständlich, warum die Szene so auf Ducatis neues Zweizylinder-Superbike 1199 Panigale schmachtet: Die Maschine sieht erstens anbetungswürdig außerirdisch aus. Sie hält jedoch zweitens und wichtiger ihr gestalterisches Versprechen ein, indem sie tatsächlich außerirdisch ist. Nichts hasst der Motorradfahrer so sehr wie Plastik-Fake, der etwas verspricht, was die Technik darunter nicht einhalten kann (schlimmstes aktuelles Beispiel dafür ist die Suzuki GSR 750 [1]). Nichts liebt der Markt jedoch so wie ein optisch mutiges Versprechen, das die Maschine wirklich einlöst. Bestes Beispiel hierfür ist der Erfolg der BMW R 1200 GS [2]. Beste Aussichten also auch für Ducatis Panigale, die aussieht wie kein Motorrad vor ihr, die konsequenterweise fährt wie kein Motorrad vor ihr, weil sie gebaut ist wie kein Motorrad vor ihr.

Das Rennsport-Chassis

Die größte, einschneidendste Abweichung vom ausgetretenen Pfad ist das neue Chassis. Ducatis Markenzeichen war immer: Stahlgitterrohrrahmen über einem liegenden 90°-V2-Motor ("L-Motor"). Dieses Layout eignet sich sehr gut, höchst verwindungssteife Fahrwerke mit sehr stabiler Kurvenlage zu bauen. Sehr stabile Kurvenlage bedeutet jedoch immer auch mehr Kraftaufwand beim Einlenken, und seit einigen Jahren gibt es einen Trend zu hyperhandlichen Geometrien. Ducatis Benchmark in der Entwicklung war Aprilias V4-Superbike RSV4 [3]. Das wollte zwar kaum jemand kaufen, wer es allen Widrigkeiten zum Trotz doch tat, wurde jedoch mit einzigartigem Handling belohnt. Die RSV4 hatte (einen fähigen Fahrer vorausgesetzt) das Potenzial, sich all die Motorräder im Geschlängel zu schnappen, die sie auf den Geraden mit deren Mehrleistung ziehen lassen musste. Obwohl Ducati also bis heute Rennen mit den Gitterrohr-Rennern gewinnt, wollten sie in dieser neuen Richtung ihre Zukunft finden.

Die dafür nötige Geometrie beim vorgesehenen Hubraum von knapp 1200 ccm war Ducati jedoch mit dem traditionellen Layout schlicht nicht möglich, weil der Motor liegend zu lang baut. Die Ingenieure hätten die Möglichkeit gehabt, den Zylinderwinkel enger zu wählen, wie KTM (75° V2) oder Aprilia (65° V4) das vormachen – ein kompakterer, um 45° gedrehter Motor also. Stattdessen erinnerten sie sich an ihre Rennmaschinen der Motorrad-Königsrennklasse MotoGP. Seit 2007 fahren dort Ducatis mit, deren verstärkter Motor nicht nur mittragend ist (das ist üblich), sondern voll tragend: Es gibt ohne Motor keine Verbindung zwischen Lenkkopflager und Hinterradschwinge. Der junge Australier Casey Stoner wurde auf dieser Maschine souverän Weltmeister und stellte sich generell so gut damit an, dass Ducati nach einiger Zeit begann, diese Technik vom 90°-V4-Prototypenrennmotor auf einen neuen 90°-V2-Serienmotor zu adaptieren.

Leider stellte sich nach einiger Zeit heraus, dass Casey Stoner der Einzige war, der dieses Chassis richtig zum Funktionieren brachte. Und während Ducati Werksfahrer wie Marco Melandri noch zum Psychologen schicken konnte, weil sie nicht zurechtkamen, ging das mit Rekordweltmeister Valentino Rossi nicht mehr. Der fuhr in der gesamten Saison 2011 für Ducati nur ein Mal überhaupt aufs Podium, gewann erstmals kein Rennen und forderte lautstark ein anderes Chassis. In die MotoGP-Saison 2012 geht Ducati also mit einem Aluminium-Brückenrahmen, wie er bei den meisten Superbikes üblich ist. In die Verkaufs-Saison 2012 geht Ducati allerdings mit ihrem technisch radikalen Chassis um den tragenden Motor.

