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Dabei sein ist alles

| Jo Bager

So attraktiv das SchülerVZ auf Teenagers wirkt, so mysteriös erscheint es Eltern und Lehrern: Was lockt Millionen Kinder und Jugendliche, die Website zu besuchen, wann immer es geht? Ist SchülerVZ womöglich gefährlich? Ein eigenes Bild machen kann sich das Erziehungspersonal kaum, denn der Zutritt ist Schülern vorbehalten. Ein Ortstermin.

Nachmittag, 16 Uhr, die Hausaufgaben sind gemacht. Lena*(12) fährt den Rechner hoch; endlich hat sie Zeit, das SchülerVZ zu besuchen. Sie steuert den Dienst an, so oft sie darf, das heißt etwa viermal pro Woche eine halbe Stunde. Wenn ihre Mutter sie ließe, würde sie aber wesentlich mehr Zeit dort verbringen.

Das Netzwerk zieht Jugendliche wie ein Magnet an. 2,7 Millionen Mitglieder besuchten das SchülerVZ im Januar 111 Millionen Mal (siehe Soft-Link). Das bedeutet, dass jedes Mitglied die Site im Schnitt mehr als einmal pro Tag aufrief. Imposant ist auch die Nutzungsintensität: Durchschnittlich 53 Seitenabrufe dauert ein Besuchsvorgang, im Vergleich zu anderen Websites ein Marathon. Auf Spiegel.de etwa verweilen die Besucher nur knapp sechs Klicks lang. Und auch andere soziale Netze fesseln ihre Benutzer kürzer, der Schwesterdienst StudiVZ zum Beispiel nur für 35 Klicks. SchülerVZ ist derzeit ein Opfer seines eigenen Erfolgs; die Seiten laden sehr zäh, zeitweise fallen sogar einige Funktionen aus.

Nachdem Lena sich eingeloggt hat, landet sie auf ihrer persönlichen Startseite. Sie wirft einen flüchtigen Blick auf die Leiste „Kennst Du schon…?“, in der SchülerVZ ihr Teilnehmer aus derselben Schule oder der Umgebung vorstellt, und schaut kurz, wer zuletzt die eigene Profilseite, gewissermaßen ihren Steckbrief, betrachtet hat. Keine neuen Meldungen auf der Pinnwand, einer Art öffentlichem Forum ihrer Profilseite. Dann geht es zum Gruscheln. Gruscheln bedeutet so viel wie „grüßen und drücken“, SchülerVZ hat einen eigenen Menüpunkt dafür. Gleich beim Besuch ihrer Startseite sieht Lena so, wer sie gegruschelt hat, und gruschelt zurück, wenn sie mag.

Ein halbes Dutzend Nachrichten sind seit gestern in Lenas Posteingang aufgelaufen. Während der SchülerVZ-Sitzung kommen noch etliche hinzu: Die Teilnehmer sehen, welche ihrer Kontakte online sind, wo also mit einer schnellen Antwort zu rechnen sein wird, und richten sich danach. Lena wird im Laufe der nächsten halben Stunde daher immer mal wieder in ihren Posteingang nach neuen Nachrichten schauen.

In den Mails geht es um dieselben Themen, die auch auf dem Schulhof eine Rolle spielen: Die allgemeine Stimmungslage, die nervigen Eltern, das Halbjahreszeugnis, der nette Typ aus der 8d, die blöde Kuh aus der Nachbarklasse. Es wird geschnattert, geschmeichelt, gelästert und gezickt – wie im richtigen Leben. Meist sind die Botschaften kurz, ein, zwei Sätze, fast wie im Chat. In nur zwei Monaten Mitgliedschaft hat Lena 524 Nachrichten erhalten und, so schätzt sie, ungefähr ebenso viele versendet.

Die ungeheure Popularität des SchülerVZ wirft ein Schlaglicht auf einen generellen Trend der Mediennutzung. Das Internet hat sich als wichtigstes Medium für Kinder und Jugendliche etabliert, vor dem Fernsehen, dem Radio und der Zeitung. Laut einer Untersuchung des Branchenverbands der europäischen Online-Vermarkter verbrachten junge Deutsche zwischen 16 und 24 Jahren im Jahr 2007 13,8 Stunden pro Woche im Netz. 13,5 Stunden saßen sie vor dem Fernseher, Radio hörten sie 11,6 Stunden pro Woche, für Zeitungen und Zeitschriften nahmen sie sich knapp 8 Stunden pro Woche Zeit.

