Der Mann, der den Alkohol zähmt

David Nutt war der oberste Drogenberater der britischen Regierung. Aber die Ansichten des Psychoneuropharmakologen waren zu extrem. Jetzt arbeitet der Wissenschaftler an einem Alkoholersatz.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 4 Kommentare lesen
Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler
Inhaltsverzeichnis

"Ich hoffe, Sie mögen Bourbon", sagt David Nutt und reicht mir ein Glas mit einer gelblich-braunen Flüssigkeit auf Eis. Der Whiskey schmeckt weniger stark nach Alkohol als erwartet. Das hat mehrere Gründe. Erstens ist gar kein Alkohol drin. Es ist laut Nutt ein sogenannter Alcosynth, der nur die angenehmen Effekte von Alkohol auslösen und selbst in größeren Mengen nicht schaden soll. Auch Schwindel, Übelkeit und der Kater sollen damit weitgehend der Vergangenheit angehören. Zweitens ist der Drink noch nicht fertig, Nutt feilt noch an den Alcosynths herum. Mit ihnen möchte der Psychiater und Psychopharmakologe, der am Imperial College London das Institut für Neuropsychopharmakologie leitet, die Trinkgewohnheiten der kommenden Generationen verändern.

Wir sitzen im Wohnzimmer seines großen Landhauses im 16000-Einwohner-Ort Keynsham, zweieinhalb Autostunden westlich von London, in dem Nutt mit seiner Frau, einem seiner vier Kinder und zwei Hunden lebt. Er hat frei, denn er arbeitet nur noch drei Tage die Woche im Imperial College. Trotzdem sei er produktiver denn je, sagt er. Müsste der synthetische Bourbon aber nicht stärker schmecken, damit ihn die Konsumenten später einmal akzeptieren? Schließlich hat man durch vegane Burger gelernt, dass viele zwar auf Fleisch verzichten wollen, nicht aber auf den gewohnten Geschmack und Biss.

TR 5/2017

"Sie schmecken nie wirklich den Alkohol, sondern immer das Aroma", entgegnet Nutt. Bei anderen Alcosynths hätten die Testpersonen oft nicht erkannt, dass sie einen alkoholfreien Cocktail trinken. Der Forscher ist sich jedoch bewusst, dass er nicht jeden überzeugen kann. Erfahrene Trinker würden den Unterschied wohl merken. "Wir versuchen gar nicht, Alkohol komplett zu ersetzen", sagt er. "Wir wollen jenen eine Alternative bieten, die gesünder leben wollen." Aber bis zur Marktreife "braucht es noch einiges an Forschung", räumt Nutt ein.

Er würde sehr viel dafür geben, dass es glückt. "Alkohol ist für rund 3,3 Millionen vorzeitige Todesfälle im Jahr weltweit verantwortlich", sagt Nutt. Das sind laut Weltgesundheitsorganisation WHO rund 5,9 Prozent aller Tode; an den Folgen des Tabakkonsums sterben jährlich etwa sechs Millionen Menschen. Der 66-Jährige mit dem dünnen Schnauzbart wirkt jünger, als er ist. Er wird während des Gesprächs nie laut, als wolle er keine Energie darauf verschwenden, sich aufzuregen. Trotzdem wird klar, wie sehr ihn das Thema umtreibt: die Menschen, deren Leben Alkohol zerstört. Die Regierung, die nichts dagegen unternimmt. Die Getränkeindustrie, die Folgeerscheinungen als Schwäche von wenigen Anfälligen herunterspielt. Laut Nutt hat die Branche aus den Fehlern der Zigarettenindustrie gelernt und räumt ein, dass Alkohol süchtig machen und schaden kann. Aber nach wie vor predige sie: Wer verantwortlich damit umgehe, schade weder sich noch anderen.

David Nutt sieht das anders, und den Grund dafür führt er auf seinen ersten Abend an der University of Cambridge zurück. Als frischgebackener Medizinstudent ging er mit acht Kommilitonen feiern. Drei von ihnen betranken sich so stark, dass sie ganz andere Menschen wurden. Er war entsetzt und fasziniert zugleich: "Was passiert dabei im Gehirn?" Inzwischen forscht er seit mehr als 40 Jahren über die Macht von Alkohol und anderen Drogen.

Seine Ergebnisse waren nicht immer willkommen. 2009 wagte er die These, dass die Partydroge Ecstasy nicht gefährlicher als Reiten sei. Einige Monate später feuerte der damalige Innenminister Alan Johnson ihn dann als Leiter des Beratungsgremiums für Drogenmissbrauch der britischen Regierung.

