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Chemische Vergangenheitsbewältigung

Niels Boeing

Heute tritt eines der größten Regelwerke in Kraft, die die EU je beschlossen hat: das europäische Chemikalienrecht REACH. Wird es zum teuren Wirtschaftshemmnis? Und führt es zum großen Schlachten, weil Millionen zusätzlicher Tierversuche nötig werden?

Seit einigen Monaten herrscht in Brüssel „grüne Welle“. Mit verschiedenen Strategiepapieren zu Klimapolitk oder Energieversorgung will die EU zeigen, dass sie den Schutz von Umwelt und Verbrauchern ernst nimmt. Eher abseits von den großen Schlagzeilen tritt heute ein umfangreiches Regelwerk in Kraft, das hierbei nicht minder ehrgeizig ist: das neue einheitliche EU-Chemikalien-Recht REACH [1], kurz für „Registration, Evaluation and Authorisation of Chemicals“. Rund 30.000 seit Jahrzehnten genutzte Chemikalien müssen nun bei der neuen Europäischen Agentur für chemische Stoffe in Helsinki registriert werden – allerdings nicht sofort, denn zunächst beginnt erst einmal eine 18-monatige Vorregistrierungsphase.

In der gewaltigen Lobbyschlacht, die der Verabschiedung von REACH im EU-Parlament im Dezember 2006 voranging, wurden vor allem Opferszenarien an die Wand gemalt. Die Wirtschaft sah Kosten in Milliardenhöhe auf sich zukommen, Verbraucher- und Umweltverbände monierten, die Bürger würden hinters Licht geführt. Und Tierschützer warnten, dass jährlich bis zu 35 Millionen Versuchstiere zusätzlich – das Dreieinhalbfache der jetzigen Zahl – EU-weit getötet werden müssten, um die Altstoffe auf ihre Gesundheits- und Umweltverträglichkeit zu testen.

Was hatte die Gemüter derart erhitzt? REACH bezieht sämtliche existierenden Chemikalien ein, auch solche, die vor 1981 auf den Markt kamen. Damals trat das bisherige europäische Chemikalienrecht in Kraft und ließ die Altstoffe außen vor. Auf ihre Unbedenklichkeit mussten nur Substanzen geprüft werden, die danach entwickelt wurden – das waren seitdem etwa 4000. Rund 100.000 Stoffe existierten aber schon vorher. REACH verlangt nun, dass Hersteller und Importeure all diese Stoffe in Helsinki registrieren lassen, sofern jeweils mehr als eine Tonne davon pro Jahr erzeugt wird.

Welche Daten dabei eingereicht werden müssen, hängt vom jeweiligen „Mengenband“ ab, der jährlichen Produktionsmenge. Ab zehn Tonnen pro Jahr müssen neben einem technischen Dossier ein Stoffsicherheitsbericht, ab 100 beziehungsweise 1000 Tonnen pro Jahr noch weitere Daten zur Toxikologie beim Menschen und zur Ökotoxikologie vorgelegt werden. Stellt die Chemikalien-Agentur ein Gefährdungspotenzial für einen Stoff fest, kann sie ein Zulassungsverfahren einleiten, in dem weitere Tests vorgesehen sind.

Das Problem ist: Aufgrund der Schwelle von einer Tonne fallen zunächst etwa 70.000 Stoffe wieder aus REACH heraus, weil sie in geringeren Mengen produziert werden. Damit geht REACH sogar hinter die bisherige EU-Regelung zur Neuanmeldung zurück, die bereits ab einer Jahresproduktion von zehn Kilogramm griff. Umweltverbände kritisieren, dass zwei Drittel der noch zu registrierenden 30.000 Stoffe im Mengenband zwischen einer und zehn Tonnen liegen. Das hierfür verpflichtende technische Dossier biete aber kaum Anhaltspunkte für Gefährdungspotenziale, weil es nur einige grundlegende Angaben zum Material enthalten müsse.

Hemmnis oder internationales Vorbild?

