Daten mit Schieflage

Pharmaunternehmen verschweigen ungünstige Ergebnisse von medizinischen Studien häufiger als bekannt, um Wirkstoffe besser erscheinen zu lassen als sie sind. Begleitend zur einem Artikel, der in der Januar-Ausgabe von Technology Review erscheint, dokumentieren wir hier den Mailwechsel zwischen Pfizer und TR-Autorin Nike Heinen als Fallbeispiel dafür, wie klare Antworten auch auf Recherche-Nachfragen immer wieder umschifft werden.

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  • Nike Heinen
Inhaltsverzeichnis

Pharmaunternehmen verschweigen ungünstige Ergebnisse von medizinischen Studien häufiger als bekannt, um Wirkstoffe besser erscheinen zu lassen als sie sind. Begleitend zur einem Artikel, der in der Januar-Ausgabe von Technology Review erscheint, dokumentieren wir hier den Mailwechsel zwischen Pfizer und TR-Autorin Nike Heinen als Fallbeispiel dafür, wie klare Antworten auch auf Recherche-Nachfragen immer wieder umschifft werden.

In dem Artikel "Falsches Spiel", der im Januar-Heft von Technology Review erschienen ist, beschreiben Heinen, in welchem Ausmaß ungünstige Ergebnisse von medizinischen Studien verschwiegen und zuweilen auch manipuliert werden. Diese Gepflogenheit bezeichnet man in Wissenschaftskreisen als "biased reporting" oder "publication bias".

Die Recherche hatte mehrere Dutzend Fälle zutage gefördert, bei denen Wissenschaftler in renommierten Fachzeitschriften Beweise für oder Hinweise auf solche Einflussnahmen vorgelegt hatten. Unter anderem wurde bekannt, dass der Pharmariese Pfizer unabhängigen Gutachtern den Zugang zu bestimmten, bisher unveröffentlichten Studiendaten verweigert hatte. Erst die Veröffentlichung dieses Vorwurfs führte dazu, dass die Forscher Material nachgereicht bekamen – wenn auch nicht unbedingt die vollständigen Daten.

Wir konfrontierten das Unternehmen mit den Vorwürfen – eigentlich um von ihm zu erfahren, warum es einige Daten zunächst, andere Daten auch später noch zurückgehalten hatte. Aber statt einer Erklärung dafür erreichten uns Stellungnahmen, die sich auf den ersten Blick so lasen, als ob das alles ganz anders gewesen sei. Dabei hatten sich die Anfragen der Prüfer und das Verweigern von Studienprotokollen durch die Pharmaunternehmen zuvor in aller Öffentlichkeit abgespielt.

Ein genauer Vergleich der Behauptungen mit den recherchierten Fakten ergab, dass sie ein Lehrstück dafür sind, wie eine Branche nüchterne wissenschaftliche Tatsachen durch Weglassen einzelner Daten in ihrem Sinne umdeutet. Normalerweise können wir aus solchen seitenlangen Stellungnahmen wenige Sätze zitieren, die den Kerngedanken der Entgegnung am besten wiedergeben. In dem Artikel "Falsches Spiel" haben wir das so gehalten.

Zusätzlich haben wir uns aber diesmal dazu entschlossen, unsere Anfragen und die Erwiderungen online weitgehend in voller Länge zu veröffentlichen. Das ist fair, weil Pfizer seine Position so ausführlich darlegen kann, wie es dem Unternehmen im Rahmen eines Artikels nicht möglich wäre.

Und es ist lehrreich für alle Patienten, weil sie sehen können, wie hoch die Kunst der scheinbar informierenden Desinformation bei jenen entwickelt ist, auf deren sauberen, transparenten und für unabhängige Überprüfungen offenen Umgang mit Studiendaten alle vertrauen, die Medikamente einnehmen.

Am 1.12.2010 bittet TR-Reporterin Nike Heinen das Pharmaunternehmen Pfizer zum ersten Mal um eine Stellungnahme. Es geht um den Vorwurf, den Wissenschaftler des Kölner Institutes für Qualität und Wirtschaftlichkeit (Iqwig) gegen die Pharmafirma erheben, ungünstige Studien ihres Antidepressivum Edronax (Wirkstoff: Reboxetin) bewusst zurückgehalten zu haben:

Sehr geehrter Herr Fensch,

ich bin Wissenschaftsjournalistin und arbeite gerade für das Magazin Technology Review an einem Artikel über „publication bias“. In diesem Zusammenhang hätte von Ihrem Unternehmen gerne eine Stellungnahme zu Ihrem Umgang mit den Forschungsergebnissen zur Wirksamkeit von Reboxetin. Ich beziehe mich dabei auf die Studien, die das Iqwig zu dem Thema veröffentlicht hat (unter anderem McGauran et al. In Trials 2010, 11:37).

