Der Futurist: Die beste Game Engine

Was wäre, wenn wir unsere Träume beeinflussen könnten?

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Die Stadt, die angeblich nie schläft, schläft. Nur ein paar verhuschte Gestalten hetzen über den Times Square, die Leuchtreklamen sind heruntergedimmt, die letzten Deli-Läden schließen. Dabei ist es erst neun Uhr abends. Doch die New Yorker haben Besseres zu tun, als dem Leben hinterherzuhetzen: Sie gehen frühzeitig ins Bett, um zu träumen – intensiv, mitreißend und vor allem: interaktiv.

Möglich macht dies das neue Gadget eines Berliner Start-ups, das für eine Milliardensumme von Facegoog übernommen wurde. Es sieht aus wie eine VR-Brille der späten 2010er-Jahre plus ein paar Elektroden zur Messung der Hirnwellen. Wenn sie Anzeichen von REM-Schlaf entdeckt, gibt die Schlafmaske vorher eingestellte Töne oder Lichtsignale von sich. So weiß der Träumer, dass er träumt, und kann den Verlauf selbst beeinflussen.

Der Futurist

(Bild: 

Mario Wagner

)

"Was wäre, wenn ...": TR-Autor Jens Lubbadeh und die Redaktion lassen in der Science Fiction-Rubrik der Kreativität ihren freien Lauf und denken technologische Entwicklungen in kurzen Storys weiter.

Schon seit Langem gibt es Menschen, welche die Handlung ihrer Träume selbst bestimmen können, ohne aufzuwachen. Das erforderte allerdings ein gewisses mentales Training, weshalb das "luzide" Träumen nie zum Volkssport wurde. Doch mit dem neuen Gadget kann nun jeder zum Klarträumer werden. Zudem gehen die Geräte weit über das hinaus, was sich mit mentalen Techniken erreichen lässt. So messen sie die Hirnwellen nicht nur, sondern stimulieren ihrerseits das Gehirn mit milden Stromstößen. Selbstlernende Algorithmen optimieren das Feedback, um das Belohnungszentrum des Hirns anzuregen – wie eine chemische Droge, aber legal und ohne pharmakologische Nebenwirkungen.

Ursprünglich diente die Technik dazu, Albträume zu behandeln. Doch schnell sprach sich herum, dass sie nie geahnte Erlebnisse im Schlaf ermöglichte. So bizarr die Geschichten auch waren, sie fühlten sich echt an und hatten alle ein Happy End. Das menschliche Gehirn war halt immer noch die beste Game Engine von allen.

Mitte der 2020er-Jahre hatten sich die Schlafbrillen nahezu flächendeckend überall auf der Welt verbreitet, von New York bis Nowosibirsk. Metropolen und Dörfer waren wie ausgestorben, weil die Menschen es nicht abwarten konnten, sich in ihre Traumwelten zurückzuziehen. Verstärkt wurde diese Flucht ins Bett noch durch die Entwicklung eines neuen Schlafmittels, das beliebig lange REM-Phasen ermöglichte. Viele wachten nur noch auf, um zu arbeiten und etwas Nahrung zu sich zu nehmen. Die Realität war einfach nicht mehr konkurrenzfähig.

Und sie hatte immer weniger Chancen aufzuholen. Das soziale Leben brach zusammen, Kneipen machten dicht und Kinos pleite. Auch in der Wirtschaft breitete sich eine zunehmende Antriebslosigkeit aus. Wozu noch um eine Beförderung oder eine Gehaltserhöhung kämpfen, wenn man jede Nacht Diktator, Milliardär oder beides sein kann? Außerdem zeigte sich, dass die Elektrostimulation doch nicht völlig frei von Nebenwirkungen war: Unter dem neuronalen Dauerfeuer litt das Kurzzeitgedächtnis. Einige Traumjunkies verhungerten fast, weil sie ständig vergaßen einzukaufen – und die Pizzaboten zwischendurch ebenfalls gern ein Nickerchen einlegten.

Nur einer schlief nicht: Nwankwo Agali aus Lagos. Er programmierte einen Virus, der den Schlafenden durch sublimale Signale eintrichterte, gegenüber dem nächsten nigerianischen Bettelbrief etwas aufgeschlossener zu sein. Der Virus konnte sich problemlos um die Welt ausbreiten, weil sämtliche Antiviren-Hersteller es schlicht verpennt hatten, neue Updates einzuspielen.

(grh)