Das Straßen-Chassis

Auf der Vorstellung der Maschine anlässlich der Messe Eicma in Mailand stand Ducati also mit tatsächlicher Weltmeistertechnik (denn Casey Stoner hatte damit gewonnen), konnte das aber nicht als solche verkaufen, weil Rossi daran verzweifelte. Das Interessante daran: Es war vollkommen egal. Ducati kann nicht anders, als Rennen zu fahren, aber der Rennsport hat heute keinerlei Auswirkungen auf den Verkauf mehr. BMW hat in der SBK-WM kein einziges Rennen gewonnen und verkauft ihr Superbike S 1000 RR [4] wie warme Brezeln. Aprilia hat die SBK-Weltmeisterschaft mit einem italienischen Fahrer eingesackt und konnte den Erfolg dennoch nichtmal im Heimatmarkt in Erfolg ummünzen. Deshalb konnte Rossi der Attraktivität der Panigale nichts anhaben: Die Leute sahen sie und wollten sie. Natürlich folgte eine Fahrpräsentation, aber auch die war egal, weil die meisten schon bestellt hatten, sobald sie das konnten.

In Serie sieht das Chassis so aus: Ein Aluminium-Hilfsrahmen spannt sich zwischen den Zylindern zum Lenkkopf. Er übernimmt gleichzeitig die Funktion der Airbox (im Motorradbau wird derart integrierte Luftfilterkästen der Begriff "Monocoque" verwendet). Die Schwinge lagert unten im Getriebegehäuse und der Heckrahmen ist auf den hinteren Zylinderkopf geschraubt, auf dem man praktisch sitzt. Der Gewichtsvorteil mit dem verstärkten, tragenden Motor nebst seinen Hilfsrahmen im Vergleich zum damit entfallenden Stahlgitterrohrrahmen beträgt 5 kg. Bei einem Auto hätte sich niemand deswegen so eine Arbeit gemacht, doch in diesem Fall wiegt das Vorgängerfahrzeug Ducati 1198 lediglich 196 kg vollgetankt – bei deutlich weniger Leistung.

Durch Detaileinsparungen an verschiedenen anderen Stellen (Bremsen, Felgen, Verkleidung, Feder-Dämpfer-Elemente) ist das Motorrad im Vergleich zum Vormodell 1198 die magischen 10 kg leichter geworden, die jeder Fahrer sehr deutlich merkt, der überhaupt etwas zu merken in der Lage ist. Es ist damit außerdem rund 20 kg leichter als die handliche Aprilia, der die Duc damit im Geschlängel wegfährt, weil sie jetzt außerdem geometrisch vergleichbar wendig ist. Zusammen mit einer neuen Sitzergonomie, die vorher ebenfalls nicht möglich gewesen wäre, ist die Panigale nicht nur mit sehr geringem Kraftaufwand umzulegen (Wechselkurven), sondern sie macht es Fahrern aller Fertigungsgrade auch einfach wie keine Ducati vorher, schnell Zweizylinder zu fahren.

Das Neue am Motor

Die Aprilia RSV4 war Ducatis Benchmark beim Handling. Die BMW S 1000 RR war ihr Benchmark auf den Geraden, denn BMWs Reihenvierzylinder spuckte in der Erstserie am Prüfstand fast immer über 200 DIN-korrigierte PS aus. Zwar haben Zweizylinder Traktionsvorteile am so wichtigen Kurvenausgang (an dem Motorräder durch den zusätzlichen Vorderraddruck aus Fliehkraft ihre maximale Beschleunigung erreichen), aber der Leistungsvorteil der BMW im Hobbysport war unerträglich. Am Ende langer Geraden gab sie regelmäßig die schnellste Maschine der offiziellen Endgeschwindigkeitsmessung. Um dort dranzubleiben, brauchte es massiv mehr Leistung. Gleichzeitig wollte Ducati aber beim V2 bleiben statt wie in der MotoGP zum V4 zu gehen. Dazu bauten sie den kurzhubigsten Motor des Serienbaus, der so spitz ausgelegt ist, dass er in seinen Fahreigenschaften nur noch wenig mit einem Zweizylinder zu tun hat.

