Atomkraft - Ja bitte?

Internationale Forscher arbeiten an Kernkraftwerken, mit denen das Risiko schwerer Unfälle dramatisch sinken und sogar das Müllproblem gelöst werden soll.

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Von
  • Sonia Shinde
  • Max Rauner

Jürgen Trittin hat Stromzähler, die sich rückwärts drehen. Man findet sie auf der Website des Bundesumweltministeriums, Stichwort Atomenergie. Es ist der Countdown für den Atomstrom. Kernkraftwerk Obrigheim: noch 715 Tage, Biblis A 1183 Tage, Neckarwestheim 1 1827 Tage. Tschüss, Kernenergie!

Seit dem 27.April 2002 ist der Atomausstieg amtlich. Im Jahr 2025,so lauten die politischen Vorgaben, soll in Deutschland kein Kernkraftwerk mehr am Netz sein. Neue wird es nicht geben. Die einschlägige Forschung wird ausgetrocknet. Jene Energieform, die erst die ganze Welt in Euphorie und dann in Angst und Schrecken versetzt hat, soll aus Deutschland verschwinden, je früher und endgültiger desto besser. Deutschland wird zur atomenergiefreien Zone -- eine beruhigende Vorstellung, denkt man zurück an die Tschernobyl- Bilder, an die missgebildeten Kinder, den dampfenden Reaktor und die Arbeiter in Schutzanzügen an vorderster Unfallfront. Als die Bürger plötzlich den Unterschied zwischen Curie und Becquerel lernen mussten und monatelang kein frisches Gemüse mehr kaufen durften. Beruhigend ist der Ausstieg auch für jene, die sich der bürgerkriegsartigen Kämpfe der AKW-Gegner mit der Polizei entsinnen. Für einen großen Teil der deutschen Bevölkerung also - wie Umfragen immer wieder zeigen.

Doch der Atomausstieg lässt ein grundlegendes Problem ungelöst: Als Wohlstandsnation braucht Deutschland Strom –- pro Kopf und Jahr derzeit rund 6000 Kilowattstunden. Und wir müssen einen Weg finden, den Strom mit weniger klimaschädlichen Emissionen zu produzieren.

Alternative Energiequellen wie Wind, Wasser und Sonne können dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Noch ist jedoch unklar, ob das genügt, um die notwendige Versorgung zu sichern und das Klimaproblem in den Griff zu bekommen. Die Alternativenergien haben zumindest vorläufig noch Schwächen. Solarkraft ist teuer. Wasser reicht nicht. Wind bläst nicht immer.

Es macht Sinn, an effizienteren Solarzellen zu forschen. Es macht allerdings auch Sinn, über die Option Kernkraft neu nachzudenken.

Zwar ist Deutschland nicht das einzige Land, das sich von der Atomkraft verabschiedet. Doch in vielen Staaten heißt es längst wieder "Atomkraft -- ja bitte!": Frankreich und Finnland planen, den Europäischen Druckwasserreaktor EPR zu bauen. Südafrika möchte mit deutschem Rest-Know-how Kernkraftwerke am Fließband fertigen. China will bis zum Jahr 2020 mehr als zwanzig neue Meiler errichten. Und Indien hat letztes Jahr mit dem Bau von sechs Kernreaktoren begonnen. Unübersehbar erlebt die Atomkraft in vielen Teilen der Welt eine Renaissance. Ohnedies hat ihr Anteil an der weltweiten Stromerzeugung stetig zugenommen, auf heute 17 Prozent. In Europa stammt ein gutes Drittel des Stroms aus Atomreaktoren. Selbst Deutschland verlässt sich noch zu etwa 30 Prozent auf Kernenergie, in Frankreich liegt ihr Anteil gar bei knapp 78 Prozent. Doch jetzt zeichnet sich ein grundlegender Wandel im Ansehen der Atomenergie ab. Sie könnte sich nahtlos einfügen in die Vision einer neuen Energieversorgung: sauber und effizient, auf der Grundlage von Wasserstoff, erzeugt in neuartigen Reaktoren.

Atomenergie - der wahre Ökostrom? Kernkraft -- der Traum jedes Umweltschützers? Das ist jedenfalls die Vision von zehn Nationen, die unter Führung der USA das scheinbar Unmögliche realisieren wollen: Mit dabei sind Argentinien, Brasilien, Großbritannien, Kanada, Japan, Südkorea, Südafrika und auch unsere Nachbarn Schweiz und Frankreich. Gemeinsam forschen sie am Reaktor der Zukunft. Er soll katastrophensicher sein, kaum Müll erzeugen und vor Diebstahl von waffenfähigem Plutonium geschützt sein. Er dient nicht nur der Stromproduktion, sondern soll mit der Abwärme auch das Gas Wasserstoff gewinnen, mit dem man Brennstoffzellen in Autos betanken könnte.

