Amazonas-Regenwald nähert sich Klima-Kipppunkt

Neue Studie analysiert Widerstandsfähigkeit des Amazonas-Regenwaldes. Große Teile des Gebietes können sich von Bränden und Dürren nicht mehr so gut erholen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 62 Kommentare lesen

Der Amazonas-Urwald hat nicht nur durch Abholzung und Palmöl-Plantagen erhebliche ökologische Probleme.

(Bild: BATMANV / shutterstock.com)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Hanns-J. Neubert
Inhaltsverzeichnis

Seit über 20 Jahren machen sich Wissenschaftler Sorgen über die Zukunft des Amazonas-Regenwaldes. Viele befürchten, dass er bald umkippt und zur Savanne wird. Mit einem mathematischen Modell zeigte nämlich im Jahre 2000 eine Arbeitsgruppe um Peter Cox vom Met Office Hadley Centre in Exeter, UK, dass der Amazonas-Regenwald um die Mitte dieses Jahrhunderts verschwunden sein könnte. Andere Modelle zeigten später aber sehr große zeitliche Spannbreiten.

Doch die Forscher Chris Boulton und Timothy Lenton von der Universität Exeter und Niklas Boers vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und von der TU München liefern in ihrer Publikation in Nature Climate Change jetzt den klaren Beweis, dass sich das riesige südamerikanische Urwaldbecken wirklich ziemlich schnell einem der gefürchteten Klima-Kipppunkte nähert.

Klima-Sonderheft von Technology Review

Im Gegensatz zu den bisher üblichen Modell-Projektionen, werteten Boulton, Lenton und Boers hoch-aufgelöste Satellitendaten aus den Jahren 1991 bis 2016 aus, die den wirklichen Zustand der Pflanzenwelt im Amazonasbeckens zeigten. Sie konzentrierten sich dabei auf die Analyse der sogenannten optische Tiefe der Vegetation, also auf die Eindringtiefe von elektromagnetischen Wellen in die Pflanzenbedeckung, die Satelliten aussenden und empfangen. Diese Informationen kombinierten sie mit Klimadaten und Daten zur Waldbedeckung, denn auch grünes Gras- und Weideland erzeugt Signale in den Messungen und muss deshalb herausgefiltert werden.

"Wir haben in den letzten 20 Jahren einen deutlichen Verlust der Widerstandsfähigkeit des Amazonas-Regenwaldes festgestellt", erläutert Boulton das Ergebnis. "Wenn ich von Widerstandsfähigkeit spreche, meine ich die Fähigkeit des Regenwaldes, sich nach einer Störung, also nach feuchteren oder trockenen Ereignissen, wieder in einen stabilen Zustand zurückzuversetzen."

Diese Resilienz hat nämlich seit den frühen 2000er-Jahren auf 75 Prozent der Regenwaldfläche im Amazonasbecken nachgelassen. Besonders in den eher trockenen Gebieten im Südosten Amazoniens fällt es dem Urwald schwerer als früher, sich nach Extremwetterjahren zu erholen. Besonders stark bemerkbar macht sich der Verlust der Erholungsfähigkeit in der Nähe von menschlichen Siedlungen und landwirtschaftlichen Anbauflächen. In den trockeneren und den vom Menschen beeinflussten Gebieten wird der Urwald wohl zuerst kippen.

In den Teilen des Regenwaldes allerdings, in denen es noch keine direkten Eingriffe durch die Menschen gibt, ist die Widerstandsfähigkeit weiterhin sehr hoch.

Normalerweise ist das Amazonas-Tiefland eine große, terrestrische Kohlenstoffsenke. Doch diese Fähigkeit ist in den letzten 40 Jahren zurückgegangen, schreiben die Autoren. Während zweier starker Dürreperioden in den Jahren 2005 und 2010 wurde der Wald vorübergehend sogar zu einer Kohlenstoffquelle, weil beim Zerfall vertrockneter Bäume mehr CO2 in die Atmosphäre gelangte, als die nachwachsenden Pflanzen aufnehmen konnten. "Würden wir heute eine Dürre wie die von 2005 erleben, würde es sehr viel länger dauern, bis der Regenwald sich davon erholt", so Boulton.

Besonders deutlich zeigte sich die nachlassende Resilienz nach der Trockenphase 2015/2016, der dritten im Untersuchungszeitraum. Deren Ursache war das Naturphänomen El Niño, eine Erwärmung des äquatorialen Ostpazifik, die fast überall das Wetter in tropischen Breiten beeinflusst.

