Das Geheimnis seines Erfolges

Mit einer konsequenten Web-Strategie hat Barack Obama Hillary Clinton aus dem Rennen geschlagen. Auch bei der eigentlichen Präsidentenwahl hat ihm das geholfen - und wird vielleicht sogar seinen Regierungsstil prägen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 2 Kommentare lesen
Lesezeit: 14 Min.
Von
  • David Talbot
Inhaltsverzeichnis

Wenn es nach Joe Trippi geht, war das Rennen bereits am 4. März 2008 gelaufen. An diesem Tag, dem zweiten sogenannten Super Tuesday im Kampf um die Nominierung als Kandidat bei der US-Präsidentschaftswahl im November, stand bei den Demokraten die Entscheidung in vier Bundesstaaten an. Die meisten Stimmen waren in Texas zu holen, wo die Partei-Anhänger zuerst in Wahllokalen abstimmen und dann ein weiteres Mal bei Versammlungen, den sogenannten Caucuses. Hillary Clinton hatte in Texas etwa 20000 freiwillige Helfer. 104000 Texaner aber hatten sich über dessen Sozialnetz-Dienst www.my.barackobama.com ("MyBO") als Unterstützer für Barack Obama registriert, sagt Trippi, der 2004 den Wahlkampf des demokratischen Kandidaten Howard Dean geleitet hatte. Schon vorher hatte Obama mithilfe seiner Website Erfolge gefeiert – und unter anderem mit 55 Millionen Dollar in einem Monat einen Rekord im Auftreiben politischer Spenden aufgestellt. Als er per E-Mail von Obamas Freiwilligenzahlen in Texas erfuhr, erinnert sich Trippi, habe er nur noch gedacht "Spiel, Satz und Sieg – es ist vorbei".

Denn Obamas Team konnte seine vielen Helfer quasi mühelos mobilisieren. Die Datenbanken hinter MyBO gaben bereitwillig Listen der Freiwilligen in Texas aus, sortiert nach kleinsten geografischen Einheiten. So ließen sich die Helfer vor Ort dort einsetzen, wo sie am meisten ausrichten konnten. "Man ging einfach online und hat die Namen, Adressen und Telefonnummern von hundert Leuten in der Nachbarschaft heruntergeladen. Die konnte man dann gezielt auf die Wahl ansprechen. Jeder am heimischen PC war aufgerufen, Broschüren herunterzuladen und auszudrucken", erklärt Trippi.

Clinton gewann die eigentliche Vorwahl mit 51 zu 47 Prozent. Aber das Kandidaten-Wahlrecht in Texas ist höchst kompliziert – nach der Schließung der Vorwahl-Lokale finden die Caucuses statt, über die etwa ein Drittel der Delegierten für die endgültige Kandidaten-Kür bestimmt wird. Obamas Anhänger, unterstützt von MyBO, dominierten diese oft chaotischen Versammlungen so sehr, dass er Texas letztlich mit 99 zu 94 Stimmen gewann. Dadurch war Clintons Sieg vom selben Tag in Ohio fast neutralisiert – sie hatte ihre letzte große Chance verpasst, Obama zu stoppen. "Bill Clintons Wahlspruch 1992 war: ,Es ist die Wirtschaft, Dummkopf'. Dieses Mal müsste es heißen: ,Es ist das Netzwerk, Dummkopf'", sagt Trippi.

Während der ganzen Vorwahlkampagne hat Obama die neuen Medien dominiert. Dabei half ihm das Zusammenlaufen zweier Trends: 55 Prozent der US-Bürger haben heute einen Breitband-Internetanschluss, doppelt so viele wie noch 2004. Zugleich sind mittlerweile viele Leute mit der Nutzung von sozialen Netzen im Web vertraut. Mit Online-Versammlungen und Blogs machte schon 2004 Dean von sich reden. "Aber die Leute waren noch nicht ganz so weit", sagt Lawrence Lessig, ein Jura-Professor in Stanford, der Obama in Internetfragen berät. Das habe sich geändert, und Obama habe das früh gemerkt: "Der entscheidende Vorteil war, dass Obamas Leute von Anfang an auf wirklich intelligente Weise Werkzeuge zur Community-Bildung eingesetzt haben."

