Dein Handy fühlt mit

Forscher haben die Vision, eine drohende Depression frühzeitig zu erkennen. Helfen sollen ihnen die Daten der Smartphones.

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Von
  • Eva Wolfangel
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Die Vision von Rosalind Picard ist radikal – und gleichzeitig hoch spannend: "Wenn uns alle erdenklichen Daten über einen Menschen zur Verfügung stehen, sollten wir dann nicht Depressionen erkennen können – und zwar bevor sie ausbrechen?" Und was könnte besser diese Daten sammeln als jene Geräte, die wir ständig bei uns tragen?

Die Elektroingenieurin vom Massachusetts Institute of Technology untersucht seit vielen Jahren, wie Wearables verschiedenster Art Emotionen erkennen können. Doch nun verfolgt die Gründerin der Forschungsgruppe Affective Computing ein neues Ziel. "Mein Chef bat mich, eine Moodwatch zu bauen, die ihm die Stimmung seiner Frau verrät, bevor diese nach Hause kommt", erzählt sie lachend. Dadurch kam ihr eine Idee: Sollte man nicht über all die Daten mehr über die Stimmung eines Menschen herausbekommen und gefährliche Muster erkennen können, bevor die Person selbst sie bemerkt?

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Picard zeigt anhand zweier Kurven, wie das geht. Die Grafik dokumentiert Daten aus dem Leben zweier Probanden: Auf der X-Achse verläuft die Zeit, auf der Y-Achse die Stimmung. Die beiden Kurven laufen zunächst recht parallel, doch dann folgt ein Einschnitt: "Hier gibt es eine Krise", sagt Picard. Danach trennen sich die Kurven. Eine fällt steil ab, die Professorin hat sie rot eingefärbt. Die andere, blau, knickt nur kurz nach unten ein und gewinnt dann wieder zunehmend an Höhe, wenn auch etwas unterhalb des ursprünglichen Niveaus: "25 Prozent der Leute werden verwundbar durch eine Krise, die anderen sind resilient", sagt die Forscherin. Es wäre wertvoll, die Gründe für diese psychische Widerstandsfähigkeit zu kennen. In den westlichen Ländern steigt die Depressionsrate Picard zufolge an. Doch die Forscherin hält dagegen: "Es sieht so aus, als wenn Depressionen von Dingen im Leben verursacht werden, die man vielleicht ändern könnte."

Picards Ziel ist es daher, rechtzeitig Hilfe anbieten zu können, bevor Depressionen manifest werden. Aber was ist der richtige Zeitpunkt? Diese Frage treibt sie um. Denn fragt man die Betroffenen selbst, wissen sie keine Antwort. "Sie sagen dir: ,Ich hatte keine Ahnung, dass ich Hilfe brauche'", berichtet die Wissenschaftlerin. Picard versucht nun, schon vor dem Absturz der Kurve zu erkennen, wer später auf dem roten Pfad landen wird. Sie glaubt, das müsse mit "maschinellem Lernen", mit der "Macht der Analytik", möglich sein. "In Zukunft verhindern wir Depressionen anstatt sie nur zu behandeln."

Wer Picard kennt, weiß, dass sie alles daransetzen wird, dieses Ziel zu erreichen. Derzeit bearbeitet sie gerüchteweise Apple-Chef Tim Cook, um an die begehrten Daten der iPhones heranzukommen. Denn kaum ein anderes Gerät sammelt so viele Informationen über unser Leben, unsere Kommunikation und sogar unsere Art, uns zu bewegen.

In zahlreichen Experimenten untersucht die Forscherin schon einmal vorab, wie die Daten ihr Geheimnis preisgeben könnten. Dafür sucht sie nach aufschlussreichen Zusammenhängen, etwa zwischen der Leitfähigkeit der Haut und dem Ausmaß an Stress, zwischen Schlafstörungen und depressiven Phasen. Auch wie oft ein Nutzer Freunde anruft oder seinen Aufenthaltsort während des Tages wechselt – all diese Dinge können Informationen über seine Stimmung transportieren.

Trotzdem sind diese Korrelationen tückisch. Obwohl immer wieder erstaunliche Meldungen über entsprechende Forschungen bekannt werden, folgen die Rückschläge häufig auf den Fuß. So fanden Anmol Madan und Kollegen vom MIT bereits 2010 in einer der ersten Studien dieser Art heraus, dass sich Probanden in den Phasen trauriger fühlten, wenn sie seltener telefonierten, weniger SMS-Nachrichten schrieben und laut Bluetooth-Sensor sowohl weniger Kontakte hatten als auch seltener den Standort wechselten. Robert LiKamWa von der Rice University in Houston und sein Team kündigten 2013 sogar an, sie hätten mit "MoodScope" einen "Stimmungssensor" entwickelt, der Depressionen allein anhand der Benutzung des Smartphones erkennt.