In den trockeneren Urwaldregionen schreitet der Verlust der Elastizität schneller voran, als man es sich bisher vorstellte. "In Verbindung mit den Prognosen der IPCC-Modelle, nach denen die Niederschläge in den nächsten Jahrzehnten abnehmen werden, könnten die Auswirkungen noch gravierender sein, als angenommen", warnt Boers. Boulton ergänzt: "Wenn der Amazonas-Regenwald austrocknet, geht die Elastizität immer schneller verloren, sodass er ziemlich schnell absterben und zu einer Art Savanne werden könnte."

Lenton macht zusätzlich auf eine entscheidende, lokale Rückkopplung durch menschliche Aktivitäten aufmerksam: "Wenn man den Wald austrocknet, bekommt man intensivere Brände, die sich weiter ausbreiten, mehr Bäume vernichten und das lokale Klima noch weiter anheizen – was dann wiederum erneut dazu führt, neue Brände zu fördern, und so weiter."

Wenn der Amazonas-Regenwald verloren geht, löst das eine Reihe weiterer Reaktionen im Klimasystem aus. "Der Wald verliert dann etwa 90 Milliarden Tonnen Kohlenstoffdioxid, was menschlichen Emissionen von mehreren Jahre entspricht. Außerdem haben frühere Modellstudien gezeigt, dass der Verlust des Waldes die gesamte Zirkulation in der Atmosphäre beeinflusst", erklärt Lenton. Aber die Modellierung dieser hochgradig komplexen, nichtlinearen Wechselwirkungen sei einfach extrem schwierig. "Deshalb haben wir uns in unserer Studie bemüht, nur Beobachtungsdaten auszuwerten."

Damit ließe sich jetzt zwar messen, dass und wie schnell Teile des Regenwald-Ökosystems an Stabilität verlieren, das bedeute aber nicht, dass man wirklich massive Biomasse-Veränderungen im Wald direkt beobachten könne, so die Forscher.

Auf eine Spekulation, wann es denn so weit ist, dass der Amazonas-Wald zur Savanne wird, lassen sich die Forscher nicht ein. "Wir können auf der Grundlage unserer derzeitigen Analyse nicht sagen, wann das geschehen wird", sagt Boulton. Da vertraue er eher den Modellrechnungen, mit denen sich genauer beschreiben ließe, dass der Amazonas sich einem Kipppunkt nähert.

Schätzungen zufolge könnte für das Erreichen des Kipppunktes ein Verlust von 20 bis 25 Prozent der Walddecke im Amazonasbecken ausreichen. Riesige Wüsten könnten eine Folge sein – und die weltweite Zunahme von Dürren und Überschwemmungen.

Lenton wagt dennoch eine Prognose für den Beginn des Waldsterbens: "Meine Vermutung ist, dass es innerhalb von Jahrzehnten passieren könnte. Ich glaube, es entfaltet sich über 30, 40 Jahre, so ungefähr."

Boers, der auch den Eisrückgang auf Grönland untersucht hat, ergänzt: "Von allen Kippelementen des Klimasystems ist der Amazonaswald definitiv eines der schnelleren. Die Veränderung wird definitiv schneller erfolgen als das Abschmelzen des Grönland-Eisschilds, viel, viel schneller."

In weiten Teilen Brasiliens herrschten im vergangenen Jahr Wassermangel und Trockenheit, was auch dem Klimawandel und den Abholzungen zugeschrieben wird. Der Anteil des Landes am Amazonasgebiet entspricht flächenmäßig der Größe Westeuropas. Ihm wird daher eine entscheidende Rolle beim Klimaschutz zugeschrieben.

Der rechte Präsident Jair Bolsonaro sieht im Amazonasgebiet vor allem ungenutztes wirtschaftliches Potenzial und will noch mehr Flächen für Landwirtschaft, Bergbau und Energiegewinnung erschließen. So erließ er etwa ein Dekret zur Förderung des Goldabbaus im Amazonasgebiet. Die Ausbeutung indigener Gebiete zum Abbau von Kalium für Düngemittel rechtfertigte er jüngst mit dem russischen Angriff auf die Ukraine und einer damit angeblich drohenden Verknappung und Verteuerung von Kalium. Die Abholzung im Amazonasgebiet legte während der Amtszeit Bolsonaros, der Ende Oktober 2018 zum Präsidenten gewählt wurde und sein Amt Anfang 2019 antrat, kräftig zu und lag zuletzt auf Rekordniveau.

(jle)