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Alles, was Sie von jetzt an denken...

Susanne Donner

...kann künftig vor Gericht für oder gegen Sie verwendet werden. Forscher können mittels Hirnscans immer genauer sagen, wer lügt und wer die Wahrheit sagt. Wissenschaftler halten die Methode zwar noch für unausgereift, aber das hindert Forensiker nicht am Einsatz in einem Prozess.

...kann künftig vor Gericht für oder gegen Sie verwendet werden. Forscher können mittels Hirnscans immer genauer sagen, wer lügt und wer die Wahrheit sagt. Wissenschaftler halten die Methode zwar noch für unausgereift, aber das hindert Forensiker nicht am Einsatz in einem Prozess.

Der Vorwurf der US-Justiz gegen Lorne Allan Semrau aus Tennessee wiegt schwer. Er betreibt ambulante Pflegedienste, die über fingierte Rechnungen drei Millionen Dollar bei den Krankenkassen erschlichen haben sollen. Im Juni 2007 wird Semrau in sechzig Fällen des Betrugs angeklagt.

Er streitet alles ab – die Buchungen seien auf Fehler bei der komplizierten Abrechnung zurückzuführen. Um seine Unschuld zu beweisen, greift Semrau zu einer völlig neuen Waffe: Er lässt sein Gehirn per funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) durchleuchten. Und tatsächlich glauben hinzugezogene Experten, aus dem Hirnscan Semraus Unschuld herauslesen zu können.

So irritierend die Methode auf Außenstehende wirken mag – für den Bielefelder Neurophysiologen Hans J. Markowitsch hat das Zeitalter der forensischen MRT schon begonnen. "Verfahren des Neuroimagings zur Klärung der Wahrhaftigkeit von Aussagen werden sich künftig wohl kaum aus der strafprozessualen Beweiserhebung heraushalten lassen", schreibt er gemeinsam mit dem Strafrechtsprofessor Reinhard Merkel in einem Aufsatz. Markowitschs Wort hat Gewicht, ist er doch Deutschlands führender Gerichtsgutachter aus dem Bereich der Neurowissenschaften. Auch im Kachelmann-Prozess war seine Expertise gefragt.

Damit steht eine Frage im Raum, die am Selbstverständnis des Menschen rüttelt: Ist Gedankenlesen doch möglich? Beinahe monatlich melden Forscher spektakuläre Erfolge beim Versuch, Überlegungen und Erinnerungen aus den Hirnaktivitäten herauszulesen. Lange waren die Experimente wenig mehr als ein Faszinosum.

Sollten die derart gewonnenen Daten nun aber vor Gericht Bestand haben, wird es ziemlich ernst: Fortan würden Hirnscans mitentscheiden über Schuld oder Unschuld, Gefängnis oder Freiheit – und im Extremfall sogar über Tod oder Leben. Entsprechend heftig fallen die Reaktionen aus. Die Berichte rufen Hoffnung, Angst und Widerspruch hervor: Juristen wollen die Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen künftig objektiv beurteilen; Bürgerrechtler fürchten, dass der Mensch bald nicht einmal seine Gedanken mehr für sich behalten kann; Philosophen warnen vor einem mechanistischen Menschenbild; Skeptiker halten das Ganze für eine aufgeblasene Wissenschaftsmode, die vor allem davon lebt, dass sich bunte MRT-Bilder so gut auf Zeitschriften-Covern machen.

Neuen Schub erfährt die Diskussion durch die Neureglung der Sicherungsverwahrung. Nach dem im Juni vorgelegten Gesetzesentwurf der Bundesregierung sollen Sexualstraftäter nach Verbüßen ihrer Haftstrafe nachträglich in Sicherheitsverwahrung genommen werden, wenn sie psychische Störungen aufweisen, die einen Rückfall wahrscheinlich machen. Das Gesetz würde Neuro-Forensikern reichlich Arbeit und Geld bescheren. Schon untersucht die Universität Göttingen pädosexuelle Straftäter mittels fMRT. Die Göttinger Forensiker hoffen, so "deviante sexuelle Präferenzen" feststellen zu können.

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit haben sich Firmen etabliert, die Lügendetektion als kommerzielle Dienstleistung anbieten. Eines davon ist Cephos in Tyngsboro, Massachusetts. Das fMRT-Verfahren sei viel verlässlicher als althergebrachte Lügendetektoren ("Polygrafen"), die den elektrischen Hautwiderstand, den Puls und die Atemfrequenz aufzeichnen, schreibt Cephos auf seiner Webseite. An dieses Unternehmen wandte sich auch Semrau, um seine Unschuld nachzuweisen. Tatsächlich bescheinigt Cephos seinem Kunden, die Wahrheit gesagt zu haben.