Die neuen Atomkraftwerke sind vielleicht sogar in der Lage, das Plutonium ausgedienter Atomwaffen zu verbrennen. Plutonium in Wasserstoff umzuwandeln, das wäre wie Schwerter zu Pflugscharen umzufunktionieren.

So sieht der Fahrplan aus: Fertig entwickelt ist der Europäische Druckwasserreaktor EPR - eine Entwicklung von Siemens und dem französischen Kraftwerksbauer Framatome (heute Areva). Eine doppelte Hülle und eine Auffangwanne sollen eine Kernschmelze im Notfall beherrschbar machen.

Der südafrikanische Energiekonzern Eskom will kleine Hochtemperaturreaktoren bauen, die mit tennisballgroßen Kugeln aus Graphit und Uran betrieben und mit Heliumgas gekühlt werden. Der Reaktorkern schmilzt selbst bei Ausfall aller Kühlsysteme nicht. In vier Jahren soll der Prototyp fertig sein.

Die vierte Generation der Kernkraftwerke gibt es bisher nur auf dem Papier, darunter ein Very High Temperature Reactor sowie mit flüssigem Natrium und Blei gekühlte Blöcke. Sie sollen so wirtschaftlich sein wie der EPR, so sicher wie der Hochtemperaturreaktor und weniger Abfall erzeugen. Bis 2010 soll im US-Bundesstaat Idaho ein Versuchsreaktor für die Produktion von Wasserstoff gebaut werden.

Die Verheißungen klingen phantastisch. So wie damals, als die Kernenergie noch neu war. Läuft die Welt Gefahr, erneut den falschen Versprechen einer immer noch mächtigen Lobby aufzusitzen? Lohnt es sich wirklich, noch einmal Milliarden in vermeintlich sichere Reaktoren zu investieren? Sollte nicht nach dem Beispiel von Schweden und Deutschland die ganze Welt vor den Risiken der Kernkraft kapitulieren? Wer sich unvoreingenommen mit diesen Fragen beschäftigt, kommt nicht umhin festzustellen: Die neuen Reaktor- Technologien lassen ernsthaft hoffen, dass sich der Super-GAU von Tschernobyl mit modernen Kraftwerken nicht wiederholen wird. Die Kerntechniker haben aus ihren Fehlern gelernt. Ihre Ideen vom Kraftwerk der Zukunft könnten zu der Erkenntnis führen: Atomkraft -- warum nicht?

Die AKW-Prototypen aus den 50er und 60er Jahren zählen zur ersten Generation der Kernkraftwerke. Es folgte die zweite Generation, zu der außer dem Kraftwerk Obrigheim alle 18 aktiven Atommeiler in Deutschland gehören. Der Europäische Druckwasserreaktor EPR zählt schon zur Enkelgeneration. Mit ihm hoffen die Kraftwerksbauer, das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen. Früher versuchte man, eine Kernschmelze durch doppelt bis vierfach ausgelegte Kühlsysteme zu verhindern. Heute wird die Kernschmelze als zwar unwahrscheinliches, aber denkbares Szenario betrachtet. Der Europäische Druckwasserreaktor des deutsch-französischen Joint Ventures Framatome ANP soll die Katastrophe technisch beherrschbar machen. Die Umwelt, so das Versprechen, bleibt verschont. Unter dem Reaktorbehälter steht eine keramikverkleidete Wanne auf sechs Meter dickem Beton. Dieser so genannte Core Catcher - auch Aschenbecher genannt - fängt die gefährliche Schmelze aus Uran, Stahl und Plutonium auf. Anschließend wird das Becken mit Wasser geflutet und gekühlt. Eine doppelte Betonhülle von je 1,3 Metern Dicke soll dafür sorgen, dass kein radioaktiver Dampf nach außen dringt – und kein Flugzeug nach innen. "Der EPR erreicht eine neue Qualität der Sicherheit", schwärmt Framatome-Sprecher Alexander Machowetz, und fügt schnell hinzu: "Was nicht heißt, dass die derzeit betriebenen Reaktoren unsicher sind." Der EPR soll netto rund 1600 Megawatt elektrische Leistung liefern - herkömmliche Kernkraftwerke schaffen typischerweise 1300 Megawatt - und 60 Jahre lang Strom produzieren.