Für die Studie füllten 32 Probanden zwei Monate hindurch täglich einen Fragebogen zu ihrer Stimmung aus und stellten zusätzlich ihre Smartphone-Daten zur Verfügung. Nach diesem Training erkannte das System den Forschern zufolge die aktuelle Stimmung mit einer Genauigkeit von 93 Prozent. Die Software verwendete dafür die Zahl und Länge der Anrufe, Textnachrichten und Mails, die Zahl der Apps und wie sie benutzt wurden, die Browser-Historie und die Orte, an denen sich Probanden aufhielten.

Doch als der niederländische Psychologe Joost Asselbergs die Studie 2016 mit Kollegen wiederholen wollte, fand er keine Zusammenhänge, die über den reinen Zufall hinausgingen. Auch eine weitere gängige Annahme mussten Forscher mittlerweile revidieren. Der Karlsruher Psychologe Philip Santangelo überprüfte, ob sich Patienten mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung tatsächlich nur in einem kleineren Radius bewegen. Als er jedoch Probanden mit einer App anhand von GPS-Tracking untersuchte, fand er keine großen Unterschiede zur Kontrollgruppe. Deshalb warnt David Mohr vom Department of Preventive Medicine der Chicagoer Northwestern University: "Auch wenn verschiedene kleine Studien gezeigt haben, dass Stimmungserkennung über solche Daten möglich ist, scheinen die Ergebnisse nicht generalisierbar zu sein."

Aufgeben wollen die Depressionsforscher dennoch nicht – auch nicht Mohr. Mut macht ihnen, dass die Daten durchaus Muster zeigen, diese aber nicht so einfach zu erkennen sind wie gedacht. Ein gutes Beispiel ist der Zusammenhang zwischen GPS-Daten und Depressionen, wie Mohr in einer Übersichtsstudie nahelegt. "Er ist stärker an Nicht-Arbeitstagen", so der Forscher. Zudem sei gerade nicht die Vielzahl der Orte, die ein Nutzer besuche, relevant, sondern es seien vielmehr die Muster in der Zeit, die diese dort verbringen. Mohr nennt das Orts-Entropie: "Je gleicher die Zeitverteilungen an den jeweiligen Orten sind, umso weniger sind diese mit Depressionen verbunden." Wer zufrieden ist, scheint nicht großartig von den gewohnten Bahnen abzuweichen.

TR 11/2017

(Bild: 

Technology Review 11/2017

)

Dieser Artikel stammt aus der neuen November-Ausgabe von Technology Review. Das Heft ist seit 12. Oktober im Handel erhältlich und im heise shop bestellbar.

Als Antwort auf Erkenntnisse wie diese suchen die Wissenschaftler nach weiteren Parametern und hoffen, mit mehr Daten ein besseres Bild zu erhalten. Margaret Mitchell von Google Research und der dänische Computerlinguist Dirk Hovy etwa zeigten dieses Jahr, dass man allein aus Social-Media-Texten Depressionen und Selbstmord-Risiken einzelner Nutzer herauslesen kann. Hong Lu vom Intel Lab im kalifornischen Santa Clara testete dazu Sprachanalysen. Gemeinsam mit einem Team hat er einen Klassifikator namens "StressSense" entwickelt. Er greift auf das Mikrofon von Android-Handys zu. Untersucht wird, wie sich die Stimme der Nutzer in Unterhaltungen verhält. Da Tonhöhe und Sprechgeschwindigkeit zum Beispiel mit Stress korrelieren, erkannte das System solche Gemütslagen mit einer Genauigkeit zwischen 76 (im Freien) und 81 Prozent (in geschlossenen Räumen).

Damit stellt sich jedoch die Frage, ob Nutzer eine derart weitreichende Überwachung akzeptieren – nur aus dem Verdacht heraus, vielleicht an einer Depression zu erkranken. "Das eingebaute Mikrofon zu nutzen, erscheint aus analytischer Perspektive durchaus vielversprechend", kommentiert Mohr. "Aber es wirft ethische Fragen auf." Das wissen auch Mitchell und Hovy. Ihre Forschung zu Social-Media-Texten versahen sie extra mit einem Disclaimer: Sie seien sich bewusst, dass die Methode genutzt werden könne, um Menschen auszugrenzen.

Praxisnäher könnte daher ein anderer Ansatz sein: Wenige gezielte Sensordaten zu erheben und sie mit einer Selbstauskunft der Nutzer kombinieren. Der Karlsruher Santangelo beispielsweise forscht gerade an einer automatischen Erkennung der Borderline-Störung. "Menschen sind schlecht darin, einzuschätzen, wie stark ihre Stimmung in den vergangenen Wochen geschwankt ist", so der Psychologe. Deshalb arbeitet er mit einer App, die Probanden zwölfmal am Tag fragt, wie es ihnen gerade geht. "Je instabiler jemand ist, umso höher ist die Gefahr der Selbstverletzung." Kombiniert mit Sensordaten, die beispielsweise verraten, wie viel sich jemand bewegt oder ob er regelmäßig mit anderen kommuniziert, kann eine recht genaue Vorhersage einer Krise möglich werden. Nun könne bei Gefahr entweder eine Nachricht an den behandelnden Arzt geschickt werden oder eine entsprechende Botschaft an den Patienten, die ihn aufbaue.

(bsc)