Konkurrent No Lie MRI wirbt sogar mit Trefferquoten von über 90 Prozent. Er verspricht Privatpersonen, in puncto "Sex, Macht und Geld" die Wahrheit ans Licht zu bringen. Bei treulosen Eheleuten offenbare der Scan für tausend Dollar angeblich den Seitensprung. Es gäbe ausreichend Kunden, die sich freiwillig ins Gehirn schauen lassen, beteuert Firmengründer Joel Huizenga. Die genaue Zahl hält das Unternehmen aber geheim. Und auch, wie viele Bindungen infolge des Hirnscans schon in die Brüche gingen, mag Huizenga nicht sagen: "Wenn sich Paare trennten, hat sich das schon vorher abgezeichnet." Er hält die Methode aber für absolut gerichtstauglich: "Wir sind bereit für einen Mordfall." Würden sich Semraus Richter überzeugen lassen?

Auf den ersten Blick stützen zahlreiche Forschungsergebnisse die Behauptungen. Bereits 2002 brachte der Neurowissenschaftler Daniel Langleben von der University of Pennsylvania in Philadelphia die Wahrheitserkennung via Hirnscan auf. Studenten mussten für ihn leugnen, bestimmte Spielkarten zu besitzen. Das MRT-Gerät zeichnete dabei ihre Gehirnaktivität auf – und siehe da, Lüge und Wahrheit erzeugen unterschiedliche Aktivierungsmuster im Kopf, die eine entsprechend trainierte Software unterscheiden kann. Der Hirnscan überführe die Studenten in mindestens sieben von zehn Fällen, triumphierte Langleben. Medien feierten das als Lügendetektion par excellence.

Darüber hinaus stützen sich No Lie MRI und Cephos nach eigenen Angaben auf Tausende weitere Neuro-Imaging-Studien. In der Tat: Forscher können anhand von Hirnscans schon unterscheiden, an welche Begriffe Versuchspersonen denken. Tom Mitchell von der Carnegie Mellon University in Pittsburgh ordnete sechzig Begriffen – wie Auge, Tomate, Scheune und Kirche – ein Aktivierungsmuster im Kopf zu. Obwohl dieses Lexikon nur auf den Hirnscans einzelner Personen beruhte, konnte Mitchell damit auch bei Fremden erkennen, an welchen Begriff sie dachten. "Das ist ein starkes Indiz dafür, dass wir uns Gegenstände auf eine sehr ähnliche Art und Weise vorstellen", so Mitchell.

Ermutigt durch seine Ergebnisse, wagte er sich jüngst sogar an abstrakte Begriffe. Gedanken an Gerechtigkeit und Demokratie riefen von Mensch zu Mensch zwar verschiedene MRT-Bilder hervor. Umso mehr staunte Mitchell, als er "Angst" und "Liebe" analysierte: Sie sind genauso leicht zu erkennen wie "Tisch" oder "Flasche". "Die Liebe ist sehr ähnlich in verschiedenen Köpfen", folgert Mitchell. Der Informatik-Professor firmiert unter Fachkollegen insgeheim als Meister des Gedankenlesens: Er kann in seinen MRT-Aufnahmen sogar erkennen, ob jemand ein Bild betrachtet oder einen Text liest, welche Länge das gelesene Wort hat, ob es ein Verb oder ein Substantiv ist und ob es etwa ein Werkzeug oder ein Gebäude bezeichnet. Gerade lässt Mitchell seine Probanden im Tomografen Märchen lesen: Aus den Daten filtert er heraus, ob der Hase in dem US-Märchen "Peter Rabbit" gerade jagt oder im Garten Möhren mümmelt.

Die Offenbarungen aus dem Hirnscanner beeindrucken auch die Fachwelt. Die Forscherkollegen waren verblüfft, als Psychologe Jack Gallant vom Helen Wills Neuroscience Institute in Berkeley im September 2011 berichtete, dass er aus dem Aktivierungsmustern der Sehrinde ableiten konnte, welchen Film eine Person gerade sah. Gallant konnte sogar vorhersagen, mit welchen Aktivierungsmustern das Hirn seiner Testpersonen ein unter 18 Millionen zufällig ausgewähltes YouTube-Video verarbeiten würden.