Der Anstoß zum Vergleich kam von einer seiner Patientinnen: Sie hatte von einem Reitunfall schwere Kopfverletzungen und Persönlichkeitsveränderungen davongetragen. Nutts wissenschaftliche Neugier war geweckt. Er wollte wissen, wie schädlich die als so gesund geltende Sportart ist. Seine provokante Rechnung ging so: Beim Konsum von 60 Millionen Ecstasy-Pillen im Jahr komme es nur in jedem zehntausendsten Fall zu schwerwiegenden gesundheitlichen Schäden. Beim Reiten veranschlagte Nutt, dass es in Großbritannien bei jährlich etwa zwei Millionen Reitstunden schon alle 350 Stunden zu schweren Schäden komme.

Er wollte damit kritisieren, dass Großbritannien Drogen nicht anhand wissenschaftlich belegbarer Schäden klassifiziert, sondern den Besitz und Verkauf von unterschiedlich schädlichen Drogen gleich hart bestraft. Denn der Mediziner bezweifelt die Macht der Abschreckung und plädiert für Strafen, die sich nach dem Schadenspotenzial richten. Ob eine Substanz abhängig macht oder nicht, ist für ihn zweitrangig. Wichtig sei, welche Gesundheitsschäden der Missbrauch nach sich ziehe und was mehr Leben koste.

Seine Antwort gibt Nutt im 2012 auf Englisch erschienenen Buch "Drugs – Without the Hot Air" (Drogen ohne die heiße Luft) am Beispiel Ecstasy. Das frühere Psychotherapie-Medikament wurde wegen seiner chemischen Ähnlichkeit mit Psychedelika wie LSD verboten, obwohl es nur selten diese Wirkung hat. Es kann laut Nutt durchaus psychisch abhängig machen, verursache aber keine körperlichen Entzugserscheinungen und mache im Gegensatz zu Alkohol nicht aggressiv. Aufgrund der aufputschenden Wirkung kam es bei Clubgängern in Mode, zog aber aufsehenerregende Todesfälle nach sich. Sie gingen jedoch Nutt zufolge meist nicht direkt auf Ecstasy zurück, sondern waren während der durchtanzten Wochenenden die Folge von Dehydrierung und Überhitzung in schlecht belüfteten Discos. Als die Clubs Wasser und Räume zum Abkühlen zur Verfügung stellten, sank die Zahl der Todesfälle deutlich.

Trotzdem ordnet Großbritannien Ecstasy bis heute auf einer Stufe mit Heroin und Kokain in die gefährlichste Drogenkategorie ein. Nutts Beratungsgremium empfahl mehrfach eine Herabstufung, biss bei der Regierung allerdings auf Granit. Denn Drogen gelten in der britischen Gesellschaft nicht nur als schädlich, sondern auch als hochgradig verwerflich. Dass diese moralischen und gesetzlichen Maßstäbe aber für Alkohol nicht gelten, dahinter sieht Nutt die mächtige Alkohollobby am Werk. Sein Fachkollege Jan van Amsterdam von der Universität Amsterdam sieht die Lage nicht ganz so dramatisch. Er hat eine große EU-Studie nach dem Vorbild von Nutt über die Risiken verschiedener Drogen geleitet. Der niederländische Psychiater glaubt zwar, dass man beim Alkohol mit Regulierung und sozialer Kontrolle ziemlich gut hinkomme. Trotzdem teilt er Nutts grundsätzliche Überzeugung: Aufgrund des breiten Konsums bleibe Alkohol ein großes Problem.

"Ein Alkoholverbot würde allerdings nichts bringen", gibt Nutt zu. Also will er einen Ersatz entwickeln, der Spaß ohne Folgen bedeutet. Wie aber soll das gehen? Nutt versucht, nur die gewünschten Schaltkreise im Gehirn anzusprechen. Der Clou seiner Substanzen sei, dass sich ihre Wirkung mit steigendem Konsum nur bis zu einem bestimmten Niveau verstärke. "Diesen Plateau-Effekt erreichen wir durch sogenannte Partialagonisten", erklärt Nutt. "Sie setzen an denselben Rezeptoren an wie Alkohol, lösen aber nicht den maximalen Effekt aus."