Der finnische Energiekonzern TVO fällte Mitte Oktober eine Vorentscheidung und wählte Framatome zum "bevorzugten Bieter" aus. "Das ist wie ein 2:0 in der 80. Minute", freut sich Machowetz. Seit mehr als zehn Jahren wurde in Westeuropa kein Kraftwerk mehr bestellt. Das Know-how droht verloren zu gehen. In Finnland dürfen die Ingenieure wohl bald wieder an die Praxis. TVO rechnet mit Investitionskosten zwischen 1,7 und 2,5 Milliarden Euro. In Frankreich wird derweil noch gestritten, ob der EPR, wie Anfang Oktober von Industrieministerin Nicole Fontaine vorgeschlagen, zügig gebaut werden soll oder ob man nicht besser auf die Generation IV wartet. Fontaine rechnet mit Baukosten von drei Milliarden Euro für einen Prototyp.

Absolut sicher ist der EPR aber trotz aller Vorsichtsmaßnahmen nicht. Michael Sailer vom Öko-Institut in Darmstadt, Vorsitzender der Reaktorsicherheitskommission, hält einen schweren Unfall selbst bei der modernen EPR-Variante für "nicht ausgeschlossen". Die Erfahrung lehre, dass man bei der Abschätzung des Risikos immer einige Szenarien vergesse oder falsch berechne. Framatome ANP versichert dagegen, dass der EPR um Faktor zehn sicherer sei als herkömmliche Kernkraftwerke. Die Gefahr einer Kernschmelze sei kleiner als 10 hoch minus 7 pro Jahr. Alles klar?

Willkommen im Streit um das Restrisiko. Gibt es angesichts der Folgen eine Wahrscheinlichkeit für einen GAU, die man akzeptieren kann? Oder ist selbst das geringste Risiko noch zu hoch?

Manchen NAturwissenschaftlern reicht Mathematik, um ruhig schlafen zu können. Zum Beispiel Adolf Birkhofer von der Technischen Universität München, der für die Internationale Atomenergiebehörde IAEO den Tschernobyl-Unfall mit untersucht hat. Für die Risikobewertung von Atomkraftwerken berechnet Birkhofer anhand von Störfallprotokollen und Ausfalldaten von Materialien, Ventilen und anderen Komponenten, was alles schief gehen kann. Probabilistische Sicherheitsanalyse nennt man das. "Die westlichen Leichtwasserreaktoren kann man als sicher bezeichnen", meint der Professor, "den Tschernobyl-Typ dagegen nicht."

Hinreichend geschützt fühlt sich Birkhofer, wenn eine Kernschmelze unwahrscheinlicher ist als 1 zu 10 000 pro Jahr und Anlage. Dass dabei radioaktive Stoffe in erheblichem Maße in die Umwelt gelangen, sei noch zehnmal unwahrscheinlicher. Bei 500 Kernkraftwerken hieße das: Alle 200 Jahre passiert irgendwo auf der Welt ein schwerer Unfall. Dieses Restrisiko würde er akzeptieren. "Es gibt in vielen Bereichen konzentrierte Gefährdungspotenziale, auch ein großer Staudamm ist mit einem Risiko verbunden."

Nicht jeder will sich allerdings so bereitwillig auf die Statistik verlassen wie Birkhofer. Vielen ist bewusst: Es könnte auch morgen passieren. "Selbst wenn man die Wahrscheinlichkeit noch um einige Zehnerpotenzen verringert, ändert sich nichts an der Wahrnehmung des Risikos", sagt der Risikoforscher Ortwin Renn von der Universität Stuttgart. Kernenergie gehört in die "Risikoklasse Damokles". Das Schwert über dem griechischen Höfling ist nie heruntergefallen, trotzdem konnte er vor Angst weder schlafen noch essen.

Ohne Schwert überm Kopf lebt es sich besser. Das wissen auch die Kerntechniker. Winfried Scherer, Abteilungsleiter für Reaktortheorie am Forschungszentrum Jülich, hält den EPR daher nur für eine Übergangslösung: "Es ist ein großer Fortschritt im Vergleich zu konventionellen Leichtwasser-Reaktoren, aber der EPR ist noch nicht inhärent sicher." Inhärente Sicherheit ist die Losung für die Zukunft der Kernkraft. Als inhärent sicher gilt ein Reaktor, der prinzipiell keine Kernschmelze erlaubt. Naturgesetze sollen einen Unfall schlicht unmöglich machen.