  • Warum hat Ihr Unternehmen zunächst nur die Daten von 1600 untersuchten Probanden veröffentlicht, die Daten von 3000 Probanden aber zurückgehalten? Welche Rolle spielt dabei die Tatsache, dass die zurückgehaltenen Ergebnisse sowohl in Sachen Wirksamkeit als auch in Sachen Nebenwirkungen ein ungünstigeres Bild des Wirkstoffs zeichnen, als die zunächst zugänglich gemachten Daten?
  • Wer hat diese Verfälschung zu verantworten? Sind Konsequenzen (z.B. personeller Art oder in Form eines Unternehmens-Codex) gezogen worden? Wie rechtfertigen Sie es, ein Medikament vertrieben zu haben, dessen Zulassung auf geschönten Zahlen beruht?

  • Ist diese Vorgehensweise bei Pfizer üblich? Was sagen Sie zu der Schätzung des Iqwig, dass im Schnitt jede zweite Studie zur Wirksamkeit eines Medikamentes zurückgehalten wird?

  • Wie viel hat Pfizer seit der Zulassung von Reboxetin 1997 in Deutschland mit dem Mittel umgesetzt? Würden Sie sagen, dass sich das zurückhalten der ungünstigen Studienergebnisse für Sie rentiert hat?

  • Gibt es etwas, das Sie den Patienten sagen möchten, die jetzt erfahren haben, dass ihre Depressionen mit einem Präparat behandelt wurden, das im Schnitt (mit Ausnahme zweier kleiner Studien, eine stationäre, eine mit Nutzen bei der Rückfallprävention) nicht besser wirkte als ein Placebo?

Am 2.12. antwortet Christiane Fleiter, Senior Manager Communications bei Pfizer. Allerdings gibt sie keine konkrete Replik auf die einzelnen Fragen. Wir legten die Aussagen Dr. Thomas Kaiser vor, Leiter der Arzneimittelprüfung beim Iqwig und einer der Autoren der Reboxetin-Untersuchung. Seine Kommentare finden sich nach der jeweiligen Textpassage, auf die sie sich beziehen, in fett gedruckter Schrift.

Fleiter/Pfizer: "Generell gilt, dass Pfizer über die Ergebnisse klinischer Studien objektiv, wahrheitsgemäß, ausgewogen und vollständig berichtet, und zwar unabhängig von den konkreten Ergebnissen der jeweiligen Studie bzw. vom Land, in dem die Studie durchgeführt wurde. Bereits seit fünf Jahren veröffentlicht Pfizer alle weltweit durchgeführten Studien, deren Verläufe und deren Ergebnisse im Internet unter www.clinicaltrials.gov. Pfizer hat das als eines der ersten Unternehmen 2005 freiwillig umgesetzt – drei Jahre bevor es 2008 für amerikanische Unternehmen verpflichtend wurde.

Auf der Internetseite www.clinicaltrials.gov können Ärzte, Patienten, Angehörige und Forscher jederzeit Titel, Beschreibung, Phase, Typ, Status und Ziel von laufenden und abgeschlossenen Studien nachvollziehen und so die Entwicklung der Forschungsergebnisse verfolgen. Dass wir auch die Medien regelmäßig über Erfolge und auch Misserfolge unserer Studien informieren, können Sie im Presse-Bereich von pfizer.com nachvollziehen."


Dr. Thomas Kaiser (Iqwig): "Seit 2005 gibt es eine Selbstverpflichtung der pharmazeutischen Industrie. Darin formulieren die Unternehmen das Ziel, klinische Forschung transparent zu machen. Darüber hinaus verpflichten sie sich, Studien, die nach dem Datum der Vereinbarung abgeschlossen werden, zu veröffentlichen. Die Studien zu Reboxetin aber, die in die Bewertung eingeflossen sind, wurden vor 2005 abgeschlossen. Damit hat die Selbstverpflichtung zur Veröffentlichung für diese Studien nicht gegriffen. Aus unserer Sicht hätte aber die Selbstverpflichtung zur Verbesserung der Transparenz klinischer Studien dazu führen müssen, das Pfizer dem IQWiG auf Anfrage die Studien zu Reboxetin zur Verfügung stellt. Das ist trotz wiederholter Nachfrage erst nach der Veröffentlichung des vorläufigen Berichts und intensiver öffentlicher Diskussion geschehen."

