Der Futurist: Carpe Noctem

Was wäre, wenn wir nicht mehr schlafen müssten?

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Carpe Noctem

(Bild: Mario Wagner)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Jens Lubbadeh

David Demain fuhr jetzt zum dritten Mal um den Block. 4.17 Uhr. Scheiße, Eva wartete doch mit dem Frühstück.

"Wie war deine Nacht, Schatz?", ­begrüßte sie ihn.

"Anstrengend."

Paul, sein Sohn, saß bereits mit vollem Mund am Tisch. Es duftete nach Kaffee und Toast. David ließ sich mit einem Seufzer in den Stuhl fallen. Er war erschöpft. Sein Chef wollte, dass er vor dem Urlaub noch das große Projekt abschloss.

"Hier sind dein Kaffee und dein Lucid", sagte sie und legte ihm die Anti-­Schlaf-Pille hin. Neulich hatte er sie vergessen und die Arbeitsnacht normal durchmachen müssen. Es war die Hölle.

"Ich habe gute Nachrichten: Ich hab die Gehaltserhöhung! Wir fahren nach Neuseeland und besuchen Andi!" Sein Freund war vor fünf Jahren aus­gewandert.

Der Futurist

(Bild: 

Mario Wagner

)

"Was wäre, wenn ...": TR-Autor Jens Lubbadeh und die Redaktion lassen in der Science Fiction-Rubrik der Kreativität ihren freien Lauf und denken technologische Entwicklungen in kurzen Storys weiter.

"Dann buch ich die Flüge", sagte Eva. "Hotel suchen wir uns vor Ort?"

"Ach, wir können doch auch im ­Wagen meditieren", sagte David. "Die Flüge sind schon teuer genug."

Der Flug war lang und anstrengend, immerhin gab es einen Meditationsraum an Bord. Lucid eliminierte zwar das Schlafbedürfnis, aber das Gehirn brauchte Pausen, um neue Synapsen zu bilden. Dafür reichte eine Stunde Meditation täglich. Die Pille war erstaunlich billig, zudem bezuschusste die EU sie über ihr "Carpe Noctem"-Programm. Der Hersteller hatte vorgerechnet, welcher volkswirtschaftliche Schaden durch Schlaf entsteht, und überzeugte damit rasch Politiker aller Parteien. Jetzt gab es Lucid umsonst.

Nach der Landung fuhren sie sofort zum Milford Sound, wo Andi lebte. Früher hätten sie aufgrund des Jetlags wertvolle Zeit verloren. Der Fjord war atemberaubend schön. Auf einer Bergkuppe lag "Milford Inn" – Andis Hotel.

"Schön, dich zu sehen, Andi!" David war ein wenig erschrocken. Andi hatte dunkle Augenringe. "Wie geht's dir?"

"Um ehrlich zu sein – nicht so gut."

David fiel auf, dass das Hotel völlig leer war. "Was ist los? Es lief doch gut?"

"Anfangs ja", sagte Andi. "Aber seit Lucid zahlt kaum noch jemand etwas für Hotels – höchstens noch, um auszuruhen oder zu meditieren. Ich bin erledigt."

David wurde bewusst, dass auch er die Hotelkosten sparte. Er schämte sich.

Wenige Monate später lag er auf dem Asphalt. Er fror erbärmlich. ­Genauso wie Dutzende Protestschläfer um ihn he­rum. Es war Winter, 21 Uhr. Rush­hour. Gleich würden die Autos kommen. Es hatte be­reits Unfälle gegeben, trotz der Plakate in Leuchtfarben: "Schlafen statt schuften". Aber niemanden würde es interessieren, wenn sie am Tag protestschliefen.

Nach seinem Besuch bei Andi hatte sich David in die Materie vertieft. Er fand heraus, was wirklich hinter Carpe Noctem steckte: Nahezu alle großen Konzerne hatten Geld in das Start-up gesteckt, das Lucid herstellte. Das Geschäftsmodell war nicht so sehr, Geld mit dem Medikament zu verdienen, sondern mit der Arbeitszeit, die damit frei würde. In der Tat war sie schrittweise auf 55 Stunden pro Woche verlängert worden.

Lucid hatte den Menschen also nicht mehr Freizeit verschafft, sondern mehr Arbeit. David gründete den Penner­verein, der schnell zu einer breiten Protestbewegung anwuchs.

Sein Telefon klingelte. Es war Andi. "Und? Brummt dein Hotel wieder?"

"Leider nicht. Die Leute schlafen zwar, aber weil sie weniger arbeiten, ha­ben sie auch weniger Geld. Hotels können sich nur noch die Reichen leisten. Jetzt verkaufe ich das, was alle wieder brauchen: Betten."

(jlu)