Vorwärts gewandt

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 8 Kommentare lesen
Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Gerald Himmelein

Vorwärts gewandt

Angenommen, ein Hersteller stellt etwas ganz Neues vor oder zumindest etwas, was sich von allem Bekannten so stark abhebt wie ein Einhorn von einem Esel. Schon bevor das Neue überhaupt auf dem Markt ist, formt sich eine Meute, die sofort in zwei Gruppen zerfällt.

Das "Was soll das denn"-Lager betrachtet das erste Produktfoto von allen Seiten (auch von hinten) und klagt erst mal über den hohen Preis. Dann wird eine weitgehend herbeifantasierte Mängelliste aufgestellt: Kann dies nicht, kann das nicht und ist eigentlich nur ein Abklatsch von Produkt X.

Die "Darauf haben wir gewartet"-Fraktion studiert das erste Produktfoto mit der Lupe, findet rechts eine Kerbe, die entweder ein Kompressionsartefakt oder ein Erweiterungsslot ist und extrapoliert daraus frech den potenziellen Funktionsumfang. Sie lobt, dass der Hersteller damit einen ganz neuen Markt erschließe, kein Vergleich zu Produkt X.

In beiden Gruppen sitzen Leute, die besser schreiben können als warten. Die einen sezieren genüsslich das noch nicht existierende Neue, bis kein Schräubchen mehr davon übrig ist. Die anderen feiern den bevorstehenden Paradigmenwechsel und verkünden die Ankunft des Heilands. Je näher der Verkaufsstart rückt, desto hysterischer werden beide Fraktionen.

Dann der Erstverkaufstag: Vom Hype ergriffene Käuferschlangen vor dem Laden, im Café gegenüber eine Skeptiker-Delegation, die den Tumult mit ironischem Grinsen beobachtet. Fünf Minuten später stehen die ersten Erfahrungsberichte online: Meine ersten vier Minuten mit dem Seligmacher. Es hat einen An-/Ausschalter.

Einer aus dem "Was soll das denn"-Lager hat eines der Neuen gekauft, nur um vorführen zu können, dass es nix taugt. Man kanns ja weiterverkaufen. Die ersten Tage gibt er viel zum Besten, etwa "Es fehlt eine Kaffeemaschinen-Schnittstelle". Dann wird ihm das Neue langweilig und er verstummt. In der Halleluja-Fraktion haben immerhin drei das Neue gekauft: Einer geht ohne gar nicht mehr ins Bett, der zweite implementiert unter Garantieverlust eine fast funktionierende Kaffeemaschinen-Schnittstelle, der dritte läuft - von der Realität enttäuscht - zum "Was soll das denn"-Lager über.

Ein paar predigen unbekümmert weiter: Sie verdammen das Neue für Dinge, die es nicht kann, und sie bejubeln Dinge, die sie nicht ausprobiert haben ("Enormes Potenzial!"). Der Rest der Meute wartet hungrig auf das nächste Neue. Was wird es da wohl Revolutionäres geben? Wer würde so was Blödes freiwillig kaufen? Was könnte man damit Tolles anfangen?

Derweil bleibt Produkt X in den Regalen liegen, obwohl es eigentlich alle Bedürfnisse befriedigt. Wer könnte es auch noch ernst nehmen? Es ist ja nicht mehr neu. (ghi)