John-Dylan Haynes vom Bernstein Zentrum für computerbasierte Neurowissenschaften in Berlin machte 2007 mit einer Publikation Furore, in der er aus dem Hirnscan ermittelte, ob Probanden vorhatten, zwei Zahlen zu subtrahieren oder zu addieren. Doch die MRT verrät ihm heute längst mehr: Er könne mit rund 85-prozentiger Genauigkeit dem Scan entnehmen, ob Probanden einen Ort aus der virtuellen Realität kennen, so Haynes. "Orte hinterlassen eine ähnlich unverkennbare Signatur im Gehirn wie Objekte."

In einer laufenden Studie führt er Testpersonen in vier von acht Räumen – darunter ein Labor, ein leeres Büro, ein unordentliches Büro und einen Hörsaal. Dann betrachten die Probanden in einer MRT-Röhre Fotos der acht Räume. Anhand der Hirnscans lasse sich relativ verlässlich erkennen, wer welchen Ort zuvor betreten hat, sagt Haynes: "Verdächtige können mit dieser Methode eines Tages daraufhin untersucht werden, ob ihnen ein Tatort bekannt ist." Dieser Test könnte bei Prozessen künftig zum entscheidenden Indiz werden.

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat sein Kollege Markowitsch bereits 2001 Hirnscans genutzt, um die Glaubwürdigkeit einer Zeugin in einem Mordprozess zu unterfüttern. Der Forscher prüfte, ob sie bei ihren Aussagen die gleichen Hirnareale aktivierte wie Personen, die mit unzweifelhaft korrekten Angaben aus ihren Lebensläufen konfrontiert wurden. Dies war der Fall. Seine genaue Vorgehensweise hat Markowitsch allerdings nie veröffentlicht. Das Gericht hatte damals aber offenbar keine Einwände gegen die Methodik.

Kann man MRT-Aufnahmen also eher trauen als Worten? Einiges spricht dafür. In einem Experiment zeigte Markowitsch, wie unsicher Zeugenaussagen sein können. Dazu führte er Studenten Spielfilme vor. Als er im Anschluss daran Einzelbilder aus den Filmen mit anderen Bildern mischte und die Probanden fragte, ob sie die Motive gesehen hatten, lagen diese zu 45 Prozent falsch. Die Hirnscans entlarvten diese Fehlerinnerungen: Die korrekt erinnerten Bilder aktivieren vor allem das Stirnhirn, die falsch erinnerten dagegen den visuellen Assoziationskortex beider Hirnhälften. Heißt es vor Gericht also bald: "Ich rufe den Zeugen in den Magnetresonanztomografen?"

Ganz so einfach ist es nicht. Den beeindruckenden Erfolgen des maschinellen Gedankenlesens steht eine ebenso lange Liste des Versagens gegenüber. Welche Schwierigkeiten auftauchen können, erkannte ausgerechnet einer der Urväter der MRT-Lügendetektoren: Langleben. Eigentlich wollte er 2008 mit einem besonders wirklichkeitsnahen Experiment den Grundstein für eine neue Disziplin der forensischen MRT setzen. Das Ergebnis ernüchterte den Neurowissenschaftler. Bei einem fingierten Vorstellungsgespräch versuchte er herauszufinden, ob die vom Bewerber präsentierten Qualifikationen stimmten – Militärdienst, Hochschulabschluss und die Veröffentlichung eines wissenschaftlichen Buches.

Langleben legte den Probanden in ein MRT-Gerät und konfrontierte ihn mit drei zweifellos korrekten Fakten aus seinem Lebenslauf. Dann fragte er die drei fraglichen Qualifikationen ab. Jede Frage wurde in zufälliger Reihung 15-mal gestellt, damit ausreichend brauchbare Daten zusammenkommen – eine übliche Vorgehensweise. Langleben suchte nach einer stärkeren Aktivierung des präfrontal-parietalen Kortex. Diese Region im Stirnhirn war in seinen früheren Studien beim Lügen besonders aktiv. Langleben schloss aus den Aufnahmen, dass die Versuchsperson sowohl beim Buch als auch beim Studium gelogen habe, aber beim Militärdienst der Wahrheit treu geblieben sei. Tatsächlich aber waren alle drei Qualifikationen frei erfunden.

