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Der Glöckner aus Rüsselsheim

Alltag im Opel Ampera-e

Fahrberichte Martin Franz
Opel Ampera-e

(Bild: Pillau)

An Quasimodo, den Protagonisten aus "Der Glöckner von Notre-Dame", erinnerte mich der Opel Ampera-e. Auch er hat ein gutes Herz, das vieles überstrahlt. Noch viel schöner wäre es gewesen, wenn man ein ebenso gutes Auto drumherum gebaut hätte

Dieser Erfahrungsbericht besteht aus drei Teilen.

Teil 1: Start Praxistest: Opel Ampera-e [1]

Teil 2: Elektrischer Alltag im Opel Ampera [2]

Als am 15. April in Kirche Notre-Dame ein dramatischer Brand ausbrach [3], der Menschen rund um die Welt bewegt hat, tauchte aus den Tiefen meines Bücherregals der historische Roman „Der Glöckner von Notre-Dame“ von Victor Hugo wieder auf. An den Protagonisten Quasimodo dieser berühmten Geschichte erinnerte mich der Opel Ampera-e aus unserem Praxistest. Auch er hat ein gutes Herz, das vieles überstrahlt. Noch viel schöner wäre es gewesen, wenn man ein ebenso gutes Auto drumherum gebaut hätte. Hat man aber nicht.

Unverkennbar amerikanisch

Ich meine damit nicht das Äußere. Ob der Ampera-e als unschön oder attraktiv angesehen werden kann, liegt sicher im Auge des Betrachters. Für mich ist das eine schwülstige Kombination aus ein bisschen SUV und einem Rest Van. Auch im Innenraum gibt es formal nichts, was mich positiv anspricht. Sei es drum, es wird sicher Menschen geben, denen dieser Knubbel gefällt. Doch abseits der formalen Gestaltung gibt es ein paar Dinge, die angesichts des Preises eine mutige Ansage sind. Bei den Innenraummaterialien wie auch bei der Verarbeitung schimmert die amerikanische Herkunft für meinen Geschmack dann doch zu heftig durch. Das Cockpit besteht aus einem Kunststoff, der ansonsten vermutlich nur für die Innenverkleidung von Kühlschränken verwendet wird – von sehr günstigen Kühlschränken. Mit der bei Opel sonst üblichen Qualitätsanmutung hat das so viel zu tun wie Minderheitenschutz mit dem amtierenden US-Präsidenten.

Woher die Leiste am Armaturenbrett ihr Muster hat, möchte ich ebenso wenig wissen wie die genaue Herkunft der Sitzbezüge aus Leder. Man könnte meinen, das Tier, dem sie diese Haut abgezogen haben, hat nie gelebt. Die Ampera-e-Sitze selbst sind von der Qualität der zu Recht gelobten AGR-Sitze [4], die Opel anderswo einbaut, weiter entfernt als Orio in Michigan, wo der Chevrolet Bolt [5] gebaut wird, von Rüsselsheim. Es fehlt an Seitenhalt und Unterstützung im unteren Rückenbereich. Immerhin ließen sie sich weit genug nach hinten schieben, um selbst meinen langen Beinen ausreichend Platz zu lassen.

Reichlich gespart

Die Mittelarmlehne wirkt schon im Fast-Neu-Zustand arg klapprig, die dünne Hutablage so spillerig, dass selbst in der Bedienungsanleitung davor gewarnt wird, dort etwas abzulegen – was sicher einen anderen Hintergrund hatte. Ein doppelter Ladeboden, unter dem die Kabel einfach verschwinden könnten, fehlt leider. Wer sie dort verstauen will, muss sie in die vorgegebene Form drücken. Muss man an so etwas wirklich sparen?

