Der Futurist: Gemüse für alle

Was wäre, wenn wir plötzlich alle gegen Fleisch allergisch würden?

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 2 Kommentare lesen
Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Inge Wünnenberg

Wer hätte gedacht, dass den Menschen Fleischgerichte einmal zum Halse raushängen würden – und zwar wirklich allen? Erst war den Leuten übel, und sie hatten Bauchweh. Dann bekamen sie Flecken auf der Haut und litten unter Erstickungsanfällen. Schon bald merkten die Betroffenen, dass die Symptome verblassten, wenn sie Fleisch mieden: keine Steaks mehr, keine Bratwurst, keine Hamburger. Bye-bye, Barbecue!

Immer mehr Menschen lebten von heute auf morgen fleischabstinent. Schweine und Rinder in den Mastbetrieben fanden plötzlich keine Abnehmer mehr. Es bahnte sich die schlimmste Katastrophe für die Viehbauern an, seit der Mensch sesshaft geworden war. Vegetarier und Veganer dagegen freute, dass sich quasi der gesamten Menschheit schon bei dem Gedanken an den Verzehr von Fleisch der Magen umdrehte.

Der Futurist

(Bild: 

Mario Wagner

)

"Was wäre, wenn ...": TR-Autor Jens Lubbadeh und die Redaktion lassen in der Science Fiction-Rubrik der Kreativität ihren freien Lauf und denken technologische Entwicklungen in kurzen Storys weiter.

Dann aber begannen die Probleme. Das kleinste war noch, dass sich in den Supermärkten die unverkauften Fleischprodukte auftürmten. Sie ließen sich einfach abtransportieren und vernichten.

Als die Regierung jedoch Massenschlachtungen für die Nutztiere in den Mastbetrieben ankündigte, bildete sich eine breite Protestfront. Schließlich lebten allein in Deutschland 81,5 Millionen Schweine, Hühner, Rinder und Schafe – auf jeden Einwohner ein Tier. Viele erinnerten sich noch an die brennenden Kadaverberge während des BSE-Skandals in Großbritannien. Solche Bilder wollte niemand mehr sehen.

Tierschützer befreiten die Todgeweihten aus den Ställen. So bevölkerten sich Almen und Auen mit vagabundierenden Rinderherden und die Moorlandschaften mit Schweinerotten. Herrenlose Tiere trotteten durch die Städte und brachten immer wieder den Verkehr zum Erliegen. Sie fraßen sich durch sämtliche Vorgärten und die Ernte auf den Feldern.

Um der Probleme Herr zu werden, verpflichtete das Landwirtschaftsministerium jeden Haushalt, mindestens eine Kuh zu übernehmen – oder alternativ den Gegenwert an Hühnern, Schafen und Schweinen. Jedenfalls so lange, bis sich das Problem biologisch lösen würde.

Die Tiere wurden einquartiert, wo Platz und Gras als Futter vorhanden waren. Den Rasen zu mähen, wurde den Bürgern mit sofortiger Wirkung per Dekret verboten. Wer keine Grünfläche hatte, musste eine Abgabe zahlen, um die Versorgung der Tiere an anderer Stelle zu gewährleisten.

Sekten aus ehemaligen Fleischliebhabern gründeten sich und sprachen von Gottes Strafe. Er habe den radikalen Tierschützern einen Denkzettel erteilen wollen. Denn obwohl den Menschen nun theoretisch die Felder für ihre Ernährung mit Gemüse, Getreide- und Sojaprodukten zur Verfügung standen, waren Lebensmittel erst einmal äußerst knapp. Denn die Tiere kannten keine Hemmungen.

So war die Trauer der Sektenanhänger umso größer, als ein großes Labor die Ursache der seltsamen Fleischunverträglichkeit entdeckte. Es stellte sich heraus, dass Zecken durch ihre Bisse die Fleischallergie auslösen. Seitdem beten die unfreiwilligen Abstinenzler um ein Gegenmittel. Aber eine Therapie ist bis heute nicht in Sicht.

Das ist jetzt fünf Jahre her. Die Tierpopulationen haben hat sich mittlerweile zwar reduziert, weil viele Stalltiere dem Leben in freier Wildbahn zum Opfer gefallen sind. Die Fleischesser-Sekten treten aber immer missionarischer auf, zu ihren "Glorificatio Carnis" genannten Fürbitten kommen die Menschen zu Hunderttausenden.

Alte Räucherschinken aus der Zeit vor der Epidemie werden in Schreine verpackt und als Reliquien herumgereicht. Auf den Almen aber stehen die Rinderherden, käuen wieder und scheinen sich irgendwie zu freuen. (inwu)