Die neue Wahlmathematik
Während in den USA die Demokraten und Republikaner in den Vorwahlen ihre Kandidaten für die Präsidentschaftswahl küren, macht ein Dokumentarfilm die Runde, der den Kampf um die Kontrolle über das amerikanische Wahlsystem verfolgt.
- Richard Sietmann
Wenn die US-Bürger am „Super-Tuesday“ (dem 5. Februar) in den Vorwahlen und dann im November bei den Präsidentschaftswahlen zur Abstimmung schreiten, wird rund ein Drittel die Stimme wieder an einem Wahlcomputer abgeben, der das Votum nicht nachprüfbar registriert. Gesetzentwürfe wie beispielsweise die „Holt-Bill“, die wenigstens einen „Paper Trail“ verlangt und in Zweifelsfällen eine Nachzählung der Papierbelege ermöglicht hätten, sind im US-Kongress versackt und nicht mehr rechtzeitig zur Abstimmung gelangt. „Wenn das Rennen knapp wird“, befürchtet nun die New York Times, „könnte das Land vor einer Neuauflage der hart umstrittenen und angezweifelten Auszählung des Jahres 2000 stehen“ [1]. Damals hing die Entscheidung zwischen George Bush und Al Gore von dem Ergebnis in Florida ab, wo Lochkartenleser ungewöhnlich viele Stimmen als ungültig gezählt und ein Wahlcomputer in Volusia County Gore sogar 16 022 Stimmen abgezogen hatte. Nach einer wochenlangen Hängepartie, bei einem Abstand von 537 Stimmen, stoppte der Supreme Court schließlich die sich immer mehr zugunsten des Demokraten neigende manuelle Nachzählung der defekten „Punch Cards“. Bis heute ist der Eindruck nicht verflogen, dass dem eigentlichen Wahlsieger die Wahl gestohlen worden war.
Das von Jeb Bush, dem Bruder George Bushs, regierte Florida war kein Ausrutscher. Das einstige Musterland der Demokratie steckt mit seinem Wahlsystem in einer tiefen Krise, und die 3,9 Milliarden Dollar, die der Kongress in Washington 2002 mit dem „Help America Vote Act“ (HAVA) den Bundesstaaten für die Anschaffung von Wahlcomputern zur Verfügung stellte [2], waren kein Befreiungsschlag. Das zeigt der Filmemacher David Earnhardt jetzt in „Uncounted – The New Math of American Elections“ mit einer Dokumentation beispielloser Unregelmäßigkeiten und Ungeheuerlichkeiten [3].
Eine Panne waren offensichtlich die 4258 Stimmen, die Wahlcomputer in Ohios Stimmbezirk Garhanna Ward für George Bushs Wiederwahl registrierten – bei insgesamt nur 638 abgegebenen Stimmen. Zu den Unregelmäßigkeiten gehört aber auch der auffällig hohe Anteil unvollständig ausgefüllter Stimmzettel, sogenannter „Undervotes“: Normalerweise beträgt der Anteil der Wähler, die zwar zu allen gleichzeitig anstehenden Entscheidungen ihr Votum ankreuzen, sich bei der Auswahl des künftigen Präsidenten jedoch der Stimme enthalten, zwischen zwei und drei Prozent, berichtet die langjährige Wahlhelferin Marybeth Kuznik aus Pennsylvania; bei der Wahl 2004 jedoch lag er in einigen Stimmbezirken zwischen 70 und 80 Prozent. Bei den Kongresswahlen 2006 beeinflusste die ungewöhnlich hohe Zahl von 18 000 „Undervotes“ in Sarasota (Florida) ein Wahlergebnis, durch das der republikanische Kandidat mit 369 Stimmen über die demokratische Konkurrentin siegte. Auch dieser Fall ist bis heute nicht aufgeklärt, er veranlasste aber Jeb Bushs Amtsnachfolger Charles Christ zu einem Politikwechsel weg von den umstrittenen Touchscreen-Maschinen hin zu Papierstimmzetteln und optischen Lesegeräten.