Pfizer: "Sie beziehen sich in Ihrer Anfrage auf einen Artikel im British Medical Journal (BMJ) vom 13. Oktober 2010. Alle im BMJ-Artikel referenzierten Studien ab 2006 sind veröffentlicht und öffentlich zugänglich (www.clinicaltrials.gov)."

Kaiser: "Die Studien zu Reboxetin wurden aber zwischen 1996 und 2003 abgeschlossen, bleiben von dieser Aussage also unberührt. (siehe auch Tabelle 1, Spalte "Year of completion" in der BMJ-Publikation)."

Pfizer: "Die Informationen sämtlicher Studien sind in "peer-reviewed journals" zu finden."

Kaiser: "Ein Großteil dieser Studien wurde nicht in einer Form veröffentlicht, die ausreichende Informationen enthielt, um sie zu bewerten. Eine Studie kann nur dann für Aussagen zu einem Arzneimittel herangezogen werden, wenn Informationen zur Methodik und umfangreiche Ergebnisse vorliegen. In der Regel ist das nur der Fall, wenn eine sogenannte Primärpublikation vorliegt (für diese Primärpublikationen gibt es einen internationalen Standard, das sogenannte "CONSORT Statement", der die notwendigen Inhalte definiert). Im Fall von Reboxetin liegen für die Mehrzahl der Studien keine Primärpublikation beziehungsweise keine Primärpublikation mit adäquaten Daten vor. Das beschreiben wir auch in der BMJ-Publikation (Table 1, Spalte "Primary publication available").

Pfizer bezieht sich mit der Aussage vermutlich auf die Veröffentlichung von Ausschnitten von Daten in Sekundärpublikationen oder Konferenzabstracts, die keine CONSORT-gemäße Publikation darstellen. Wir haben bei unserer Recherche die "unveröffentlichten" Studien teilweise aus diesen Sekundärpublikationen identifiziert und beschreiben das auch so in unserem Bericht (Abschnitt 5.1.1 Ergebnis der Literaturrecherche, S. 31). In unserem Bericht in Tabelle 25 auf S. 55 benennen wir die verschiedenen Datenquellen zu den Reboxetin-Studien eindeutig und machen damit transparent, in welchen Fällen Teilinformationen öffentlich verfügbar waren."

Pfizer: "Auch wurden in Übereinstimmung mit den Regelungen der Zulassungsbehörden und dem geltenden Recht zum Zeitpunkt der Beantragung der Marktzulassung von Reboxetin sämtliche klinischen Daten vorgelegt. Der Artikel legt zudem nah, Reboxetin sei als Antidepressivum unwirksam und potenziell schädlich. Die von den Autoren des BMJ-Artikels gezogenen Schlussfolgerungen werden durch die vorgelegte Evidenz nicht gestützt. Unserer Auffassung zufolge sind der Artikel im BMJ und die daraus gezogenen Schlüsse fehlerbehaftet. Das Nutzen-Risiko-Profil von Reboxetin war für Arzneimittelbehörden weltweit der Grund, das Präparat von Pfizer zuzulassen."

Kaiser: "Diese Aussage ist nicht richtig. Die Zulassung von Reboxetin wurde 2001 von der US-amerikanischen Zulassungsbehörde FDA auf Basis der zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Daten verweigert. Diese Entscheidung wird in Publikationen beschrieben (siehe Zitate in der BMJ-Veröffentlichung). Im Anhang finden Sie darüber hinaus eine "Rapid Response" von Erik Turner zu der BMJ Publikation (Eyding et al. BMJ 2010;341:c4737). Erik Turner beschreibt, dass er an der Bewertung von Reboxetin bei der FDA mitgewirkt hat und bestätigt, dass Reboxetin nicht zugelassen wurde."