Dass er der dritten Lüge aufsaß, war eine herbe Enttäuschung für Langleben. "Es scheint keine eindeutige Signatur der Lüge im Gehirn und kein spezifisches Lügenareal zu geben", räumt er heute ein. Zwar aktiviert das Flunkern das Stirnhirn stärker und beansprucht die Kontrollfunktionen mehr als die Wahrheit – Schummeln ist einfach anstrengender. Aber welche Region im Stirnhirn besonders heftig arbeitet, variierte von Studie zu Studie. Mal war es der dorsolaterale präfrontale Kortex, mal der ventrolaterale präfrontale und mal der anteriore cinguläre (siehe Grafik S. 30). Das Epizentrum der Unaufrichtigkeit wandert also. Das hat schwerwiegende Konsequenzen: "Wenn sich das erhärtet, kann man Lügen nicht allein an der verstärkten Aktivierung bestimmter Hirnregionen erkennen", sagt Langleben. "Die forensische MRT wird kommen. Aber noch ist die Methode weder für die Lügendetektion noch zur Untermauerung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen reif fürs Gericht."

Diese Ansicht teilen heute die meisten Fachkollegen. Denn nahezu allen bisherigen Studien fehlt der Praxisbezug: Sie stammen aus dem Labor, keine einzige befasst sich mit Verurteilten oder auch nur mit gerichtsrelevanten Taten. Die Mehrzahl der Studienteilnehmer war männlich, studentisch, weiß, gesund – und damit in keinster Weise repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. Die größte Studie umfasste gerade einmal 36 Teilnehmer. Kaum eine Untersuchung wurde wiederholt, um zu belegen, dass sie unabhängig von Ort, Zeit und Teilnehmern reproduzierbar ist.

Noch schwerer wiegt aber: In fast allen Experimenten wiesen die Forscher die Probanden an zu lügen. "Das gehorsame Sagen der Unwahrheit ist definitiv kein Lügen", kritisiert die Hirnforscherin Nancy Kanwisher vom Massachusetts Institute of Technology. Die Situation der Teilnehmer sei nicht zu vergleichen mit der von Angeklagten, bei denen es um Gefängnis, Freiheit oder um das Leben gehen kann – "ein seelischer Ausnahmezustand", kommentiert Hirnforscher John-Dylan Haynes.

Ein zweites Handicap schränkt die Aussagekraft der Studien mindestens ebenso drastisch ein. Viele Experimente haben nichts mit der Realität zu tun. In Langlebens Erstlingswerk zur Lügendetektion mussten Studenten lediglich leugnen, eine Kreuz-Fünf und eine Pik-Sieben zu besitzen. "In der realen Welt geht es nicht um Spielkarten, sondern um viel komplexere Handlungszusammenhänge", so Haynes.

Wie wenig Aussagekraft die Studien in der Realität besitzen dürften, zeigt eine Untersuchungen von Andrew Kozel von der University of Texas in Dallas, neben Langleben der renommierteste Lügendetektionsforscher: Er hatte 36 Probanden in Täter und Unschuldige eingeteilt. Die Täter wies er an, eine CD mit Aufzeichnungen über einen Raub zu vernichten. Die Unschuldigen erfuhren dagegen lediglich, dass jemand eine CD zerstört habe und sie für diese Tat ein Alibi bräuchten. Kozel wollte mit gezielten Fragen im MRT-Gerät entlarven, wer die CD tatsächlich zerstört hatte. Er konnte alle Täter identifizieren, bezichtigte aber auch zwei Drittel der Unschuldigen der Tat. Dieses Experiment zeigt, wie weit die Forscher noch von verlässlichen Aussagen entfernt sind.

Besonders wirklichkeitsnah mutet auch ein Experiment der Psychologen Joshua Greene und Joseph Paxton von der Harvard University an. Es ist eine der wenigen Studien, in denen die Teilnehmer nicht auf Anweisung tricksten, sondern sich durch gezielte Falschangaben eine höhere Auszahlung erschwindeln konnten. Der Hirnscan offenbarte, dass die Unaufrichtigen zusätzliche Kontrollregionen im Gehirn aktivierten, vor allem im präfrontalen Kortex. Allerdings bemühten die Untersucher sich gar nicht erst, anhand der Hirnscans herauszufinden, wer ehrlich war und wer nicht. Sie bildeten lediglich Gruppenmittel in der Hirnaktivität von Ehrlichen und Unehrlichen. "Auf Basis solcher Gruppenmittel ist keine Lügendetektion beim Einzelnen möglich", sagt Haynes. Bisher gibt es aber nur eine Handvoll Studien, vorrangig von Langleben und Kozel, welche die Scans auf individueller Ebene auswerteten.