Kurz: Für die Anmutung würde ein 20.000-Euro-Auto vergleichbarer Größe mit Verbrennungsmotor geteert und gefedert werden. Opel zeigt im ähnlich langen Crossland X [6], dass sie es sehr viel besser können. In der von uns gefahrenen Nobel-Version „Ultimate“ kostet der Ampera-e aber fast 50.000 Euro. So sympathisch mir der Antrieb ist – und er ist es wirklich sehr – für diese Summe sollte, ja muss ein Auto feiner verpackt sein. Eine Ansicht, die zugegebenermaßen nicht mal in der Redaktion alle teilen.

Gespart wurde auch bei der Dämmung der Umgebungsgeräusche. Der Antrieb ist so leise, dass zugegebenermaßen die Unbescheidenheit steigt. Mit nur etwas mehr Schallisolierung in den Radkästen wäre der Ampera-e auf Landstraßen vermutlich sensationell ruhig, so eben nur ziemlich leise. So leise, dass der Fahrer oft erst anhand zurückbleibender Verkehrsteilnehmer merkt, wie schnell er schon wieder ist.

Wackelige Verbindung

Kritik gibt es auch an der Unterhaltungselektronik. Es gibt im Ampera-e kein Navigationssystem, was ich nicht schlimm finde. Mir geht es diesbezüglich wie meinem Kollegen Clemens: Kaum ein werksseitig verbautes Infotainmentsystem ist die Wahnsinnssumme wert [7], die fast alle Hersteller dafür aufrufen. Opel setzt dagegen auf Apple CarPlay [8] und Android Auto. Mit meinem Nokia 6.1 (Test) [9] harmonierte das System gar nicht, anders als im kürzlich gefahrenen Seat Leon TGI (Test) [10]. Ich hatte das Kabel im Verdacht, aber ein Wechsel änderte nichts. Matthias aus der Techstage-Redaktion lieh mir ein ZTE Blade V10 [11] aus, ebenfalls mit Android 9 [12], aktuellem Patchlevel und Android Auto. Damit lief es halbwegs stabil.

Tempo, Bildschirmauflösung und Funktionsumfang ähneln qualitativ dem Klang der Musikanlage von Bose – alles nicht großartig, aber man kommt zurecht. Schade, dass es keine Anzeige gibt, die über Verbrauch und rekuperierte Leistung am Ende einer Fahrt informiert. An die amerikanischen Wurzeln erinnert auch die Verbrauchsangabe in km/kWh statt kWh je 100 km. Falls es eine Möglichkeit gibt, das umzustellen – ich habe sie auch mit der Anleitung in der Hand nicht gefunden.

In weiches Licht getaucht

Bis hierher bietet der Opel jede Menge Anlass für Kritik. Doch der Antrieb taucht all das in ein weicheres Licht. Der ansatzlose Antritt bei ungewohnt sanft ansteigender Geräuschkulisse macht riesigen Spaß. Für meine Ansprüche täte es auch viel weniger Leistung, doch beim E-Motor muss man eines berücksichtigen: Mehr Leistung bedeutet auch eine potenziell höhere Rekuperation. An das Fahren mit einem Pedal gewöhnt man sich sehr schnell, mit etwas Übung lässt sich die mögliche Rekuperation [13] wunderbar so dosieren, dass man die Bremse kaum noch braucht.

Mit etwas Bedacht sind locker Reichweiten von mehr als 400 Kilometern drin, auf der Autobahn rund um 130 km/h sind es eher zwischen 250 und 280 km. Mein Alltagsszenario führt mich als Pendler [14] meistens über Landstraßen, dort lag der Verbrauch im günstigsten Fall laut Anzeige kurz bei bei 8,3 kWh/100 km, realistisch sind es eher 11 kWh/100 km plus X. Den Minimalwert erreicht nur, wer auf dieser Strecke fleißig rekuperiert, achtsam fährt und die Heizung abschaltet. Bei 13 Grad Außentemperatur bedeutet eine Wunschtemperatur von 21 Grad im Innenraum etwa 50 Kilometer weniger Reichweite.