Bisher maßen die größten Kraftrad-Kolben im Durchmesser ziemlich exakt so viel wie ein deutscher Standard-Bierdeckel: 107 mm bei Aprilias Dorsoduro 1200 und der Moto Morini Corsaro 1200. Die Panigale erhöht das bei gleichem Hubraum auf 112 mm bei einem Hub von 60,8 mm. Diese beiden Kolben stampfen nicht mehr, sie flattern nur noch. Das Verhältnis von Bohrung zu Hub beträgt 1,85, weswegen Ducati den Motor "Superquadro" getauft hat. Ein extremeres Verhältnis gibt es nur bei Ducatis Rennmotoren (2,02) und im Serienbau nirgends. Der Superquadro kommt damit auf eine Nennleistung von 195 PS, und er versammelt sein Drehmoment komplett im oberen Bereich. Über die gesamte Mitte des Drehzahlbandes hat er zehn bis zwanzig PS weniger als der Motor der 1198, was man sehr deutlich merkt: unter 7500 U/min verhungert der normales Zweizylinderdrehmoment erwartende Fahrer am Kurvenausgang. Darüber baut der Superquadro jedoch ein regelrecht erschreckendes Drehmomentplateau auf, das erst im Überdrehschniepel endet. Es fährt sich wie kein Twin, es erinnert eher an Ducatis V4-Motor in der Straßen-Desmosedici [5] und genaugenommen fährt sich der Superquadro wie kein Motor vorher. Es ist mit dieser spitzen Leistungscharakteristik nicht ganz einfach, das am Hinterrad gewünschte Drehmoment per Gasgriff einzustellen, aber es ist – vielleicht wichtiger – ein erstaunliches Erlebnis.

Das Alte am Motor

Geblieben ist dem Motor von seinen Vorgängern außer seinem Zylinderwinkel immerhin ein altes Ducati-Markenzeichen: die desmodromische Ventilbetätigung. Die Nockenwelle öffnet die Ventile also nicht wie üblich gegen einen Federdruck, sondern öffnet und schließt sie in einer exakten Führung auf der Nockenwelle (Ducati verwendet je einen Öffner- und einen Schließerhebel). Das ist wesentlich aufwändiger zu konstruieren und zu warten als federbelegte Tassenstößel. Desmodromische Ventilsteuerung wurde in den frühen Jahren des Rennsports erfunden, weil die Federstähle damals die nötigen Beschleunigungen nicht mitmachten. Eine Desmodromik sorgte hier für Drehzahlfestigkeit. Der Motorsportlegende nach erzählte Enzo Ferrari in den Fünfzigern Ducatis Ingenieur Fabio Taglioni von der desmodromischen Ventilsteuerung des Mercedes 300 SLR. Taglioni konstruierte bald darauf eine mechanisch elegante Desmodromik für ein 125er-Rennmotorrad, der Ducati in ihren Grundzügen bis heute treu blieb.

Eigentlich gibt es keinen Grund mehr, heute so etwas in Serienfahrzeuge zu bauen. Doch die Desmodromik hat Ducati so viele Siege beschert und so viel Bestätigung gebracht: Zum Beispiel gab es für Ducati nie große Überlegungen, wie die Konkurrenz defektträchtige neue pneumatische oder hydraulische Ventilsteuerungen zu entwickeln, um mit den immer wahnsinnigeren Drehzahlen der MotoGP zurechtzukommen. Sie besaßen bereits skalierbare Hochdrehzahltechnik, die sich zudem bereits über tausende von Renneinsätzen bewährt hatte. Da sind sie selbst in Serie mittlerweile sehr selbstbewusst geworden: Die Intervalle der Ventilspielkontrolle liegen bei der Panigale bei 24.000 km.

