Ab in die Transzendenz: Mit VR genauso gut wie mit Psychedelika

Eine VR-Erfahrung löste laut wichtigen Parametern eine Reaktion aus, die sich nicht vom Effekt einer mittleren Dosis LSD oder Magic Mushrooms unterscheidet.​

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(Bild: agsandrew/Shutterstock.com)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Hana Kiros
Inhaltsverzeichnis

Vor fünfzehn Jahren war David Glowacki in den Bergen unterwegs, als er schwer stürzte. Als er auf dem Boden aufschlug, begann Blut in seine Lunge zu sickern. Als er dort lag und erstickte, erweiterte sich Glowackis Wahrnehmungsfeld. Er blickte auf seinen eigenen Körper hinunter – und sah, dass er statt seiner typischen Form aus geballtem Licht bestand.

"Ich wusste, dass die Intensität des Lichts mit dem Ausmaß zusammenhing, in dem ich meinen Körper bewohnte", erinnert er sich. Doch das Dimmen des Lichts machte ihm keine Angst. Von seinem neuen Aussichtspunkt aus konnte Glowacki sehen, dass das Licht nicht verschwand. Es verwandelte sich und strömte aus seinem Körper heraus in die Umgebung um ihn herum.

Diese Erkenntnis, die er als Zeichen dafür verstand, dass sein Bewusstsein seine physische Form überdauern und transzendieren konnte, verschaffte Glowacki ein erhabenes Gefühl des Friedens. So ging er dem, was er für den Tod hielt, mit Neugier entgegen: Was könnte als Nächstes kommen?

Seit seinem Unfall hat Glowacki, ein Künstler und Molekularphysiker, darauf hingearbeitet, diese Transzendenz wieder zu erfahren. Sein jüngstes Projekt ist eine Virtuelle-Realität-Erfahrung namens Isness-D. Das Programm zeigte bei vier Schlüsselindikatoren, die in Studien über Psychedelika verwendet werden, die gleiche Wirkung wie eine mittlere Dosis des Halluzinogens LSD (Lysergsäurediethylamid) oder Psilocybin (der psychoaktive Hauptbestandteil von sogenannten Zauberpilzen). Das zeigen kürzlich im Fachjournal "Nature Scientific Reports" veröffentlichte Studienergebnisse.

Isness-D ist für Gruppen von vier bis fünf Personen an einem beliebigen Ort der Welt konzipiert. Jeder Teilnehmer wird als diffuse Rauchwolke mit einer Lichtkugel dargestellt, die sich ungefähr dort befindet, wo das Herz der Person wäre. Die Teilnehmer können an einer Erfahrung teilnehmen, die als energetische Verschmelzung bezeichnet wird. Dafür versammeln sie sich an derselben Stelle in der Virtual-Reality-Landschaft, um ihre diffusen Körper zu überlagern, so dass es unmöglich ist, zu erkennen, wo die einzelnen Personen beginnen und enden. Das sich daraus ergebende Gefühl tiefer Verbundenheit und der Abschwächung des Egos spiegelt Gefühle wider, die üblicherweise durch psychedelische Erfahrungen hervorgerufen werden.

Psychedelika sind eine Klasse von Drogen, die sich durch ihre Fähigkeit auszeichnen, die Sinneswahrnehmung und die Art der Informationsverarbeitung zu verändern. Klinische Versuche mit diesen Drogen, die in den 1970er Jahren eingestellt und inzwischen wieder aufgenommen wurden, haben gezeigt, dass die psychedelisch unterstützte Therapie die Symptome von Erkrankungen, bei denen viele Standardbehandlungen versagen, bemerkenswert gut lindert: Zwangsstörungen, Sucht, posttraumatischer Belastungsstörung und Depression. Die US-Zulassungsbehörde FDA hat Psilocybin 2019 als "bahnbrechende Therapie" für schwere Depressionen eingestuft und damit das Zulassungsverfahren beschleunigt.

Glowacki hat Isness-D nicht mit dem Ziel entwickelt, einen psychedelischen Trip zu reproduzieren. Aber er wollte mithilfe von Virtueller Realität (VR) etwas erzeugen, das Psychedelika zuverlässig hervorrufen: eine so genannte "selbsttranszendierende Erfahrung".

Selbsttranszendente Erfahrungen liegen auf einem breiten Spektrum. Sich in einem großartigen Buch zu verlieren, könnte als eine schwache Erfahrung angesehen werden; der Tod des Egos, den hohe Dosen von Psychedelika hervorrufen können, liegt am anderen Ende. In klinischen Studien mit Psychedelika haben Menschen, die über intensivere Gefühle der Selbsttranszendenz berichten, in der Regel auch die deutlichsten Verbesserungen ihrer Symptome erfahren.