Natürlich hatten auch die meisten anderen Kandidaten des 2008er Vorwahlkampfs Websites mit Spendemöglichkeit und Social-Networking-Features. Doch das Obama-Team stellte diese Technologien ins Zentrum der Kampagne und sicherte sich beispielsweise die Hilfe des 24-jährigen Chris Hughes, einem der Gründer von Facebook. Auch die Nutzung der Online-Werkzeuge verlief bei Obama optimal. Seine Anhänger hatten jede Freiheit, mit MyBO selbst wichtige Dinge zu organisieren. Die Kampagne zielte nicht auf Kontrolle bis in die unterste Ebene ab, sondern schaffte einen Spagat zwischen Hierarchie und Anarchie. Kurz gesagt: Obama, der früher in Chicago bei der Organisation lokaler Bürgergruppen half, hat die ultimative Politik-Maschine im Internet erschaffen.

Von Hackern und Rappern

Östlich des Bostoner Fort Point Channel sind in der Congress Street elegante, restaurierte Industriegebäude aus dem 19. Jahrhundert aneinandergereiht. Hinter einer schlichten Holztür im dritten Stock von Haus Nummer 374 hacken hier üblicherweise 15 bis 20 lässig gekleidete Programmierer konzentriert auf ihren Computern herum. Wir befinden uns im Technikcenter von Blue State Digital. Gegründet von ehemaligen Mitstreitern der Dean-Kampagne, hat das Unternehmen die interaktiven Elemente für Obamas Website geliefert und ist heute für den laufenden Betrieb verantwortlich.

Jascha Franklin-Hodge, 29, begrüßt mich mit freundlichem Händedruck und einem Grinsen, das seine Zahnlücke zeigt. Er hat eine sonore Stimme und ein herzliches Lachen, sein Gesicht ist von einem dünnen Bart umrahmt. Franklin-Hodge gab sein Studium am MIT nach nur einem Jahr auf und arbeitete ein paar Jahre für verschiedene Onlinemusik-Startups, bevor er die Internet-Infrastruktur für die Dean-Kampagne aufbaute, die die damalige Rekordsumme von 27 Millionen Dollar an Onlinespenden einbrachte. "Nach dem Wahlkampf dachten wir uns, Howard Dean sollte wohl nicht gewinnen, aber was wir online gemacht haben, war zu groß, um es einfach aufzugeben", sagt Franklin-Hodge.

Die MyBO-Tools sind im Grunde nur eine aufpolierte Version der Technik, die schon bei Dean zum Einsatz kam, berichtet Zephyr Teachout, damals Deans Internet-Direktor und heute Gastprofessor an der Duke University: "Sämtliche Tools, die bei Obama verwendet werden, stammen von uns. Aber Blue State Digital hat eine Menge Arbeit hineingesteckt und aus unserer groben Sammlung ein komplettes Paket gemacht."

Blue State Digital hatte nur neun Tage für den Umbau der Website, bevor Obama am 10. Februar 2007 seine Kandidatur bekannt gab. Unter anderem ging es darum, auf hohe Zugriffszahlen vorbereitet zu sein. "Wir haben Prognosen gemacht für das Datenvolumen, Zahl der Beiträge und eingehender E-Mails, alles auf der Grundlage von Schätzungen von Leuten, die 2004 mit John Kerry und Dean gearbeitet hatten", erinnert sich Franklin-Hodge. Während Obamas Rede aber "sahen wir den Verkehr zunehmen und zunehmen". Schnell wurde klar, dass die frühen Annahmen deutlich zu niedrig lagen. Bis Juli 2008 hatten eine Million Online-Spender rund 200 Millionen Dollar für Obama gegeben, alle Quellen zusammen kamen bis Ende Juni auf 340 Millionen Dollar. MyBO allein verzeichnete laut Blue State Digital gut eine Million registrierte Nutzer und hatte bei der Organisation von 75000 lokalen Aktionen geholfen.