Seit Dezember ist es aber erstaunlich ruhig um das vermeintlich neue bürokratische Monster aus Brüssel geworden. Offenbar haben sich die Hersteller in das Unvermeidliche gefügt. „Die großen Player wissen doch schon lange, was auf sie zukommt“, winkt REACH-Experte Michael Cleuvert von Dr. Knoell Consult ab. Das Unternehmen ist einer von etwa zehn Full-Service-Providern für die chemische und die pharmazeutische Industrie in der EU, die Hersteller bei der nun anstehenden Registrierung beraten. Cleuvert hält die Verordnung durchaus für vernünftig: „Wenn die Altstoffe so wie bisher auf freiwilliger Basis getestet würden, wäre man in 2500 Jahren damit fertig.“

Dass das Mengenband zwischen zehn Kilogramm und einer Tonne – darunter auch viele neue Nanomaterialien, die nur in kleinen Mengen produziert werden – aus REACH herausgefallen ist, ist nach Cleuverts Ansicht vertretbar. Formal habe Greenpeace zwar Recht, wenn es diese Änderung als Rückschritt kritisiert. Aber bei Stoffen unterhalb einer Tonne jährlicher Produktionsmenge bestehe „eigentlich keine hohe Umweltrelevanz“. Das Risiko, das sie von Menschen, Tieren oder Pflanzen aufgenommen werden können, sei deutlich geringer als bei Stoffen, die in großem Umfang produziert werden.

Das Argument, Chemikalienhersteller könnten ihre Drohung wahrmachen und nun Teile ihrer Produktion in Länder ohne Registrierungspflicht verlagern, hält Cleuvert für übertrieben. Er geht vielmehr davon aus, dass andere Länder, etwa die Schweiz, demnächst nachziehen werden. Kaliforniens Gouverneur Arnold Schwarzenegger, bekannt für seine ehrgeizigen Umweltpläne, soll bereits signalisiert haben, REACH in seinem US-Bundesstaat einzuführen, ebenso sechs, sieben weitere US-Gourverneure, so Cleuvert. In den USA ebenso wie in Japan entscheiden bislang – anders als in der EU – keine Mengenbänder darüber, ob zusätzliche Daten erhoben werden müssen, sondern ob ein Stoff biologisch abbaubar ist. Das hat zur Folge, dass dort seit den achtziger Jahren viel mehr neue Stoffe angemeldet werden konnten als in der EU.

Unbestritten ist allerdings, dass das neue europäische System einige Kosten verursacht. Während die für Großunternehmen „aus der „Portokasse“ gezahlt werden könnten, wie Cleuvert meint, ist die Belastung für mittelständische Firmen durch REACH nicht unerheblich. Das seien immerhin 90 Prozent der 1650 Unternehmen im Verband der Chemischen Industrie (VCI), sagt Verbandssprecher Manfred Ritz. „Wir haben Mittelständler, die an die 1000 Stoffe registrieren lassen müssen.“ Er schätzt, dass im Mengenband bis zu zehn Tonnen für die Registrierung eines einzigen Stoffes zwischen 20.000 und 40.000 Euro anfallen, zwischen zehn und hundert Tonnen schon bis zu 250.000 Euro. Zumindest können kleinere Unternehmen, die denselben Stoff herstellen oder importieren, eine Registrierung gemeinsam vornehmen und so die Kosten senken. In Mittelstandskreisen tröstet man sich damit, dass es noch schlimmer hätte kommen können.

Ritz bemängelt allerdings, dass mit REACH „ein enormes Bollwerk aus Vorschriften“ entstanden ist. Die Leitfäden für Unternehmen umfassten mehrere tausend Seiten. Im Prinzip sei die Verordnung eine „Vergangenheitsbewältigung“. Anders als Umweltorganisationen geht er davon aus, dass die Zahl der fälligen Registrierungsdossiers weit höher liegt als bislang angenommen: statt 30.000 rechnet er mit 80.000, weil nicht nur Einzelstoffe von REACH erfasst würden, sondern auch Zubereitungen aus mehreren Substanzen. Aber Ritz kann der Verordnung auch Positives abgewinnen: „REACH setzt die Standards für die Anmeldung von künftigen neuen Stoffen.“

Das große Schlachten im Namen des Verbraucherschutzes?