Die Idee für einen katastrophenfreien Reaktor wurde in Deutschland schon früh verfolgt. Physiker am Forschungszentrum Jülich entwickelten in den 60er Jahren einen Reaktortyp, der unter dem Namen Hochtemperaturreaktor (HTR) oder Kugelhaufenreaktor bekannt wurde. Nicht mehr stabförmige Brennelemente sorgen darin für die notwendige Energie, sondern einige hunderttausend tennisballgroße Kugeln aus Graphit. In jeder Kugel sind zehntausend stecknadelkopfgroße Körnchen aus Uranoxid eingelagert. Während der Kettenreaktion erhitzen sie sich. Gekühlt werden sie mit gasförmigem Helium, das die Hitze abführt - mehr als 900 Grad Celsius im Vergleich zu 330 Grad in Druck- und Siedewasserreaktoren – und eine Strom erzeugende Turbine antreibt.

Der Vorteil des Designs: Selbst wenn die Kühlung ausfällt, erhitzen sich die Kugeln höchstens auf 1600 Grad Celsius. Das schadet ihnen nicht. Bis 2000 Grad geben sie ihr Inneres nicht frei. "Der Reaktor kann die Nachwärme ausschwitzen", sagt Scherer. Leichtwasserreaktoren würden einen Hitzeschlag erleiden. Sie brauchen "aktive" Kühlsysteme, eingeschaltet vom Computer. In Deutschland gilt die 30-Minuten-Regel, der zufolge ein Störfall 30 Minuten lang automatisch beherrscht werden muss, damit die Mannschaft unter Stress keinen Fehler macht. Aber auch Maschinen sind fehlbar. Beim Kugelhaufenreaktor wäre das nicht so schlimm.

Der Reaktortyp hat nämlich noch einen weiteren Vorteil. Erwärmen sich die Graphitkugeln, stehen weniger Neutronen für die Kernspaltung zur Verfügung. Die Kettenreaktion stoppt, ohne dass man Abschaltstäbe in den Kern fahren muss. "Die Wahrscheinlichkeit für eine Kernschmelze", sagt Scherer, "ist null." Jedenfalls wenn der Reaktorkern nicht zu groß ist. In Jülich wurde der Versuchsreaktor sogar routinemäßig durch Abstellen der Kühlung ausgeschaltet. Selbst Michael Sailer vom Öko-Institut hält den HTR für "deutlich harmloser als Leichtwasserreaktoren, solange er klein genug ist." Einen Freibrief würde er der Anlage allerdings nicht ausstellen. Es sei nicht ausgeschlossen, dass radioaktives Material auf anderem Weg in die Umwelt gelangt. "Wir leben in Zeiten des Terrors."

Atomkraft - Ja bitte?

Die Sicherheitsdiskussion nach dem 11. September gab den Atomkraftgegnern erneut Aufwind. Terror und Flugzeugabstürze sind seitdem beliebte Argumente gegen jeden Kernreaktor. In Deutschland zerplatzte der Traum vom sicheren Reaktor allerdings schon lange vorher. Nach fünfzehnjährigem Genehmigungsverfahren ging 1985 ein mehr als vier Milliarden Mark teurer Hochtemperaturreaktor in Hamm-Uentrop in Betrieb. Doch das Kraftwerk war auf 300 Megawatt ausgelegt -– zu viel, um noch als inhärent sicher zu gelten. Außerdem gab es Probleme beim Betrieb. Just eine Woche nach dem Super- GAU von Tschernobyl verstopften Brennstoffkugeln ein Rohr, jedes Jahr gingen mehr als tausend Kugeln zu Bruch. 1989 wurde der Reaktor endgültig stillgelegt. Heute steht er als versiegelte Bauruine in der Landschaft, in etwa 30 Jahren soll er abgerissen werden - auf Kosten des Steuerzahlers.

Als Siemens im selben Jahr Pläne für einen Kugelhaufenreaktor aus mehreren kleinen Modulen vorlegte, war es zu spät. An neue Atommeiler war in Deutschland nicht mehr zu denken. Jetzt wird das Konzept wiederbelebt - bezeichnenderweise am Kap der Guten Hoffnung. Pebble Bed Modular Reactor (PBMR), eine Beteiligung des südafrikanischen Energiekonzerns Eskom, hat den Siemens-Typ weiterentwickelt und will in der Nähe von Kapstadt einen HTR bauen. Die Vision der Südafrikaner ist es, kleine 165-Megawatt-Module quasi am Fließband zu fertigen. Der Kunde müsste sie nur noch zu einem großen Kraftwerk zusammenstöpseln wie ein Ikea-Regal.

Zehn bis zwanzig Baukasten-Kraftwerke möchte das Unternehmen jedes Jahr exportieren. "Zurzeit werden weltweit 30 neue Kernkraftwerke gebaut", freut sich Unternehmenssprecher Tom Ferreira. "Der Trend geht wieder zur Atomkraft." Vor allem asiatische Länder sollen die Module kaufen.