Noch ein anderes Manko schränkt die Bedeutung der Hirn-scans für Gerichtsverfahren ein: Die Probanden müssen nicht nur in die Untersuchung einwilligen, sondern auch gedanklich mitmachen. Wer die MRT austricksen möchte, kann das schon durch Blinzeln oder Bewegen der Zunge. In einer kürzlich veröffentlichten Studie von Giorgio Ganis von der Harvard Medical School in Boston schrumpfte die Erfolgsquote der Lügenerkennung von 100 auf 33 Prozent, wenn sich die Probanden im Scanner bewegten.

Würde das Gericht im Fall von Semrau diese Schwachpunkte berücksichtigen? Am 13. und 14. Mai 2010 versammelten sich die Anwälte beider Parteien unter dem Vorsitz von Richter Tu Pham zu einer Anhörung, um die Gerichtstauglichkeit des Hirnscans zu erörtern. Pikant wird die Anhörung an jener Stelle, an der Pham das Untersuchungsprotokoll von Cephos seziert. Firmenchef Steven Laken hatte zwei Blöcke à fünfzehn Fragen zu den Betrugsvorwürfen während eines Hirnscans abgefragt. Aus dem Protokoll von Cephos geht aber hervor: Einer der beiden Durchgänge wies zunächst darauf hin, dass Semrau log. Laken führte das darauf zurück, dass sein Klient sehr müde gewesen sei. Kurzerhand wiederholte er den Scan einige Wochen später. Dabei verkürzte er die drei- bis vierzeiligen Fragen, damit diese weniger anstrengend seien. Erst das führte zum gewünschten Ergebnis – dass Semrau aufrichtig sei. Richter Pham bemerkt dazu trocken: "Laken hat sein eigenes Protokoll missachtet, nur weil das erste Ergebnis nicht passte." Er lehnte den Scan als Beweismittel ab. Am 21. März 2011 verurteilt das Gericht Semrau in drei Fällen wegen Betrugs.

Der Stab über die forensische MRT ist damit allerdings noch nicht gebrochen – der Fall Semrau sagt eher etwas über die windigen Geschäftspraktiken von Cephos aus als über die Methode an sich. Langleben wundert sich bis heute über das blamable Vorgehen von Firmenchef Laken. "Der nächste Prozess mit Hirnscans kommt gewiss", ist der Neuroforscher überzeugt.

Trotz aller wissenschaftlicher Schwächen diskutieren Justizkreise auch hierzulande ernsthaft über einen Einsatz. In Deutschland wären MRT-Aufnahmen in Gerichtsverfahren teils sogar zulässig, schreibt der deutsche Jurist Stefan Seiterle 2010 in seiner Doktorarbeit, in der er dieser Frage erstmals nachging. Wie Markowitsch vertritt er die Ansicht, dass Hirnscans zur Entlastung eines Angeklagten herangezogen werden können. Jeder Zweifel an der Schuld müsse berücksichtigt werden – und sei die Methode noch so unzuverlässig.

Das mag verblüffen: Während die meisten Naturwissenschaftler auf die Bremse treten und weitere Studien anmahnen, gehen etliche Juristen und Forensiker mit der neuen Technik forsch voran. Und ihre Einschätzung beeinflusst die Praxis der Gerichte weit mehr. Selbst Richter und Polizisten lägen mit ihrer Einschätzung von Wahrheit und Lüge schlechter als der Zufall, argumentiert Markowitsch und suggeriert damit: Die MRT ist besser als der Mensch, also ist die Zeit reif dafür.

Die Hürden für neue forensische Methoden sind denkbar gering. Ob DNA-Test oder Jungfräulichkeitsuntersuchungen – in der Vergangenheit wurden sie nie im Vorfeld evaluiert. Der Gesetzgeber müsse sich nun Gedanken machen, fordert Seiterle. Denn wenn erst einmal jeder "Ladendieb wünscht, sich zur Entlastung in einen Hirnscanner zu legen", dann könne es zu "unüberschaubaren Kosten und Verfahrensverzögerungen" kommen. Auch Markowitsch fordert eine weltweite Kooperation von Juristen, Neurowissenschaftlern und Rechtsphilosophen, um zu klären, ob und wie weit ein Hirnscan zur Strafmilderung eines Angeklagten herangezogen werden kann: "Die Frage wird zu einem markanten Kennzeichen der Strafrechtsentwicklung im 21. Jahrhundert werden." (bsc [1])


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