Der Futurist: Berechenbar

Was wäre, wenn eine KI Bundeskanzler wäre?

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 1 Kommentar lesen
Der Futurist: Berechenbar

(Bild: Mario Wagner)

Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Jens Lubbadeh

David Demain hörte die Haustür zufallen. Dann eine Zimmertür. Dann lange nichts mehr. Merkwürdig.

"Sophia?", rief er in den Flur. Keine Antwort.

Es war Freitagmittag, normalerweise kam seine Tochter nur kurz vorbei, um ihr Plakat zu holen mit dem Schriftzug "Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!"

"Sophia?" David klopfte an ihre Tür. Als er wieder nichts hörte, öffnete er. Seine Tochter lag auf dem Bett. "Papa, lass mich bitte schlafen. Ich hab gleich wieder Schule."

"Gehst du nicht zur Demo?", fragte David verwirrt. Sie sah ihn genervt an. "Nein, wieso? Die BundesKInzler*in hat doch gerade die Klimaschutzgesetze verabschiedet."

Wow, dachte David. Die Wahl war gerade vier Wochen her. Die KI verlor keine Zeit.

Er hätte niemals gedacht, dass er mal bei einer Partei sein Kreuzchen machen würde, die mit einer Software als Kanzlerkandidat ins Rennen ging. Aber nach dem Abgasskandal, den Affären, den Rücktritten und vor allem dem Stillstand im Klimaschutz hatte David genug von Politikern. Die Datenpartei schien eine wohltuende Abwechslung, trotz ihres drögen Slogans: "Für Mensch und Klima. Lobbyfrei, evidenzbasiert, langfristig".

Der Futurist

(Bild: 

Mario Wagner

)

"Was wäre, wenn ...": TR-Autor Jens Lubbadeh und die Redaktion lassen in der Science Fiction-Rubrik der Kreativität ihren freien Lauf und denken technologische Entwicklungen in kurzen Storys weiter.

Die KI namens "Deep Deutschland" versprach ein sogenanntes Best of der Weltpolitik. Sie analysierte alle Gesetzesinitiativen, die je irgendwo in Kraft getreten waren. Nur was sich langfristig bewährte, übernahm sie, ohne Rücksicht auf Egos, Ideologien oder Lobbyisten.

Und so betraten die Deutschen bei der Bundestagswahl im Herbst 2021 Neuland, als sie als erste Nation der Welt eine Software zum Regierungschef wählten. Bald sprach jeder nur noch von der BundesKInzler*in.

Sechs Monate später, der Frühling 2022 war heiß. David und Andi standen an der Supermarktkasse und hatten Würstchen, Steaks und Fleischspieße auf dem Band. Aber die Kassiererin sah sie nur entgeistert an.

"Das darf ich Ihnen heute nicht verkaufen."

"Wie bitte?", fragte Andi.

"Heute ist Freitag. Veggie Day."

Andi explodierte. "Diese verdammte Software! Wie unmenschlich soll das alles noch werden?"

Kohleausstieg, CO2-Steuer, Tempolimit, Citymaut, ja sogar das Flugmeilen-Konto hatten die Deutschen klaglos zum Wohle des Klimas erduldet. Aber als die BundesKInzler*in auch noch den Fleischausstieg verordnete, um das Land in fünf Jahren klimaneutral zu machen, hatte sie sich verrechnet. Es hagelte Proteste. Auch der Koalitionspartner spielte nicht mit. Beim Veggie Day waren die Grünen gebrannte Kinder. Sie stiegen aus der Koalition aus. Kompromisse mit irrationalen Menschen einzugehen, hatte die KI nicht gelernt. Die Folge: Neuwahlen.

David schaltete den Fernseher ein. Seit Wochen liefen Werbespots, gefühlt nur noch von der Datenpartei: "Alle kümmern sich ums Klima, um Zuwanderer, um Europa – und wer kümmert sich um Sie?" – "Wir wollen für Sie mehr Netto vom Brutto am Monatsende. Deswegen werden wir die Steuern halbieren." – "Wir wollen, dass Ihre Kinder in Sicherheit aufwachsen. Deswegen werden wir die Grenzen sichern." – "Haben Sie nicht längst genug für andere getan? Zeit, etwas für Sie zu tun."

David traute seinen Augen nicht. Die KI hatte ihre Lektion gelernt. Das neue Programm hieß offenbar: Best of Populismus.

Die Rechnung ging auf. In Umfragen lag die Datenpartei schon bei über 50 Prozent. Mit der absoluten Mehrheit würde die KI endlich durchregieren können – ohne menschliches Störfeuer.

(jlu)