Mehr chemische Details will der Wissenschaftler nicht preisgeben. Denn wenn das Produkt fertig ist, will er es verkaufen. Nach zehn Jahren Forschung hat er Ende 2016 das Start-up Alcarelle gegründet. Experten aus der Wirtschaft helfen ihm bei der Vermarktung, denn "ich bin offensichtlich kein Geschäftsmann", sagt er schmunzelnd. Sein Job ist es, aus den fünf Substanzen, die von mehr als 80 getesteten Varianten noch im Rennen sind, diejenige zu finden, deren Wirkung Alkohol am nächsten kommt. Diese muss sich dann in teuren Lebensmittel-Sicherheitstests bewähren.

Alcarelle wird kein eigenständiges Produkt sein, sondern eine Basiszutat für die Getränkeindustrie – ähnlich wie der Süßstoff Stevia. Was den Erfolg betrifft, gibt sich Geschäftsführer David Orren optimistisch: "Das öffentliche Interesse war nach Presseberichten jedes Mal groß. Wir wurden mit E-Mails überschüttet." Der stetig wachsende Markt für alkoholfreie Biere oder zuckerfreie Süßwaren stimmt ihn hoffnungsvoll, dass es noch Platz für weitere alkoholfreie Produkte gibt. Große Getränkehersteller hätten bereits Interesse signalisiert.

"Ich wünsche mir, wenn die Leute das statt Alkohol trinken und keine schlechten Erfahrungen damit machen, dass sie es vielleicht wirklich bevorzugen", sagt Nutt. Aber er weiß, wie lang der Weg bis dahin sein kann. Allein die gesetzlichen Hürden sind immens. Seine Erfahrungen mit anderen Substanzen haben den Psychopharmakologen zum gebrannten Kind gemacht. Nutts Institut hat als eines von wenigen weltweit Patienten mit behandlungsresistenter Depression Psilocybin gegeben, um dessen Sicherheit zu testen – mit bemerkenswerten Ergebnissen, die 2016 veröffentlicht wurden.

Psilocybin ist der Wirkstoff aus "Magic Mushrooms". Eine einzige niedrige Dosis führt zu einem mehrstündigen Trip, befreite aber ein Drittel der Teilnehmer für sechs Monate von den Beschwerden. Sie berichteten zwar über Angstgefühle während des Trips, schwere Nebenwirkungen gab es aber keine. Beinahe wäre es allerdings nicht zu dieser Entdeckung gekommen. "Psilocybin wird wie Plutonium behandelt und ich wie ein Drogendealer", beschreibt Nutt den Beschaffungsprozess. "Die Regularien sind so irre, dass diese Art Forschung fast unmöglich ist." Der Wissenschaftler hatte Fördermittel für drei Jahre erhalten. 32 der kostbaren 36 Monate musste er für das Einholen einer speziellen Erlaubnis opfern.

Großes Potenzial im medizinischen Bereich sieht Nutt für Psilocybin und LSD darüber hinaus in der Suchtbehandlung sowie im Falle von Ecstasy bei posttraumatischem Stress. Daher kämpft er für die Enttabuisierung dieser Drogen. Wenn ihr medizinischer Einsatz gefahrlos möglich sei, zum Beispiel in niedrigen Dosen, sollten sie seiner Meinung nach zugelassen werden. Deutschland sei mit der Freigabe von Cannabis für die Schmerzbehandlung von Schwerkranken und in der Palliativversorgung auf dem richtigen Weg.

Die häufig geäußerte Befürchtung, Cannabis sei eine Einstiegsdroge, lässt der Wissenschaftler nicht gelten. "Die meisten Konsumenten machen nicht mit harten Drogen wie Heroin weiter", sagt er. Wenn doch, dann deshalb, weil das Cannabis von einem Dealer kam, der seine Kunden bewusst angefüttert hat. "Genau deshalb wurden in Holland die Coffee Shops eingerichtet, um die Märkte für Cannabis und harte Drogen voneinander zu trennen – mit gutem Erfolg", sagt Nutt. Dem stimmt auch Jan van Amsterdam zu. Bei medizinischen Anwendungen wäre diese Trennung sogar noch rigoroser.

Nutt hofft, dass es für die nächsten Generationen nicht nur in der Drogenpolitik zu vernünftigen Änderungen kommt. Sondern dass sie auch seinen Alkoholersatz goutieren. Mein Glas Bourbon hat zwar keinen großen Effekt gehabt. Aber Nutt versichert, dass ich nach fünf weiteren Drinks verstehen würde, wie groß der Unterschied gegenüber echtem Whiskey sei. "Sie wären nach dem sechsten Bourbon total betrunken. Nach sechs Alcosynths aber nur ziemlich happy."

(bsc)