Kennzeichnend für eine Erfahrung der Selbsttranszendenz ist die Auflösung unserer typischen Selbstdefinition als eigenständiges, von anderen Menschen und der Umwelt getrenntes Individuum. Während einer solchen Erfahrung ermöglicht ein tiefes Gefühl der Einheit mit anderen Menschen oder der Umgebung eine Erweiterung des Selbstkonzepts, um sie einzubeziehen.

Es gibt viele Wege zu einer Erfahrung der Selbsttranszendenz. Nahtoderfahrungen wie die von Glowacki lassen die Grenzen des Selbst oft vorübergehend verschwimmen. Der Überblickseffekt, etwa das Gefühl, von dem Astronauten immer wieder berichten, nachdem sie die Erde vom Weltraum aus gesehen haben, erzeugt den Eindruck von Verbundenheit mit der Menschheit als Ganzes. Auch Meditation kann Menschen dabei helfen, Selbsttranszendenz zu erreichen.

Mit Isness-D kommt eine weitere Möglichkeit hinzu. Bei seiner Entwicklung ließ sich Glowacki ästhetisch von der Quantenmechanik inspirieren, oder wie er es ausdrückt, "wo die Definition dessen, was Materie und was Energie ist, zu verschwimmen beginnt".

Für ihre Arbeit maßen Glowacki und seine Mitarbeiter die emotionale Reaktion, die Isness-D bei 75 Teilnehmern auslöste. Sie stützten sich dabei auf vier in der Psychedelika-Forschung verwendete Messgrößen: den MEQ30-Fragebogen zu mystischen Erfahrungen, die Skala zur Auflösung des Egos, die Skala "Communitas" und die Skala "Einbeziehung der Gemeinschaft in das Selbst". Communitas ist definiert als eine Erfahrung intensiver gemeinsamer Menschlichkeit, die über die soziale Struktur hinausgeht. Die Antworten der Teilnehmer wurden dann mit denen aus veröffentlichten, doppelblinden Psychedelika-Studien verglichen.

Bei allen vier Parametern löste Isness-D Reaktionen aus, die sich nicht von denen mittlerer Psychedelika-Dosen unterscheiden ließen. Auf der Skala für mystische Erfahrungen berichteten Isness-D-Teilnehmer von einer Erfahrung, die genauso intensiv war wie die von 20 Milligramm Psilocybin oder 200 Mikrogramm LSD und stärker als die von Mikrodosen dieser beiden Substanzen.

Letzte Woche beschloss ich, Isness-D selbst auszuprobieren. Die drei anderen Teilnehmer meiner Isness-D-Sitzung, die aus Portugal, Italien und Kalifornien eingeloggt waren, saßen sich bereits in einem Kreis gegenüber, als ich eintraf. Die Landschaft um uns herum war karg und grau, und der Himmel erinnerte mich an den Moment vor der Morgendämmerung. Dort, wo eigentlich meine Hände sein sollten, sah ich zwei trübe Lichter, die ich durch Drücken des Reglers, den ich in jeder Hand hielt, aufhellen konnte.

Das einzige Objekt in der kargen Landschaft war ein "molekularer Faden", eine lange Kette aus einer der einfachsten Aminosäuren, Alanin, die mit lebensechter Spontaneität wackelte. "Wir hatten einige physikalische Modelle herumliegen, mit denen wir seine Bewegung in Echtzeit simulieren konnten", sagt Glowacki. Zu Beginn des Treffens wurden wir angewiesen, den Faden in die Hand zu nehmen und etwas zu sagen, mit dem wir uns besser verbinden wollten, so als ob wir ihm diese Absicht einflößen würden.

Dann lenkte eine Erzählung unsere Gedanken und Bewegungen wie bei einer geführten Meditation. Als es an der Zeit war, uns energetisch zu verbinden, wies uns die sanfte Stimme an, ein wenig näher zu rücken. Dann rückten wir noch näher, bis wir unsere vier Ecken verließen und uns in der Mitte des Kreises trafen – vier Rauchbüschel, die sich gemeinsam aufblähten.

Als wir näher kamen, machte ich mir Sorgen, dass wir den persönlichen Raum der anderen Teilnehmer verletzen könnten. Dann erinnerte ich mich daran, dass mich Ozeane und Tausende von Kilometern von ihnen trennten – und ging es außerdem nicht genau darum, den Begriff des persönlichen Raums über Bord zu werfen? Also versuchte ich, mich auf die Intimität einzulassen.