Unmerklich schnell

Mein Maximalverbrauch lag bei 21 kWh/100 km. Die Heizungen der Klimaautomatik und der Sitze liefen, und der Fahrer kostet das Beschleunigungsvermögen im Rahmen des Möglichen ziemlich oft aus. Dabei ist eine Neukalibrierung der Sinne ratsam, was mir ein Déjà-vu bescherte. Ich fuhr für meinen damaligen Arbeitgeber 1998 einen neuen BMW 523i nach Berlin. Privat bewegte ich zu dieser Zeit einen Zweitakter. Der Unterschied zwischen diesen Autos war, man kann es sich denken, in jeder Hinsicht kolossal. Hier ist es ähnlich, verglichen mit fast allen Testwagen, die ich in den vergangenen Jahren bewegt habe: Im Ampera-e fehlen naheliegenderweise jegliche Schaltrucke und vor allem die übliche Geräuschkulisse. Wer aus einem aktuellen, leisen Auto mit Verbrennungsmotor in den Opel umsteigt und weiterhin nach Bauchgefühl fährt, hat in der Stadt rasch Tempo 80 anzuliegen.

Mein Szenario

Allein schon an diese Geräuscharmut gewöhnt man sich recht schnell, der Umstieg zurück fiel mir nicht leicht. In meinem Alltag wäre die Batterie für 90 Prozent der Tage vollkommen ausreichend dimensioniert, allerdings nicht für 90 Prozent der jährlichen Fahrleistung. Die meiste Zeit des Jahres stört es mich nicht, dass der Ampera-e in meiner Garage nur mit 6 oder 10 Ampere geladen würde – mehr lässt der Lahmlader über 230 Volt nicht zu. Selbst wenn der Wagen erst gegen 23 Uhr ans Netz gehen sollte, reicht das, um bis ca. 9 Uhr des Folgetages einen Großteil der zuvor entnommenen Energie nachzuladen. Irgendwann in der Woche ergibt sich in meinem Szenario eine Zeitspanne, die groß genug ist, um die restliche Lücke komplett aufzufüllen. Reichweitenangst? Im Ampera-e in meinem Alltag kein Thema, auch wenn es hier auf dem Dorf noch keine öffentliche Schnellladesäule gibt. Zudem würde ich intensiv darüber nachdenken, meine Garage entsprechend aufzurüsten.

Auf der Langstrecke, die einen beträchtlichen Anteil an meiner jährlichen Fahrleistung ausmacht, passt das nicht in jedem Fall. Zumindest nicht, wenn man gewohnte Maßstäbe anlegt. Dafür müsste nicht nur die Dichte an Lademöglichkeiten noch etwas steigen, sondern vor allem die Zuverlässigkeit [15]. Für meinen Geschmack lese ich unterwegs auf Raststätten noch zu viel „Ladesäule außer Betrieb“, die versprochene, theoretische Ladeleistung wird vielfach nicht erreicht. Im Ampera-e sollen es bis zu 50 kW sein, in unserem Praxistest waren es bestenfalls 23 kW. An der heimischen Steckdose brachte eine 40-Minuten-Zwischenladung ein Reichweitenplus von zwei Kilometern. Da bringt es mehr, sich auf der Landstraße in Ortschaften reinrollen zu lassen und dabei zu rekuperieren.

Passt das?

In Foren zu solchen Artikeln wird oftmals erbittert gestritten. Eine Seite argumentiert, dass sich ein E-Auto im Alltag ohne Einschränkungen nutzen lässt. Lademöglichkeiten gäbe es zuhauf, die Reichweite genüge im Prinzip immer. Protest lässt dann nicht lange auf sich warten, der dann allerlei Einwände liefert, warum das E-Auto auf gar keinen Fall ein Ersatz für einen Verbrenner sein könne. Nach ein paar Tagen im Ampera-e bin ich etwas unentschlossen: Für mein Alltagsszenario ist ein E-Auto der nächste logische Schritt. Ich habe zu Hause eine Garage, die ich problemlos aufrüsten kann. Wenn in ein paar Jahren der nächste Fahrzeugkauf ansteht, wird ein E-Auto höchstwahrscheinlich in meiner finanziellen Reichweite liegen. Bis dahin wird es eine Lösung geben, beispielsweise die knapp 700 km in meine alte Heimat individuell zu fahren, ohne auf eine lückenhafte, langsame und wacklige Ladeinfrastruktur zurückgreifen zu müssen.