Bleibt noch die Frage, ob die EU für den Verbraucherschutz das große Schlachten von Versuchstieren in Kauf genommen hat, wie manche Tierschützer nach der Verabschiedung im Dezember monierten. „Man muss überhaupt nicht wesentlich mehr Tierversuche machen“, sagt Horst Spielmann, der am Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) lange die Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch leitete. Der Toxikologe ist einer der führenden Forscher bei neuen Verfahren, chemische Substanzen in Zellkulturen auf toxische Wirkungen hin zu überprüfen. „Es geht bei REACH vor allem darum, in Unternehmen bereits vorhandene Daten aus alten Untersuchungen offen zu legen”, sagt Spielmann, der auch in einem REACH-Implementierungsgremium der EU arbeitet. Er schätzt, dass für 80 Prozent der fraglichen Stoffe schon Informationen vorliegen.

Zudem hat der Tierschutz durchaus Eingang in das mehrere tausend Seiten starke Regelwerk gefunden. So heißt es in Artikel 25: „Um Tierversuche zu vermeiden, dürfen Wirbeltierversuche für die Zwecke dieser Verordnung nur als letztes Mittel durchgeführt werden. Außerdem ist es erforderlich, Maßnahmen zur Begrenzung der Mehrfachdurchführung anderer Versuche zu ergreifen.” Tatsächlich sind Hersteller verpflichtet, bei Konkurrenten Informationen einzuholen, ob diese bereits Tests mit Wirbeltieren durchgeführt haben. Falls ja, dürfen die nicht wiederholt werden.

„Die Industrie muss jetzt alles, was sie weiß, auf den Tisch legen”, sagt Ursula Sauer von der Akademie für Tierschutz des Deutschen Tierschutzbundes. Sie wertet REACH denn auch als „Teilerfolg”. Dennoch ist die Verordnung in ihren Augen hinter den Möglichkeiten zurückgeblieben. So habe das Europäische Zentrum für die Validierung von Alternativmethoden der EU-Kommission zwar 2006 eine Teststrategie zur Reproduktionstoxikologie vorgelegt, die die Zahl der Versuchstiere halbieren würde. Gerade die Reproduktionstoxikologie, bei der Schädigungen der Fortpflanzungsorgane untersucht werden, ist eins der besonders heißen Eisen, seit entdeckt wurde, dass etwa weibliche Meeresschnecken unter Einfluss der Chemikalie TBT Penisse ausbilden. „Die Aufnahme dieser Teststrategie ist aber im Umweltausschuss des EU-Parlaments mit einer Stimme Mehrheit abgelehnt worden”, berichtet Sauer.

Ihr Fazit: „Das, was in REACH drinsteht, gibt nicht den Stand der Forschung wieder, um Tierversuche zu vermeiden.” Der Widerstand komme dabei häufig genug von Behörden, deren Vertreter mitunter aus reiner Gewohnheit auf Tierversuchen beharrten, und nicht so sehr von der Industrie. Denn die hat längst erkannt, dass sich Tests in der Zellkultur (in vitro) rechnen. „Tierversuche sind extrem teuer”, sagt VCI-Sprecher Manfred Ritz. „Die Unternehmen sind froh über jeden Versuch, den sie nicht machen müssen.“

Das Sparpotenzial lässt sich etwa an Untersuchungen zeigen, bei denen geprüft wird, ob ein bestimmter Stoff Augenreizungen hervorruft. Der gängige Tierversuch ist der Draize-Test, bei denen Kaninchen im Labor die Substanz in die Augen geträufelt wird. Anschließend beobachtet man die Reaktionen an den Schleimhäuten, die – im Falle einer tatsächlichen Schädigung – selbst Hartgesottene nachdenklich machen können. Mit dem am BfR entwickelten Het-Cam-Test lassen sich dieselben Erkenntnisse inzwischen ebenso gut in der Petrischale gewinnen. Als Testgewebe dient die so genannte Chorion-Allantois-Membran eines Hühnereis. Abgesehen von dem Leid, dass den Kaninchen erspart bleibt: Das Verfahren liefert in 15 Minuten ein Ergebnis. Das Laborpersonal kann bis zu 30 Tests an einem Arbeitstag durchführen.