Der europäische Druckwasserreaktor und der Kugelhaufenreaktor stehen für zwei gegensätzliche Trends. Groß und potent der eine, klein und flexibel der andere. Das Dilemma ist: Große Anlagen bringen tendenziell Geld, sind aber nicht ungefährlich, kleine sind sicherer, aber nicht so wirtschaftlich. Ansonsten gibt es eine simple Faustregel für den nuklearen Businessplan: Je länger ein Kernkraftwerk am Netz ist, desto besser. Denn die Anfangsinvestitionen sind hoch, die Risiken groß; schon wenn der Bau durch Genehmigungsverfahren verzögert wird, droht ein Milliardenverlust. Der Betrieb ist hingegen vergleichsweise billig, der Brennstoff auch. Für Kohlekraftwerke gilt das Umgekehrte. Läuft ein Atomreaktor mit 1300 Megawatt installierter Leistung länger als 19 Jahre und setzt er pro Jahr zehn Milliarden Kilowattstunden Strom ab, spült er nach Berechnungen des Öko-Instituts Darmstadt jedes Jahr einen Gewinn von 400 Millionen Euro in die Kassen.

"Ist ein Kernkraftwerk einmal abgeschrieben, dann ist es konkurrenzlos günstig", sagt Wolfgang Pfaffenberger, der als Leiter des Bremer Energie-Instituts ebenso wenig wie das Öko-Institut im Verdacht steht, Sprachrohr der Atomlobby zu sein. Abgeschrieben kostet die Erzeugung einer Kilowattstunde Strom nur noch zwischen 2,5 und 3,5 Euro-Cent. Es lohnt sich also, wenn die Amerikaner die Laufzeiten ihrer Kraftwerke derzeit von 40 auf 60 Jahre verlängern, die Franzosen in einem ersten Schritt von 30 auf 40 Jahre.

Bei einem GAU übertreffen die volkswirtschaftlichen Folgekosten alle ökonomischen Vorteile der Atomenergie allerdings um ein Vielfaches. Wie viel kostet die Gesellschaft ein verkrüppeltes Kind? Was die Trauer der Eltern? Was das Leben eines Arbeiters?

Tatsächlich gibt es Versuche, diese Kosten zu beziffern: "In einem Land mit hoher Bevölkerungsdichte wie Deutschland liegen die Folgekosten bei bis zu 25 000 Milliarden Euro", sagt Christian Küppers vom Darmstädter Öko-Institut. Bisher gab es zwei katastrophale Störfälle in Kernkraftwerken: 1979 den Atomunfall im amerikanischen Harrisburg und die Katastrophe im ukrainischen Tschernobyl 1986. Die Folgekosten des GAUs in der Ukraine werden sich circa 30 Jahre nach dem Unfall auf rund 235 Milliarden US-Dollar summiert haben, schätzen die Umweltorganisation Greenpeace und das Wiener Forum für Atomfragen. Russische Experten beziffern den Schaden im selben Zeitraum auf rund 201 Milliarden Dollar –- menschliches Leid nicht mit eingerechnet.

Noch mehr als jede Berechnung zählt die Psychologie – wenn Minister Trittin den Deutschen ein gutes Gefühl vermittelt, liegt er damit vielleicht doch genau richtig. Der Verzicht auf eine Energieform ist jedoch noch keine Entscheidung für eine Alternative. Und die wird langsam fällig: Bis 2020 muss ein Drittel des gesamten europäischen Kraftwerkparks erneuert werden - und es ist nicht abzusehen, dass wirklich risikolose Quellen wie Wind, Wasser oder Sonne bis dahin zu vertretbaren Kosten genügend Strom liefern können. Auf Einladung des VGB trafen sich Mitte September die europäischen Energieversorger und Kraftwerksbauer aus 29 Ländern in Kopenhagen und beklagten eine "Generationenlücke" bei den Kraftwerken. VGB-Chef Gerd Jäger, im Vorstand von Deutschlands zweitgrößtem Energiekonzern RWE zuständig für Kernenergie und erneuerbare Energien, vergleicht die aktuelle Situation mit der Ölkrise 1977 und dem großen Stromausfall in New York am 13. Juli 1973. Die Parallelen seien "geradezu augenfällig".