Das Internet ist ein alltägliches Medium für die Teens geworden, so wie das Telefon für ihre Eltern. Lena verabredet sich beispielsweise manchmal in der Schule mit ihren Freundinnen Jasmin und Nadja zu einer Art Dreier-Mail-Konferenz am Nachmittag im SchülerVZ. Wer dagegen keinen Zugang zum Netz hat, ist ein bemitleidenswerter Außenseiter. In Lenas Bekannten- und Freundeskreis jedenfalls nutzen fast alle das Netz, „außer so ein paar, aber mit denen mache ich sowieso nicht so viel“.

88 Kontakte hat Lenas soziales Netzwerk im SchülerVZ, aber das seien wenige: „Meine Freundin Nadja hat 157“. SchülerVZ nennt die Kontakte Freunde. Lena hat kein Problem mit der Bezeichnung, auch, weil sie alle SchülerVZ-Freunde aus dem echten Leben kennt. Das ist nicht unbedingt die Regel. Nach einer Untersuchung des TV-Senders MTV, für die 8- bis 24-Jährige befragt wurden, haben junge Deutsche ein Drittel ihrer Online-Freunde noch nie gesehen.

Besonders viel Spaß macht es Lena, sich mit ihren Freunden über Fotos zu verlinken. Dazu lädt sie eigene Fotos hoch oder bearbeitet Bilder ihrer Freunde. Im Bildeditor kann sie dann bestimmte Bereiche mit ihrer Profilseite oder mit der eines ihrer Freunde verknüpfen – praktisch zum Beispiel, um aus dem Klassenfoto heraus direkt auf die Seiten der Mitschüler zu verweisen.

Lena legt ein neues Fotoalbum an. Mit einem kleinen Formular lassen sich gleich mehrere Bilder in einem Rutsch hochladen und veröffentlichen. Ein paar Mausklicks und zwei Minuten später stehen zwanzig Fotos von Lena aus dem letzten Tunesienurlaub im Netz: Lena am Strand, im Pool, im Badeanzug.

Auf ihrer Profilseite ist die Zwölfjährige ähnlich offenherzig. Jeder Teilnehmer erfährt hier nicht nur ihre Schule und ihre Klasse, sondern auch ihren Geburtstag, ihren Sportverein, ihre politische Orientierung, was und wen sie mag beziehungsweise nicht mag – inklusive einiger Lehrer. Viele Schüler sind ähnlich freizügig, weiß der Medienpädagoge Markus Gerstmann. Er besucht als Mitarbeiter des Bremer ServiceBureau Jugendinformation interessierte Klassen, um mit ihnen über SchülerVZ und andere Websites zu sprechen.

Dabei konfrontiert er die Schüler auf sehr drastische Weise mit ihrer Offenheit. Im Vorfeld fahndet er im SchülerVZ nach der zu besuchenden Klasse. Die Profile von Schülern, die besonders viel von sich preisgeben, druckt er aus und hängt sie zum Beginn des Unterrichts an die Wand. Damit zieht er zwar den Unmut der Betroffenen auf sich; die Provokation hilft aber, um ins Gespräch zu kommen.

Gerstmann versucht, die Jugendlichen mit griffigen Vergleichen für das Thema Datenschutz zu sensibilisieren: „Wenn du dich im Garten sonnst und der Nachbar neugierig herübergafft, gehst du doch auch lieber ins Haus. Im Internet kann dir aber jeder zusehen“. Dass das Schüler-Netzwerk alles andere als ein sicherer Hort für Privates ist, auf den nur Schüler zugreifen, mussten Anfang Januar auch die Hinterbliebenen einer bei einem Skiunfall verunglückten Schülerin erfahren. Einen Artikel über den Unfall illustrierte die Bild-Zeitung mit einem Foto aus dem SchülerVZ.

Gerstmann empfiehlt den Jugendlichen, auf den Profilseiten so wenig wie möglich über sich preiszugeben. Fotoalben sollten sie nur für sich selbst oder für ihre Freunde freigeben, aber nicht für die Allgemeinheit. Persönliche Dinge sollten sie lieber per Mail austauschen und nicht auf der Pinnwand. In den Einstellungen für die Privatsphäre können Mitglieder festlegen, dass Nutzer, mit denen sie nicht befreundet sind, nur den ersten Buchstaben zu sehen bekommen.