Pfizer: "Pfizer vertritt ebenso wie diese Arzneimittelbehörden die Auffassung, dass es sich bei Reboxetin um eine wirksame Therapieoption für Patienten handelt, die an einer akuten depressiven Erkrankung oder einer Major Depression leiden. Zwei aktuelle Studien stützen die Anwendung von Reboxetin: Eine Metaanalyse von Chuluunkhuu et al. kam zu dem Schluss, dass Reboxetin wirksamer ist als Placebo und dass zwischen Reboxetin und den selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRIs) und anderen Antidepressiva hinsichtlich der Wirksamkeit kein Unterschied besteht."

Kaiser: "Die Meta-Analyse von Chuluunkuhuu berücksichtigt ausschließlich publizierte Studien. Die Ergebnisse des Reviews bilden also den Publikationsbias ab."

Pfizer: "Außerdem wurde im Oktober 2009 von führenden Experten eine Studie im Fachjournal "The Lancet" veröffentlicht, in der Reboxetin aufgrund seiner Qualitäten in den Bereichen Sicherheit und Verträglichkeit als gute Alternative im Spektrum der derzeit verfügbaren Antidepressiva bezeichnet wurde."

Kaiser: "Es bleibt unklar, auf welche Studie sich Pfizer hier bezieht. Im Februar 2009 wurde im Lancet ein Review von Cipriani et al veröffentlicht, das 12 Antidepressiva, darunter auch Reboxetin, untersuchte. In dieser Arbeit (die in geringem Maße auch unpublizierte Daten einbezieht) kommen die Autoren zu dem Schluss, dass Reboxetin eine deutlich geringere Wirksamkeit aufweist als alle anderen untersuchten Antidepressiva und weniger gut vertragen wurde als viele der anderen untersuchten Antidepressiva."

Pfizer: "Erstattung von Reboxetin in Deutschland: Reboxetin ist ein älteres Präparat, das vor 13 Jahren für die Behandlungen von Depressionen zugelassen wurde. Es handelt sich um ein Nischen-Produkt, dessen Umsatz wir weltweit nicht gesondert ausweisen. Es wird heute bei etwa einem Prozent (1%) der Patienten in Deutschland eingesetzt, beispielsweise wenn Patienten andere Antidepressiva nicht vertragen oder eine Behandlungsresistenz gegenüber anderen Therapien vorliegt.

Für diesen Kreis von Menschen, die an einer Depression leiden, stellt Reboxetin eine wirkungsvolle Behandlungsoption durch den betreuenden Arzt dar. Aus diesen Gründen ist Pfizer bestrebt, Ärzten und Patienten Reboxetin für bestimmte Situationen als erstattungsfähige Behandlungsoption zu erhalten. Pfizer hat dies im März 2010 dem Gemeinsamen Bundesausschuss so dargelegt.

Der Gemeinsame Bundesausschuss hat sich dem angeschlossen: Im September 2010 hat der Gemeinsame Bundesausschuss dargelegt, dass Arzneimittel zur Behandlung der Depression mit dem Wirkstoff Reboxetin künftig nicht mehr zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verordnungsfähig sind. Der Gemeinsame Bundesausschuss kommt gleichzeitig zu dem Schluss, Reboxetin "in medizinisch gut begründeten Einzelfällen zur Verordnung zu Lasten der GKV zuzulassen.""


Kaiser: "Die Tatsache, dass Reboxetin "in medizinisch gut begründeten Einzelfällen zur Verordnung zu Lasten der GKV zuzulassen" ist, ist richtig. Das beruht aber nicht auf einer aktiven Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses für Reboxetin, sondern ist eine generelle Regelung, die für alle Erstattungsausschlüsse gilt. Laut Sozialgesetzbuch V können Arzneimittel, die von den Zulassungsbehörden für Deutschland zugelassen sind, vom Gemeinsamen Bundessausschuss aber aus der Erstattung in der Gesetzlichen Krankenkasse ausgeschlossen werden, immer in medizinisch gut begründeten Einzelfällen verordnet werden."

Pfizer: "Pfizer begrüßt diese Entscheidung, da sie der komplexen Behandlung von Depressionen in der Praxis Rechnung trägt. Das Krankheitsbild ist vielschichtig und erfordert oftmals exakt auf den Einzelfall abgestimmte Therapievarianten und -kombinationen. Dafür ist eine differenzierte Betrachtung erforderlich." (bsc)