Die Frage der Versorgungssicherheit wird wieder an Bedeutung gewinnen, meint Jäger. Ausgerechnet Atomkraftbefürwortern wie ihm kommt heute auch das gestiegene Umweltbewusstsein zu Hilfe. Denn während Kohle- und Gaskraftwerkebei überschaubarem Risiko zuverlässig Energie liefern, tun sie das nicht ohne Nebenwirkungen. Vor allem das Treibhausgas Kohlendioxid ist ins Visier der Umweltschützer geraten, und davon produzieren die fossilen Energieträger beim Verbrennen nun einmal reichlich. Wie viel ökologischen Schaden eine Ladung CO2 anrichtet, ist allerdings fast so schwer zu berechnen wie die Kosten eines GAUs.

"CO2 vermeiden und aus der Kernenergie aussteigen geht nicht zusammen, weder jetzt noch in Zukunft", sagte Jäger auf dem Kopenhagener Kongress. Damit gehört er zur wachsenden Gruppe derjenigen, die den Boden für ein Kernkraft- Comeback mit ökologischen Argumenten bereiten wollen. Selbst Atomkraftgegner müssen zähneknirschend anerkennen, dass Kernreaktoren so gut wie kein Kohlendioxid in die Luft pusten. 830 Millionen Tonnen CO2 helfen die Atommeiler in der EU zu vermeiden, schätzen Experten. Das entspricht in etwa den Emissionen des gesamten europäischen Straßenverkehrs. Zudem wird der bevorstehende Handel mit CO2-Zertifikaten die ökonomische Bilanz der Kernenergie verbessern. "Bei einem Preis zwischen fünf bis acht Euro Vermeidungskosten je Tonne Kohlendioxid-Ausstoß sind Kernkraftwerke eindeutig im Vorteil", sagt Bernhard Hillebrand vom Rheinisch- Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung.

Die neuen Atom-Ökos stehen allerdings noch vor einem großen Problem, das weder der Europäische Druckwasserreaktor noch der südafrikanische Hochtemperaturreaktor löst: Wohin mit dem radioaktiv verseuchten Müll? Auf der ganzen Welt gibt es bis heute kein Endlager für hochradioaktive Abfälle. Die Dimension dieses Problems ist gewaltig: Noch in tausenden von Jahren wird es unter der Erde schlummern. Allein die Notwendigkeit, gefährliche Stoffe über derart lange Zeiträume aufzuheben, lässt für manchen den Totalausstieg als einzig vernünftigen Weg erscheinen. "Keiner kann tausende von Jahren überblicken", sagt Risikoforscher Ortwin Renn. "Daher ist der Hang zum Null-Risiko recht groß." Einen einfachen Ausweg sieht er nicht: "Da wird es immer Konflikte geben."

Nirgendwo auf der Welt ist es bisher gelungen, eine Lagerstätte zu finden, die alle Anforderungen erfüllt. In Deutschland wird der Salzstock Gorleben seit 1979 auf seine Eignung als Endlager untersucht. 1,4 Milliarden Euro wurden dafür bislang ausgegeben. Die rot-grüne Bundesregierung bilanzierte zwar im Jahr 2000, dass der Salzstock dichthält und sich in der nächsten Million Jahre wohl kaum bewegen wird. Aber als Endlager wurde Gorleben dennoch nicht freigegeben. Man wolle die Erkenntnisse anderer Länder über Endlager in Ton und Granit abwarten, heißt es im Energiekonsens. Gleichzeitig setzte Bundesumweltminister Jürgen Trittin den "Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerstandorte" ein. Ziel ist es, bis 2030 in einem "gesellschaftlichen Diskurs" einen Standort zu finden, an dem schwach und stark aktiver Müll gemeinsam lagern können. Bis es so weit ist, strahlt der radioaktive Abfall in Betonhallen auf dem Gelände der Kraftwerke vor sich hin. 16 Tonnen Plutonium und Co. werden in Deutschland nach Schätzungen des Bundesamts für Strahlenschutz bis zum Ende der nuklearen Stromerzeugung anfallen - wenn es beim Atomausstieg bleibt. Der hochaktive, Wärme entwickelnde Müll stammt aus Brennelementen und der Wiederaufbereitung. Er wird in Castorbehältern gelagert oder in Glasblöcken eingeschmolzen, damit er die Umgebung nicht zu stark aufheizt oder auf Umwegen ins Grundwasser gelangt.

Hinzu kommen bis zum Jahr 2080 300 000 Kubikmeter schwach und mittelstark strahlender Abfall, die Hälfte davon aus Medizin und Forschung. Das entspricht der Ladung von etwa 4200 Güterwaggons. Im Erzwerk Konrad, das als Endlager für schwach strahlenden Abfall erkundet wurde, ist zwar Platz für mehr als doppelt so viel. Aber billig wäre die Einlagerung sicher nicht. Allein der Polizeischutz der Castor- Transporte nach Gorleben kostete das Land Niedersachsen im vergangenen Jahr knapp 25 Millionen Euro.