Dort lässt sich außerdem festlegen, ob andere sehen dürfen, dass man ihre Seiten besucht: „Manchmal besuchst du auch Seiten von Leuten, die du nicht magst. Wenn diese sehen, dass du bei ihnen spioniert hast, fühlen sie sich geradezu eingeladen, einen blöden Kommentar auf deiner Pinnwand zu hinterlassen.“ Gerstmanns Kollegin Tanja Siggelkow hat die wichtigsten Tipps zum Datenschutz in einem Infopapier zusammengefasst (siehe Soft-Link).

Auch wenn Schüler anfangs verärgert auf die Schocktherapie reagieren, sind sie froh, sich zum Thema SchülerVZ austauschen zu können, da sie sonst keine erwachsenen Ansprechpartner finden, die sich mit dem Dienst auskennen. Ganz offensichtlich nehmen sie Gerstmanns Tipps ernst: Als er einer Klasse in der Nachbereitung einer Veranstaltung per SchülerVZ einen Link auf Unterlagen zukommen lassen wollte, stand er vor verschlossenen Türen. Alle Teilnehmer hatten ihr Profil so abgeschottet, dass sie nicht mehr über die SchülerVZ-Suchmaschine zu finden waren.

Mail, gruscheln, Profile, Fotoalben – im Vergleich zu anderen sozialen Netzwerken hat SchülerVZ einen eher bescheidenen Funktionsumfang. Multimedia-Plug-ins wie etwa bei MySpace, Widgets wie bei Facebook? Fehlanzeige. Der ungeheure Erfolg von SchülerVZ erstaunt auch deshalb, weil es viele ähnliche Dienste ausschließlich für Kinder und Schüler schon lange vor dem Start von SchülerVZ gab, etwa den tivi Treff auf den Seiten des ZDF-Kinderfernsehens oder das LizzyNet speziell für Mädchen. Das SchülerVZ ist dagegen erst im Februar 2007 gestartet. Offenbar hat es der Betreiber verstanden, schnell eine kritische Masse an Nutzern aufzubauen, die dann automatisch für regen weiteren Zulauf sorgt. Lena jedenfalls kam auf die Plattform, „weil hier auch meine Freundinnen sind“.

Ausschlaggebend für den Erfolg des SchülerVZ dürfte vor allem sein, dass die Teens hier unter sich sind. Der Zutritt ist laut AGB Schülern ab zwölf Jahren vorbehalten; einen neuen Account anlegen kann man nur mit einer Einladung eines SchülerVZ-Mitglieds. Eltern und Lehrer bleiben außen vor. Dieses Blockdenken ist sehr ausgeprägt und auch der Grund dafür, dass Lena sich und ihre Freundinnen nicht mit echten Namen erwähnt wissen will. Sie möchte nicht als diejenige erkannt werden, die einen Erwachsenen in das Netzwerk hereingelassen hat.

Markus Gerstmann hält es für gut, dass die Jugendlichen einen Raum für sich haben, in dem sie sich austauschen können und mit Rollen experimentieren, sich ausprobieren können – eine wichtige Aufgabe der Pubertät. Er ist überzeugt, dass die Teens das SchülerVZ verlassen und zu einer anderen Plattform abwandern würden, wenn Erwachsene darin einzögen. So wichtig es ist, dass Erwachsene draußen bleiben, so essenziell ist es für Jugendliche, regelmäßig „drin“ zu sein. Im SchülerVZ werden Meinungen gemacht, und wer nicht dabei ist, bekommt nicht mit, was gerade angesagt ist.

Das Prinzip Dabeisein lässt sich sehr gut an den Foren illustrieren, die bei SchülerVZ Gruppen heißen. Es geht oft nicht darum, was in einer Gruppe passiert. In vielen Gruppen verfassen die Teilnehmer nur wenige Postings. Entscheidend ist es, dabei zu sein, um eine bestimmte Haltung auszudrücken, die der Gruppenname repräsentiert. Einige von Lenas Gruppen heißen zum Beispiel „Bill ist HDTV – Schärfer als die Realität“, „nutella-mit-dem-löffel-esser“ oder „BoM cHiCkA wAh WaH – tHe AxE eFfEcT“.

SchülerVZ-Teilnehmer können Freunde in ihre Gruppen einladen. Auch Lena erhält regelmäßig solche Einladungen. Sie tritt der betreffenden Gruppe dann bei, um die Freunde nicht zu kränken. Nach ein paar Wochen verlässt sie Gruppen aber oft wieder, um sich neuen anschließen zu können und ihr Limit nicht zu überschreiten. 100 Gruppen sind das Maximum pro Mitglied.