„Whistleblower“
Als ungeheuerlich empfanden es viele Bürger, dass einer der großen Hersteller, Diebold Election Systems (DES), in Kalifornien den Counties nicht zugelassene Wahlmaschinen und Software-Updates verkaufte. Steve Heller, ein Angestellter in der renommierten Anwaltssozietät Jones Day in Los Angeles, hatte den Ermittlungsbehörden interne Memos vom November 2003 zugespielt, die unumstößlich belegten, dass DES-Manager kalifornische Gesetze gebrochen und das Innenministerium belogen hatten. „Whistleblower“ – Insider, die kriminelles Verhalten in Unternehmen oder Behörden zur Anzeige bringen – sollten nach amerikanischem Recht eigentlich vor Repressalien ihrer Arbeitgeber geschützt sein; aber der Anwaltsgehilfe hatte die Schweigepflicht gebrochen. Er wurde angeklagt, bekannte sich schuldig und kam 2006 mit einer Geldstrafe von 10 000 Dollar relativ glimpflich davon. Der Fall trug wesentlich dazu bei, dass Kaliforniens Innenministerin im vergangenen Jahr eine umfassende Sicherheitsüberprüfung der Wahlcomputer veranlasste, aufgrund derer sie ihnen die Zulassung entzog. „Was illegal ist“, sagt Heller rückblickend, „ist nicht immer falsch.“
Anders als Michael Moore in seinen wuchtigen Angriffen auf das US-Establishment kommt Regisseur Earnhardt ohne effektheischende Dramaturgie aus; er schildert Sachverhalte und lässt die Akteure sprechen. So beispielsweise Bruce Funk aus Emery County in Utah, wo die Regierung in Salt Lake City mit HAVA-Mitteln Wahlcomputer von Diebold angeschafft und den Counties zur Verfügung gestellt hatte. Als zuständigem Fachbeamten fielen Funk Sicherheitsmängel auf, und weil die Auskünfte des Herstellers auf seine Nachfragen nichtssagend blieben, suchte er unabhängigen Rat – was nicht so einfach war. Er fand ihn schließlich bei dem finnischen Spezialisten Harri Hursti, der tatsächlich eine undokumentierte Backdoor in dem System entdeckte.
Nachdem er seine Vorgesetzten darüber informierte, landeten allerdings nicht die Wahlcomputer auf der Straße, sondern der loyale Kommunalbeamte, dem Big Business in die Quere gekommen war: Nach 23 Jahren Tätigkeit in Emery County verlor Funk 2006 seinen Job. Er habe in der Zeit viele Freunde verloren, sagt er im Interview in dem Film, und versucht vergeblich, das nüchtern klingen zu lassen.
Streitfreudig
Im Unterschied zu Bruce Funk hat der Informatiker Clint Curtis nicht resigniert, sondern streitfreudig die Auseinandersetzung gesucht. Curtis behauptet, im September 2000 als Angestellter der Firma Yang Enterprises Inc. (YEI) in Florida den Auftrag erhalten zu haben, ein „vote stealing“-Programm für Touchscreen-Wahlmaschinen zu schreiben, das beliebig viele Wählerstimmen einem gewünschten Kandidaten zuschreiben kann. Auftraggeber soll der republikanische Politiker Tom Feeney gewesen sein – zu jener Zeit Abgeordneter in Florida, im Nebenberuf anwaltlicher Vertreter von YEI und seit 2004 Abgeordneter im Repräsentantenhaus in Washington. Der Film zeigt Ausschnitte aus der Anhörung im Rechtsausschuss des Repräsentantenhauses in Washington, vor dem Curtis unter Eid aussagt.
Curtis behauptet nicht, dass das Programm je implementiert oder tatsächlich bei einer Wahl eingesetzt wurde. Er hätte zunächst geglaubt, die Arbeit sollte dazu dienen, auf das Risiko hinzuweisen, dass Demokraten mit solch einem Programm die Wahl stehlen könnten, dann aber erfahren, dass es in West Palm Beach zugunsten der Republikaner eingesetzt werden sollte. Nachdem Floridas Behörden, später auch das FBI und die CIA nur hinhaltend ermittelnd hätten, brachte er 2004 die Sache an die Öffentlichkeit [4]. Feeney bestritt die Anschuldigungen; YEI reagierte mit einem pauschalen Dementi auf der Firmen-Homepage. Curtis kandidierte 2006 vergeblich für die Demokraten um einen Sitz im Repräsentantenhaus; in diesem Jahr will er erneut antreten.
„Uncounted“ rekapituliert auch die merkwürdige Trendwende, die sich am Wahltag des 2. November 2004 binnen weniger Stunden vollzog. Die Nachwahlbefragungen, die zwei renommierte Firmen – Edison Media Research und Mitofsky International – im Auftrag des National Election Pools der Nachrichtenagenturen durchführten, gaben John Kerry 51 Prozent und George Bush 48 Prozent der Stimmen. „Die Zahlen sind, wie sie sind – ich bin überrascht“, gestand Bush am Nachmittag die Niederlage fast schon ein. Die amtliche Zählung lautete dann jedoch genau umgekehrt auf 51 Prozent für Bush und 48 Prozent für Kerry. Dieser überraschende Schwenk widersprach sämtlichen Erfahrungen mit den seit mehr als vier Jahrzehnten praktizierten „Exit Polls“. Unmittelbar nach dem Wahlgang veröffentlichte der Marktforscher Steven Freeman von der University of Pennsylvania eine detaillierte Analyse [5], in der er statistisch signifikante Abweichungen in zehn von elf für den Wahlausgang entscheidenden Schlüsselstaaten feststellte, und „in jedem Fall begünstigte die Abweichung George W. Bush“.