Die Elektronik

Ducati ist eine elitär stolze Firma, die nie gescheut hat, ganz neue technische Wege zu gehen, sondern vielmehr genau am Rande des gerade möglichen die ersten und besten sein wollen – auch wenn das manchmal schmerzhaft in die Hose geht. Umso schlimmer muss es sie getroffen haben, als sie von BMW und Aprilia in Sachen Elektronik auf die Ränge gedrängt wurden. Beispiel Traktionskontrolle: Ja, die Ducati 1198 hatte eine. Die nahm die Drehzahlimpulse allerdings von den Schrauben der Bremsscheibe vorn und des Kettenblatts hinten ab, und das war grob wie eine Auto-Traktionskontrolle. Die Konstruktionen von BMW und Aprilia waren um Welten besser. Die neue TK der Panigale verwendet wie die genannten Konkurrenten einen Schräglagensensor und regelt das Hinterradrehmoment zu deutlich über 95 Prozent über die elektronisch gestellten Drosselklappen. Der Hall-Geber nimmt von den feinen Lochkränzen des ABS ab. Das funktioniert jetzt richtig gut.

Die Panigale hat außerdem ein einstellbares Motorbremsmoment, ein einstellbares Integral-ABS und ein einstellbares Motor-Ansprechverhalten. Das ist aber gar nicht das elektronisch Beste an ihr. Nein, die beiden besten Punkte, die sie auch elektronisch vom Feld absetzen sind ihr elektronisch einstellbares Öhlins-Fahrwerk (5000 Euro Aufpreis) in Kombination mit den speicherbaren Einstellungs-Sets. Damit ist es möglich, sein perfektes Setup aus Dutzenden der Einzelsettings von ABS, TK, Motor und Fahrwerksdämpfung am TFT-Cockpit einzustellen und zu speichern. Zwar gibt es nur drei Speicherplätze, aber die sind beliebig veränderbar. Also könnte man zum Beispiel auf "Wet" das Setup für Hockenheim legen, denn "Wet" braucht auf der Panigale eh kein Mensch. Oder man könnte die Setups zweier Fahrer bei Langstreckenrennen vorspeichern und beim Fahrerwechsel mit zwei Klicks umschalten.

Passend zu dieser Playstation-Charakteristik bietet Ducati in der Aufpreisliste auch ein erweitertes Data Analysing an, das DDA+ (Ducati Data Analyser). Zu den schon bei den Vormodellen aufgezeichneten Kanälen (Drosselklappenöffnungswinkel, Raddrehzahlen, Traktionskontrolle etc.) kommt hier ein GPS-Laptimer hinzu. Autofahrer kennen so ein System vielleicht von Mercedes-AMG (AMG Performance Media). Durch die GPS-Koordinaten weiß das Gerät von selbst, um welche Rennstrecke es gerade geht, sodass der Benutzer eigentlich nur noch fahren und danach mit seinen Sektorzeiten prahlen muss.

Die Elektronik ist nur Verpackung

Am Ende ist es diese elektronische Verpackung, die der Panigale zu ihrer Attraktivität als perfektes Freizeitfahrzeug verhilft. Die Gesetze von Angebot und Nachfrage sorgen bereits dafür, dass viele Motorradinteressenten keine Modelle mehr ohne ABS überhaupt in Betracht ziehen, und das wird auf absehbare Zeit auch für Traktionskontrollen gelten. Diese Kundschaft wird sich bei der Panigale dann weiter über das geniale elektronisch einstellbare Fahrwerk freuen, das man einfach haben will, sie wird sich freuen über die Zusammenbindung des Gesamtpaketes. Sie wird wenig später jedoch vor allem feststellen, dass unter dieser ganzen Verpackung ein rohes, mechanisches Meisterwerk der Motorradunterhaltung liegt.


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[2] http://www.bmw-motorrad.de/de/de/bike/enduro/r1200gs/r1200gs_overview.html
[3] http://www.aprilia.de/pages/modelle/3664/RSV4-Factory-APRC/
[4] https://www.heise.de/autos/artikel/Mecha-Tronik-die-Technik-der-BMW-S-1000-RR-1028766.html
[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Ducati_Desmosedici_RR