Atomkraft - Ja bitte?

Auch die Atomkraftfreunde haben inzwischen verstanden, dass die Endlagerung von radioaktivem Müll eines ihrer dringlichsten Probleme ist. Zu wenig Platz für radioaktiven Müll sei einer der "limitierenden Faktoren" für die Zukunft der Einweg- Kernenergie, heißt es in der internationalen "Roadmap" für die Generation IV der Atomreaktoren. Zwei Jahre lang hatten über 100 Forscher aus zehn Ländern auf Einladung des US-Energieministeriums über die Kernenergie der Zukunft debattiert.Vor einem Jahr veröffentlichten sie die Roadmap und 3000 Seiten Zusatzmaterial. Das zeugt zumindest von einer starken Vision. Die deutsche Regierung hat es bis heute nicht geschafft, das im Koalitionsvertrag versprochene Energieforschungsprogramm vorzulegen. Eine der wichtigsten Zukunftsfragen bleibt erst einmal liegen - möglicherweise bis zur nächsten Wahl, und dann könnte der Ausstieg aus dem Atomausstieg kommen: "Eine CDU/CSU-Regierung würde es den Betreibern ermöglichen, Kernkraftwerke so lange zu betreiben, wie sie es wollen", sagte die CDU-Vorsitzende Angela Merkel kürzlich in einem Interview.

Zum Müllproblem äußerte sich die studierte Physikerin nicht. Für die Roadmap hat sich eine 20-köpfige Expertengruppe mit dem Brennstoffkreislauf befasst und einen 300- seitigen Extrabericht verfasst. Die AKW-Generation IV müsse ihren Müll weit gehend recyceln, lautet eine der wichtigsten Botschaften. Denn selbst wenn es sichere Endlager gäbe, wäre es auf Dauer Verschwendung, den radioaktiven Müll einfach wegzuwerfen. Die Uranvorkommen sind begrenzt, und in abgebrannten Brennstoffen schlummern noch einige Energiereserven. Nach Schätzungen der Forscher, die an der Roadmap mitgearbeitet haben, reichen die bekannten Uranvorkommen noch bis zum Jahr 2030. Zählt man die geschätzten Uranreserven hinzu, hätten die Leichtwasserreaktoren das begehrte Schwermetall vor 2070 aufgebraucht. Der Erfolg der Generation IV ist für die Branche daher auch eine Überlebensfrage. "In den nächsten 20 bis 40 Jahren ist das Uran noch billig genug für Einwegbrennstoff, danach müssen wir anfangen zu recyceln", sagt John Ryskamp vom Idaho National Engineering and Environmental Laboratory (INEEL), der zu den Unterzeichnern der Roadmap gehört.

Acht Ziele formulierten die Experten in ihrem Abschlussbericht vom Dezember 2002, unter anderem: Die neuen Meiler müssen so sicher sein, dass außerhalb des Reaktorgeländes keine Sicherheitsvorkehrungen mehr nötig sind; das finanzielle Risiko soll nicht größer sein als bei anderen Kraftwerkstypen; für Terroristen darf weder der Brennstoff noch der Reaktor ein attraktives Ziel sein; der Abfall soll stark reduziert werden.

Ryskamp rechnet damit, dass manche Reaktortypen den Müll im Vergleich zu konventionellen Kernkraftwerken um den Faktor zehn reduzieren können. Langfristig sollen einige Kraftwerke alles Plutonium und Uran recyceln und nur noch Spaltprodukte wie Cäsium 137 und Strontium 90 als Abfall übrig lassen. Nach rund 30 Jahren sind diese Stoffe zur Hälfte zerfallen, nach 300 Jahren ist nur noch ein Promille des Mülls potenziell gefährlich. Das ist für die Endlagerung überschaubarer als Zeiträume von Millionen Jahren. John Ryskamp gibt aber auch zu: "Kein Reaktor kann alle acht Ziele zugleich erfüllen." Sechs Konzepte stehen zur Auswahl. Ein Probemodell von allen sechs Reaktorsorten zu bauen würde mehr als fünf Milliarden Dollar kosten. Das ist selbst den Visionären zu viel. Deshalb sollen die Konzepte ab 2015 von den Partnerländern zunächst ein paar Jahre "angeforscht" werden, in die engere Wahl kommen dann ein bis drei Vorschläge, die später als Prototyp realisiert werden. Zu den Kandidaten gehören Reaktoren, die mit flüssigem Natrium, Blei oder mit gasförmigem Helium gekühlt werden. In einem anderen Vorschlag werden Uran und geschmolzenes Salz zu einem flüssigen Brennstoff vermischt.