Statistisch signifikant heißt, dass die Abweichungen nur mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit zufällig sein können. Dass in einem der drei wahlentscheidenden Bundesstaaten Florida, Ohio und Pennsylvania die Diskrepanz zwischen Befragung und amtlichem Ergebnis zufälliger Natur sein könnte, war Freemans Berechnungen zufolge mit 1 zu 5000 etwa gleich wahrscheinlich wie beim Wurf mit einer nicht manipulierten Münze zwölfmal hintereinander Kopf zu werfen. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass in allen drei Staaten gleichzeitig die Exit Polls zufällig Kerry begünstigt haben sollten, bezifferte er auf 1 : 662 000. „Soweit wir in den Sozialwissenschaften sagen können, dass etwas unmöglich ist“, folgerte Freeman, „dann ist es unmöglich, dass die Diskrepanzen zwischen dem vorhergesagten und dem gezählten Wahlergebnis in den drei Schlüsselstaaten bei der Wahl 2004 auf zufälligen Fehlern beruht.“
Haltet den Dieb
Mit dieser Ansicht stand der Wissenschaftler nicht allein. „Das war der schlimmste und lauteste Einbruchalarm – aber niemand hörte hin“, kommentiert im Film der Statistiker Steve O’Dell die Analyse des Fachkollegen. Und der Demokrat John Conyers, der Vorsitzende des Rechtsausschusses im Repräsentantenhaus, der später den Untersuchungsbericht „What went wrong in Ohio“ herausgab, berichtet, „nahezu alle Experten stimmen darin überein, dass die Nachwahlbefragungen nicht dermaßen verzerrt sein konnten; weit logischer ist es anzunehmen, dass etwas mit dem Wahlprozess nicht stimmte“.
Die Massenmedien zeigten kein Interesse, der Diskrepanz auf den Grund zu gehen. „Wie jeder andere amerikanische Bürger wartete ich darauf, dass die Presse sich der Sache annehmen würde“, wunderte sich der Publizist Robert Koehler von den Tribune Media Services in Chicago über das Desinteresse; „da passierte einfach nichts“. Er selbst veröffentlichte im Internet seine Erkenntnisse unter dem Titel „Der stille Schrei der Zahlen“ und kam zu dem Schluss, „Die Wahlen 2004 wurden gestohlen – würde das bitte mal jemand den Medien erzählen?“ [6]. Für die jedoch war Bush der Wahlsieger.
Am 23. November 2004 vermeldete ein CNN-Moderator, 80 Prozent der Bevölkerung glaubten, „dass der Präsident die Wahl in einer fairen Abstimmung gewonnen hat“ und schob spöttisch hinterher, „die anderen 20 Prozent schreiben uns“. Ein ABC-Sprecher kommentierte die überraschende Flut von E-Mails, die über den Sender hereingebrochen war, mit den Worten, „Wir sind nicht sonderlich geneigt, an Konspirationstheorien zu glauben – wie Sie wissen, hat Herr Bush mit der komfortablen Mehrheit von drei Millionen Stimmen gewonnen“.
In gleicher Weise immunisierten sich die an der bequemen und schnellen Auszählung interessierten Wahlämter gegen die Kritik an der elektronischen Stimmerfassung. „Die Wahlleiter erzählen uns ständig, dass es keine Probleme mit den Wahlmaschinen gibt – genau das ist das Problem“, berichtet die Informatikerin Teresa Hommel in „Uncounted“. Wie zunehmend mehr US-Bürger engagiert sich die Dozentin gegen den mit der elektronischen Stimmabgabe verbundenen Kontrollverlust; in der Organisation wheresthepaper.org kämpft sie gegen die Anschaffung der holländischen Nedap-Maschinen in New York. Für die Kampagne hat sie ein einfaches Java-Applet geschrieben, die „Fraudulent Voting Machine“ (www.uuvv.org/in.html), die zeigt, wie unscheinbar Software unabhängig von den Wählereingaben stets das gewünschte Ergebnis liefern kann. Seither muss sie sich gegen den Vorwurf wehren, einer Riege von Verschwörungstheoretikern anzugehören. „Wenn das konspirativ sein soll“, kontert die Aktivistin, „dann muss man mir erst einmal den Unterschied zwischen einer Konspiration und einem langfristigen Business Plan erklären.“
Literatur
[1] Editorial: „A Quick Fix for Electronic Voting“ (New York Times, 16. 1. 2008)
[2] E-Voting – ein Spiel mit dem Feuer, Elektronische Wahlsysteme bei den US-Präsidentschaftswahlen 2004, c't 23/04, S. 100
[3] Uncounted – The New Math of American Elections, www.uncountedthemovie.com
[4] Yang Enterprises Inc. und der Wahlmaschinenbetrug: www.bradblog.com/?page_id=4454, en.wikipedia.org/wiki/Clint_Curtis, www.heise.de/tp/r4/artikel/18/18969/1.html
[5] Steven Freeman: The Unexplained Exit Poll Discrepancy. (Dec 29, 2004), www.appliedresearch.us/sf/Documents/ExitPoll.pdf
[6] Bob Koehler: The Silent Scream of Numbers, www.commonwonders.com/archives/col290.htm (jk)