Um mehr Leute auf die Seite zu bekommen, wurde Obama außerdem in möglichst vielen Internet-Angeboten platziert. Sein Team stellte die Reden des Kandidaten online und verlinkte sie mit zusätzlichem Multimedia-Material von Anhängern. Ein Musikvideo des Rappers Will.i.am zu Obamas "Yes we can"-Rede wurde mehrfach auf YouTube veröffentlicht – allein die beiden beliebtesten Versionen kamen auf je zehn Millionen Abrufe. Bei Wahlkampf-Veranstaltungen forderten die Sprecher Besucher auf, per SMS ihre Kontaktinformationen zu schicken. Später bekamen die Interessierten dann regelmäßige Kurznachrichten. Außerdem gibt es Obama-Präsenzen auf Sozialnetz-Seiten wie Facebook und MySpace, und beim Microblogging-Dienst Twitter (s. TR 1/08) abonnierten 50000 Nutzer Obamas Updates. "Obamas Leute haben verstanden, dass die Anhänger die Botschaften selbst verbreiten, wenn sie auf den unterschiedlichen Plattformen zur Verfügung stehen", sagt Andrew Rasiej, Gründer der Politik-Website Personal Democracy Forum und ebenfalls ein Dean-Veteran.

Mithilfe von Webtechnik konnten Obamas Leute auch uralte Wahlkampfmethoden weitaus effektiver einsetzen. So etwa Massenanrufe: Über MyBO ließen sich die Listen in Tausende Stücke zerlegen, die jeweils ein Freiwilliger in einer oder zwei Stunden abarbeiten konnte. "Millionen von Anrufen" seien von Leuten übernommen worden, die über die Website rekrutiert wurden, sagt Franklin-Hodge, und überhaupt: "Diese Kampagne hat in jeder Hinsicht alles übertroffen, was es vorher gab. Wir haben alle möglichen Aktionen ermöglicht – E-Mails an Abermillionen Leute schreiben, Zehntausende Veranstaltungen organisieren." Der Schlüssel zum Erfolg liege darin, die Online-Aktivitäten eng mit Aufgaben in der echten Welt zu integrieren: "Ja, es gibt Blogs und E-Mail-Newsletter. Aber letztlich geht es darum, jemanden zum Spenden, zum Telefonieren, zum Briefeschreiben oder zu einer Party zu bewegen."

Auch die anderen Kandidaten mussten nicht auf Online-Hilfen verzichten. Und genau ihre Erfahrungen zeigen, dass es nicht reicht, etwas derart Nützliches zu haben – man muss es auch geschickt einsetzen. Laut Beobachtern hatte auch Hillary Clintons Team gute Werkzeuge, sah aber soziale Netze und andere neue Medien nicht als Kern seiner Strategie an; zumindest in den ersten Monaten habe Clinton eher auf große Veranstaltungen und Spendensammler gesetzt – immerhin gehörte sie ja zur Spitze des Partei-Establishments. Laut einer Auswertung des Center for Responsive Politics kamen bei Obama 48 Prozent aller Spenden durch Beträge unterhalb von 200 Dollar zusammen, bei Clinton nur 33 Prozent.

Clintons Internet-Direktor Peter Daou bescheinigt der Obama-Kampagne eine "hervorragende Leistung" bei der Nutzung ihres sozialen Netzes. "Wenn es Unterschiede in den Webstrategien der beiden Kampagnen gibt, dann liegt das an den unterschiedlichen Wählergruppen. Wir haben uns an eine andere demografische Zielgruppe gerichtet und deshalb unsere Mittel entsprechend eingesetzt", sagt er. So habe er für Clinton eine Präsenz auf dem Babyboomer-Sozialnetz Eons.com eingerichtet, und die Kandidatin selbst habe ihre Zuhörer häufig aufgefordert, ihre Website www.hillaryclinton.com zu besuchen. Für den Dean-Veteranen Rasiej allerdings ist dem politischen Establishment der Wert des Internets einfach noch nicht klar geworden: "In den Augen der einflussreichen politischen Kreise ist Howard Dean gescheitert. Also funktioniert auch das Internet nicht."

Es ist schwer zu sagen, welche Rolle das Web für Clintons Niederlage gespielt hat – und wie sehr andere Faktoren wie ihre Haltung zum Irak-Krieg oder die fast eine halbe Generation Altersunterschied zu Obama ausschlaggebend waren. Klar ist aber, sagt Deans früherer Kampagnen-Leiter Trippi, dass Clinton das Internet von vornherein vernachlässigte. Und auch mit den besten Techies sei kein Blumentopf zu gewinnen, wenn der Kandidat eine hierarchische Kampagne führen will.

Ein vernetzter Präsident?