Auch In-vitro-Verfahren zu Hautreizungen, die an Hautmodellen vorgenommen werden, liefern schneller und ohne Versuchstiere aussagekräftige Ergebnisse. Die Giftigkeit von Stoffen, die über die Mundschleimhäute aufgenommen werden, kann mit speziellen Zelllinien sogar von einem Roboter getestet werden. Dieses „High-Throughput-Screening” wird in der Pharma- und der Kosmetik-Industrie bereits seit längerem eingesetzt – für letztere gilt übrigens ab 2009 ein Vermarktungsverbot von Substanzen, die mithilfe von Tierversuchen entwickelt wurden. „Die Kosten solcher In-vitro-Verfahren belaufen sich beim Testen einer einzelnen Substanz auf 30 bis 50 Prozent der entsprechenden Tierversuche”, sagt Horst Spielmann.

Die so genannte 3R-Forschung für zuverlässige Verfahren, die Tierversuche reduzieren (reduce), verfeinern (refine) oder ersetzen (replace), hat weitere Kandidaten hervorgebracht, die derzeit validiert werden, bevor sie von der OECD als verantwortlicher Instanz anerkannt und damit zu internationalem Standard werden können. Bei Augenreizungstests seien derzeit zehn Verfahren in der Auswertung, sagt Spielmann, zwei von ihnen können bereits eingesetzt werden. Das gilt auch für Tierversuche zur Hautreizung, die durch Prüfung mit Hautmodellen in diesem Jahr vollständig ersetzt wurden. Für die Untersuchung auf krebserregende Wirkungen von Substanzen laufen zwei Studien, die 2008 abgeschlossen sein werden.

Dennoch lassen sich noch in nicht allen Gebieten der Toxikologie Tierversuche ersetzen. Für einige schädliche Wirkungen etwa gebe es derzeit keine Alternativen, sagt Patricia Cameron, REACH-Experten vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). „In diesem Fall ziehen wir aber eine Laborratte einem ‚Freilandversuch’ an Menschen und Tieren vor.” Sie plädiert auch dafür, Testsreihen an Tieren dann zu beenden, wenn bereits in-vitro-Tests ein Gefährdungspotenzial belegen. „Die Industrie teilt unsere Position bisher aber nicht”, sagt Cameron.

Aus deren Skepsis spricht auch ein scheinbar unbegrenztes Vertrauen in die Aussagekraft von Tierversuchen. „Die Voraussagen aus Tierversuchen sind jedoch auch mit Vorsicht zu behandeln”, warnt Horst Spielmann. Die Ergebnisse aus Tierversuchen in der Schwangerschaft etwa seien nur begrenzt übertragbar. „Die Forschung hat zum Beispiel die Wirkung von Thalidomid bis heute nicht verstanden.” Das Schlafmittel, das von 1957 bis 1961 als „Contergan” vermarktet wurde, führte trotz Unbedenklichkeit in Tierversuchen an Ratte und Maus zu schweren Missbildungen bei Neugeborenen.

Dass die von REACH ausgelösten Chemikalientests wirklich ohne Tierversuche auskommen, erwartet allerdings keiner der Beteiligten. Sollten die derzeit entwickelten Alternativverfahren in den kommenden Jahren vollständig ausgeschöpft werden, ließe sich die Zahl der potenziell nötigen zusätzlichen Tierversuche aber um 60 Prozent verringern, schätzt eine Studie von Katinka van der Jagt von 2004. Horst Spielmann sieht die Aufregung um das mutmaßliche Schlachten im Namen von Umwelt und Gesundheit gelassen: „Aus meiner Sicht muss sich REACH nicht so schlimm auswirken, wie vielfach befürchtet wird.” (nbo [2])


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[1] http://ec.europa.eu/enterprise/reach/index_de.htm
[2] mailto:nbo@bitfaction.com