Die Grundidee der Generation-IV-Systeme besteht darin, den Brennstoff im Reaktor teilweise selbst zu erbrüten. Dabei entsteht Plutonium, das noch im Brennelement durch Neutronenbeschuss in harmlosere Spaltprodukte umgewandelt werden soll. Transmutation nennen Fachleute diesen Prozess. Das Plutonium wird dabei nicht mehr vom übrigen Brennstoff getrennt wie bei der Wiederaufbereitung. Das erschwert Diebstahl und Bombenbau.

Man verwendet Kühlmittel wie Natrium, Blei und Helium, weil sie die Neutronen nicht so stark abbremsen wie Wasser. Schnelle Neutronen sind besser geeignet, aus Natur-Uran oder dem alternativen Brennstoff Thorium brauchbares Brennmaterial zu erbrüten und Plutonium zu spalten. Möglicherweise sind diese Reaktoren auch in der Lage, das Plutonium der ausgedienten Atomwaffen zu verbrennen.

Mit dem heißen Gas der heliumgekühlten Kraftwerke ließen sich nicht nur eine Turbine antreiben und Strom erzeugen. In einem thermochemischen Prozess könnte man auch Wasserstoff aus Wasser gewinnen, und das vielleicht sogar effizienter als mit Hilfe der klassischen Elektrolyse. Wasserstoff, den viele Visionäre als Grundlage der künftigen Energieversorgung sehen, ist selbst keine Energiequelle, sondern ein Energieträger, gewissermaßen ein Speichermedium für Energie. Um reinen Wasserstoff herzustellen, braucht es - wiederum Energie. Und hier kommt die Kernkraft ins Spiel. "Mit einem Kügelchen nuklearen Brennstoffs könnte man so viel Wasserstoff produzieren, dass 220 Autos jeweils 100 Meilen weit fahren könnten", sagt Ryskamp öffentlichkeitswirksam - und bekennt offen: "Wenn wir mit den Politikern reden, reden wir von Wasserstoff." Der US-Kongress hat in seinem jüngsten Gesetzentwurf fast eine Milliarde Dollar für den Bau eines Wasserstoff erzeugenden Kernkraftwerks am INEEL reserviert. Atommeiler im Dienste einer zukünftigen Wasserstoff-Wirtschaft -- eine echte Option oder bloß ein PR-Trick der Atomlobby?

Das zu beantworten ist heute noch nicht möglich. Ernster zu nehmen ist gewiss die Aussicht, mit den nächsten Reaktorgenerationen dem Ziel einer sicheren Kernkraft näher zu kommen. Auch deutsche Experten waren eingeladen worden, die internationale Roadmap für Kernkraftwerke der Generation IV zu diskutieren. Schließlich haben die Deutschen Atomreaktoren gebaut, die zu den sichersten der Welt zählen -- nicht zuletzt dank der strengen Sicherheitsauflagen der Behörden. Aber die Ingenieure durften nicht kommen, jedenfalls nicht mit öffentlichen Geldern. "Die staatliche Förderung der Entwicklung von nuklearen Techniken zur Stromerzeugung wird beendet", steht im rot-grünen Koalitionsvertrag. Früher waren die Atomkraftgegner die Underdogs und die "Atomlobby" der übermächtige Feind. Heute stehen die Kernforscher im Abseits.

Viele von ihnen sind darüber zu Zynikern geworden. "Über Kernkraft kann man nicht mehr rational diskutieren", klagt ein Wissenschaftler vom Forschungszentrum Jülich, "wir brauchen eine neue Bevölkerung." Das hört sich an wie Bertolt Brechts ironischer Vorschlag, die Regierung möge sich ein neues Volk wählen. Aber es ist was dran: Der Risikoforscher Renn und seine Kollegen haben festgestellt, dass Jugendliche und junge Erwachsene unter 30 die Kernenergie längst nicht mehr als größte Bedrohung empfinden. "Die Kernenergie hat ihren Mobilisierungscharakter verloren", sagt Renn. Eine neue Generation wächst heran -- sowohl in der Bevölkerung als auch in der Kerntechnik. Beides zusammen könnte dazu führen, dass Atomkraft auch in Deutschland wieder salonfähig wird. Die mit Kernenergie verbundenen Probleme sind gravierend, aber das Potenzial der Atomkraft ist nicht von der Hand zu weisen. Noch lässt sich nicht sagen, was letztlich überwiegt, zumal auch andere Energiequellen noch längst nicht ausgereizt sind. Aber es wäre verfrüht, sich komplett aus der Kernkraft-Forschung zurückzuziehen -– mit Sicherheit. (sma)