"Was in der VR passiert, ist dieses Gefühl, die Existenz der Außenwelt völlig zu vergessen", sagt Agnieszka Sekula, Doktorandin am Centre for Human Psychopharmacology in Australien und Mitbegründerin eines Unternehmens, das VR zur Verbesserung der psychedelischen Therapie einsetzt. "Es gibt also durchaus Ähnlichkeiten mit dem Gefühl, unter Psychedelika eine alternative Realität zu erleben, die sich realer anfühlt als das, was tatsächlich da draußen ist."

Aber, so fügt sie hinzu: "Es gibt definitiv Unterschiede zwischen dem, wie sich eine psychedelische Erfahrung anfühlt, und dem, wie sich die virtuelle Realität anfühlt." Aus diesem Grund schätzt sie, dass Isness-D einen neuen Weg zur Transzendenz aufzeigt, anstatt nur einen bereits existierenden zu imitieren.

Es muss noch weiter geforscht werden, um die dauerhaften Auswirkungen einer Isness-D-Erfahrung zu untersuchen und um festzustellen, ob die virtuelle Realität im Allgemeinen ähnliche Wirkungen wie Psychedelika hervorrufen kann. Die vorherrschende Theorie darüber, wie Psychedelika die klinischen Ergebnisse verbessern – eine Debatte, die noch lange nicht abgeschlossen ist – besagt, dass ihre Wirkung sowohl durch die subjektive Erfahrung eines Trips als auch durch die neurochemische Wirkung der Droge auf das Gehirn bestimmt wird. Da die VR nur die subjektive Erfahrung widerspiegelt, ist ihr klinischer Nutzen, der erst noch gründlich getestet werden muss, möglicherweise nicht so stark.

Jacob Aday, Psychiatrieforscher an der University of California, San Francisco, sagt, er hätte sich gewünscht, dass in der Studie das psychische Wohlbefinden der Teilnehmer gemessen worden wäre. Er glaubt, dass VR wahrscheinlich das Standardmodus-Netzwerk herunterregulieren kann – ein Gehirnnetzwerk, das aktiv ist, wenn unsere Gedanken nicht auf eine bestimmte Aufgabe gerichtet sind, und das von Psychedelika unterdrückt werden kann. Wissenschaftler vermuten, dass dies den Tod des Egos verursacht. Bei Menschen, denen ehrfurchtgebietende Videos gezeigt wurden, ist die Aktivität dieses Netzwerks vermindert. VR ist besser geeignet, Ehrfurcht auszulösen, als normale Videos, so dass Isness-D dies in ähnlicher Weise abschwächen könnte.

Ein Start-up namens aNUma, das aus Glowackis Labor hervorging, ermöglicht es bereits jedem, der ein VR-Headset besitzt, sich für wöchentliche Isness-D-Sitzungen anzumelden. Das Start-up verkauft eine verkürzte Version von Isness-D an Unternehmen für virtuelle Wellness-Retreats und bietet eine ähnliche Erfahrung namens Ripple an, um Patienten, ihren Familien und ihren Betreuern bei der Bewältigung von unheilbaren Krankheiten zu helfen. Ein Mitautor des Artikels, in dem Isness-D beschrieben wird, erprobt es sogar in der Paar- und Familientherapie.

"Wir haben herausgefunden, dass die Darstellung von Menschen als reines Licht sie von vielen Urteilen und Projektionen befreit", sagt Glowacki. Dazu gehören auch negative Gedanken über ihren Körper und Vorurteile. Er hat persönlich aNUma-Sitzungen für Krebspatienten und deren Angehörige geleitet. Eine Frau, die an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt war, starb Tage später. Das letzte Mal, als sie und ihre Freunde zusammenkamen, waren sie wie sich vermischende Lichtkugeln.

Während einer Phase meiner Isness-D-Erfahrung erzeugte die Bewegung eine kurze elektrische Spur, die markierte, wo ich gerade gewesen war. Nach ein paar Augenblicken fragte der Erzähler: "Wie fühlt es sich an, die Vergangenheit zu sehen?" Ich begann, an Menschen aus meiner Vergangenheit zu denken, die ich vermisst oder verletzt hatte. In schlampiger Schreibschrift schrieb ich mit dem Finger ihre Namen in die Luft. Genauso schnell, wie ich sie gekritzelt hatte, sah ich sie auch wieder verschwinden.

(vsz)