Ähnlich John McCain. Im Jahr 2000 war er so etwas wie der Mann des Internets – nach seinem Vorwahlsieg gegen George W. Bush in New Hampshire bekam er online schnell eine Million Dollar an Spenden zusammen. Auch im vergangenen Jahr hat er mit neuen Medien experimentiert. So ließ er Videos wie "Man in the Arena", eine Hommage an seinen Kriegsdienst, drehen; auf YouTube erfreute sich der Beitrag großer Beliebtheit. Doch bei sozialen Netzen hat McCains Website den Anschluss verpasst. Als ich mich Ende Juni beim MyBO-Äquivalent McCainSpace anmelden wollte, kamen erste Fehlermeldungen. Später hieß es, mir werde in Kürze ein neues Kennwort geschickt. Ich warte bis heute noch.

McCains Team habe anscheinend nicht verstanden, wie weit gehende Änderungen im Kommunikationsverhalten es in letzter Zeit gebe, sagt David All, ein Berater für neue Medien bei den Republikanern: "Eine ganze Generation von jungen Leuten unter 25 ist ganz von E-Mails und sogar Facebook abgekommen; die meisten kommunizieren per SMS." All ist in dieser Hinsicht voll des Lobes für Obama: "Ich bekomme seine Nachrichten, und jede davon ist genau richtig. Sie sind nie sinnlos und immer lesenswert und fordern immer zum Handeln auf. Und welche SMS-Strategie hat John McCain? Keine."

Der nächste logische Schritt für MyBO ist jetzt, die Leute im November zur Wahl zu bewegen. In allen Lagern werden öffentliche Daten genauestens analysiert: Wer ist als Wähler registriert, und wer hat bei vergangenen Wahlen seine Stimme abgegeben? Obamas Wahlkämpfer werden in der Lage sein, diese Informationen mit den MyBO-Daten abzugleichen, wo sämtliche Aktivitäten der Mitglieder erfasst sind: jede Privatparty, jede Online-Verbindung, Datum und Höhe von Spenden. Rasiej ahnt, was dann kommt: Die treuen Wähler, die bei MyBO angemeldet sind, aber sonst kaum in Erscheinung treten, werden vermutlich in Ruhe gelassen. Die Aktivsten aber werden eingespannt, um gezielt die Unentschlossenen zur Urne zu treiben. "Je mehr Kontext die Leute vor Ort haben, desto besser werden die Ergebnisse", sagt Rasiej.

Wenn Obama die Wahl gewinnt, könnte seine auf das Web ausgerichtete Strategie auch seine Präsidentschaft prägen. So könnte er zum Beispiel seine Anhänger dazu anhalten, die Kongressabgeordneten mit Anrufen und E-Mails zu bombardieren oder über das Web kollektiv politische Fragen zu klären. "Mit Sicherheit werden die Verbindungen zwischen Barack Obama und seinen Anhängern und der Anhänger untereinander nicht am Wahltag enden", teilt dazu sein Wahlkampfteam mit, das für Interviews nicht zur Verfügung stand.

Ob nun ein Präsident Obama mit MyBO im Gepäck in den Westflügel des Weißen Hauses einzieht oder nicht: Fest steht, dass sich das Führen von Wahlkämpfen für immer verändert hat. "Wir kratzen gerade mal an der Oberfläche", sagt Trippi, "wir sind ganz aus dem Häuschen, weil sich eine Million Bürger angemeldet haben. Aber in den USA leben 300 Millionen Menschen. Soziales Networking steckt noch in den Kinderschuhen – nicht nur in politischer, sondern in jeder Hinsicht. 2012 wird es keine einzige Kampagne mehr geben, die ohne soziales Netzwerk auskommt."

Allerdings, so warnt Internet-Berater Lessig: Wenn Obama gewinnt, aber nicht wie versprochen auf der Grundlage von Offenheit und Wandel regiert, werden seine Fans bei den nächsten Wahlen vielleicht nicht mehr als Fußvolk dienen wollen. "Eine Sache haben die Obama-Leute nicht so richtig verstanden, nämlich dass die enorme Unterstützung auch daher kommt, dass Obama als jemand angesehen wird, der wirklich anders ist", sagt Lessig, "wenn er sich plötzlich benimmt wie jeder andere, wie viel bleibt von der leidenschaftlichen Unterstützung dann noch übrig?" (bsc)