Die Gruppen sind der Teil von SchülerVZ, der derzeit für den meisten Ärger sorgt. Denn mitunter wird die Möglichkeit zur öffentlichen Meinungsäußerung missbraucht, um über andere Schüler oder Lehrer herzuziehen – oder sie sogar regelrecht zu mobben. Auch an der Schule von Lena muss man nicht lange suchen, um Gruppen mit Namen wie „du sollst nicht quatschen tun“ zu finden, ein Zitat eines nicht sonderlich beliebten Lehrers. Dort wird munter über den Pädagogen gelästert, auch ein mit der Handy-Kamera geschossenes Foto aus dem Unterricht findet sich.

Wann immer ein Mobbingfall im SchülerVZ publik wird, ist die Not groß. Nicht selten sind die Lehrer oder die Eltern der betroffenen Kinder dann überfordert, weil sie das SchülerVZ nicht kennen und nicht wissen, was sie tun sollen. In Markus Gerstmanns Büro steht seit Wochen das Telefon nicht mehr still, weil besorgte Eltern und Lehrer anrufen.

Gerstmann empfiehlt Eltern von betroffenen Jugendlichen, das Problem öffentlich zu machen. Es muss dort gelöst werden, wo es herstammt, also in der Regel in der Schule. Auch das SchülerVZ unterhält eine pädagogische Hotline, an die sich Lehrer oder Eltern von betroffenen Jugendlichen wenden können. Die Leitung mit der Nummer 0 30/ 4 05 04 27 47 ist montags und donnerstags in der Zeit von 16 bis 18 Uhr und mittwochs zwischen 10 und 12 sowie 14 und 16 Uhr besetzt.

Etwa 1500 bis 2500 ernstzunehmende Meldungen aller Art arbeitet das Support-Team von SchülerVZ jeden Tag ab. Verstößt ein Teilnehmer gegen den sehr restriktiven Verhaltenskodex, so riskiert er eine Verwarnung oder, im Wiederholungsfall, die Löschung seines Accounts. Bei schweren Vergehen löscht der Betreiber Zugänge auch sofort. Gründer von Mobbing-Gruppen etwa bekommen keine Bewährung.

„Eine erfolgreiche Überwachung unserer Inhalte (es werden circa 600 000 Bilder täglich hochgeladen und 2300 Gruppen gegründet) kann nur durch unsere Community stattfinden, denn kein Team und kein Instrument kann so stark und so aufmerksam wie über 2,7 Millionen Nutzer sein“, so der Jugendschutzbeauftragte des Unternehmens, Philippe Gröschel. Man ist also darauf angewiesen, dass Teilnehmer die Verstöße melden.

In den meisten Fällen ist eine Intervention von außen aber nicht notwendig. Viele kleinere Konflikte klären die SchülerVZ-Mitglieder untereinander, etwa neulich, als jemand eine Klassenkameradin von Lena beleidigt hat. Nachdem die gemeinsam mit Lena und ein paar Freundinnen zurückgezickt hat, war Ruhe.

Eine Plattform, auf der 2,7 Millionen Jugendliche verkehren, müsste eigentlich auch wie ein Magnet für Pädophile wirken. Mit ein wenig Social Engineering erhält man eine Einladung und kann unerkannt unter einer falschen Identität umherstreifen, um Kontakte zu knüpfen. Indes: Bekannt geworden ist ein solcher Fall noch nicht.

Alles in allem hält Markus Gerstmann das SchülerVZ sogar für weniger gefährlich als das reale Leben. Von SchülerVZ-Verboten hält er überhaupt nichts, vielmehr gehe es darum, den Kindern die notwendige Medienkompetenz zu vermitteln, damit diese das Netzwerk sicher nutzen können.

Für Eltern und Lehrer, die dafür mehr über die Plattform wissen wollen, hat der Betreiber auf der Homepage ausführliche Informationen bereitgestellt. Screenshots geben einen Eindruck vom Leben im SchülerVZ, eine FAQ beantwortet die wichtigsten Fragen. Am besten aber sei es, so Gerstmann, offen mit seinen Kindern zu sprechen, was sie so im SchülerVZ machen, und ihnen dabei mal über die Schulter zu gucken.

Lena hat 14 Mails geschrieben, sich mit einem neuen Freund verknüpft, 20 Fotos hochgeladen und ist zwei Gruppen beigetreten. Sie fährt den Rechner herunter, ihre SchülerVZ-Zeit ist abgelaufen. Bis morgen.

* alle Namen geändert

Soft-Link [1] (jo [2])


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