Doch meine Verhältnisse passen natürlich nicht in jedes Raster. Es gibt Anwendungsfälle, in denen ein batterieelektrisches Auto nicht erste Wahl ist und vermutlich auch nicht so schnell sein wird. Der vielzitierte Handelsvertreter kann nicht alle zwei Stunden ein Päuschen von mindestens einer Stunde einlegen. Wer sich, sei es aus finanziellen Gründen, sei es aufgrund begrenzter Parkmöglichkeiten, auf ein Auto beschränken muss oder will, braucht eines für alle Fälle. Und dann erscheint vielen vermutlich 90 Prozent Abdeckung des persönlichen Einsatzprofils zu wenig.

Leiser Tod

Der Opel Ampera-e ist ein Exot, und er wird es bleiben. Der Antrieb bereitet große Freude. Der geringe Verbrauch, die rasanten Fahrleistungen und vor allem die Geräuscharmut sind verführerisch – der Rest des Autos leider nicht. Das bekommt die Konkurrenz von Hyundai [16] und Co viel besser hin, teilweise sogar für weniger Geld. Ab dem kommenden Jahr wird zudem Volkswagen mit Macht in diesen Markt drängen. Der Marktführer hat so viel Geld in die Hand genommen, dass er sich ein Scheitern im Prinzip nicht leisten kann. PSA wird mit eigenen Modellen wie dem Peugeot 208 [17]-e und dem Opel Corsa-e [18] kontern, und der Ampera-e einem leisen Tod entgegenstürmen.


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[1] https://www.heise.de/autos/artikel/Start-Praxistest-Opel-Ampera-e-4419602.html
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[3] https://www.heise.de/tr/artikel/Die-Scanner-von-Notre-Dame-4427260.html
[4] https://www.heise.de/autos/artikel/Test-Opel-Astra-CNG-4111109.html?view=bildergalerie&bild=14
[5] https://www.heise.de/autos/artikel/Chevrolet-Bolt-Kommt-das-E-Auto-als-Opel-nach-Europa-3065026.html
[6] https://www.heise.de/autos/artikel/Unterwegs-mit-dem-Opel-Crossland-X-3715278.html
[7] https://www.heise.de/autos/artikel/Klartext-Navis-vor-dem-Juengsten-Gericht-4275576.html
[8] https://www.heise.de/thema/CarPlay
[9] https://www.techstage.de/test/Nokia-6-2018-im-Test-Android-One-im-Aluminium-Mantel-4039290.html
[10] https://www.heise.de/autos/artikel/Im-Test-Seat-Leon-1-5-TGI-4368132.html
[11] https://www.heise.de/preisvergleich/?in=&fs=ZTE+Blade+V10&cs_id=1206858352&ccpid=hocid-autos
[12] https://www.heise.de/thema/Android-9
[13] https://www.heise.de/autos/artikel/Bremsenergierueckgewinnung-und-ihr-Wirkungsgrad-4340576.html
[14] https://www.heise.de/autos/artikel/Kommentar-Pendler-im-Stresstest-4438486.html
[15] https://www.heise.de/autos/artikel/Klartext-Positiv-umgepolt-4333785.html
[16] https://www.heise.de/autos/artikel/Test-Hyundai-Kona-EV-4303336.html
[17] https://www.heise.de/autos/artikel/Neuvorstellung-Peugeot-208-4317163.html
[18] https://www.heise.de/autos/artikel/Opel-Corsa-e-Preise-und-Marktstart-4439183.html