Die Rückeroberung des Internets

Um der Datenflut Herr zu werden, beschränken nicht nur Staaten, sondern zunehmend auch Konzerne den Zugang zum Netz. Als Gegenreaktion bauen Pioniere weltweit ein eigenes, unzensierbares Web auf – gefördert von der EU. Nun springen erste Unternehmen auf die Idee auf.

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Inhaltsverzeichnis

Um der Datenflut Herr zu werden, beschränken nicht nur Staaten, sondern zunehmend auch Konzerne den Zugang zum Netz. Als Gegenreaktion bauen Pioniere weltweit ein eigenes, unzensierbares Web auf – gefördert von der EU. Nun springen erste Unternehmen auf die Idee auf.

Der Justiziar lächelt. Lächelnde Juristen machen mich nervös. Ich wiederhole meine Frage: "Wie viel ist da maximal drin?" "Ach", sagt er, "vielleicht 750 Euro. Allerdings pro Abmahnung. Am Ende können es durchaus zehn Abmahnungen werden. Das ist noch nicht die Obergrenze."

7500 Euro. Wenn ich Pech habe, muss ich 7500 Euro zahlen. Dabei will ich doch nur ein bisschen Internet verschenken. Ein offenes WLAN-Netz betreiben, damit jeder, der vorbeikommt, schnell auf seine Facebook-Seite zugreifen, twittern oder eine Mail checken kann.

Neben mir, über mir, unter mir – wenn ich den Rechner hochfahre, sehe ich im Schnitt acht Funknetze, die sich gegenseitig stören. Alle verschlüsselt und damit für mich verriegelt. Ich will ein offenes Netz dazustellen. Einfach so, für lau, weil ich meinen DSL-Zugang tagsüber ohnehin nicht nutze. Und ohne Zwang zur Anmeldung, weil wir ohnehin schon überall unsere Datenspuren hinterlassen.

Der Kollege aus dem Netzwerkressort hält mich, freundlich gesagt, für leicht verwirrt. Ein offenes Funknetz betreiben? "Warum willst du potenziellen Angreifern die Arbeit unnötig leicht machen?", fragt er. Kreditkartendaten und Passwörter könnten gestohlen werden, Schadsoftware installiert, der Rechner zum Versand von Spam missbraucht werden – schlimmstenfalls, um Kinderpornos zu verbreiten. In Deutschland wäre ich für kriminelle Machenschaften, die über meinen Internetzugang abgewickelt werden, haftbar. Denn hierzulande gilt die sogenannte Störerhaftung. Wozu dieses Risiko eingehen? Internetzugänge seien doch billig und allgegenwärtig. "Weil ich die Nase voll habe", sage ich. "Es geht ums Prinzip."

Das Prinzip: ein freies Internet. Aus dem anarchischen Web, dem "globalen Dorf" der neunziger Jahre, ist eine umzäunte Vorstadtsiedlung geworden. Ein aufgeräumtes Areal mit bewachten Ein- und Ausgängen, permanenter Überwachung und vielen sehr klein gedruckten Fußnoten in den Mietverträgen, die regeln, was die Netzbürger dürfen – und vor allem, was sie alles nicht dürfen. Nicht zu viele Daten übertragen beispielsweise: Mobilfunkanbieter drosseln den schnellen Internetzugang für das neue Smartphone, wenn mehr als 300 Megabyte Daten durchgelaufen sind. Günstig über das Internet zu telefonieren ist verboten, Skype auf dem Smartphone funktioniert nur im heimischen WLAN.

Die Provider schützen ihren Geschäftsbereich. Schließlich stellen sie ja eine aufwendige Infrastruktur aus Servern und Datenkabeln bereit, deren Installation und Wartung Geld verschlingt. Entsprechend wichtig ist, dass die Nutzer dafür zahlen – und mehr bezahlen, wenn sie das Angebot intensiver nutzen. Das schienen auch die meisten Nutzer einzusehen. Der große Aufschrei blieb aus – bis zum April dieses Jahres.

Da verkündete die Telekom, dass künftig auch die Nutzer ihrer schnellen DSL-Anschlüsse mit einer Drosselung ihrer Übertragungsgeschwindigkeit rechnen müssten, wenn sie mehr als 75 Gigabyte über ihre Leitungen gejagt haben. Das allein hätte wohl nicht die Erregung ausgelöst, denn 75 Gigabyte reichen immerhin, um sich etwa 15 Filme in Full-HD-Auflösung herunterzuladen. Viel entscheidender war, dass der Konzern eigene Dienste wie die TV-Plattform Entertain von dieser Grenze ausnehmen will.

Einem Dienst jedoch die Vorfahrt im Datenverkehr zu geben, würde einen bislang geltenden Grundsatz im Web erschüttern: den der Netzneutralität. Kommt die Telekom mit ihren Plänen durch, fürchten Verbraucherschützer und Internetaktivisten einen Präzedenzfall. Jeder Internetanbieter könnte dazu übergehen, seine eigenen Dienste zu bevorzugen und andere zu drosseln. Das wäre so, als dürften auf bestimmten Autobahnabschnitten nur Volkswagen oder Mercedes-Modelle schneller als 100 fahren – weil die Strecken den Konzernen gehören. Das große, einheitliche Internet zerfiele wieder in kleine Fragmente.

Mehr noch: Internet-Experten wie der Jurist Tim Wu von der Columbia University warnen davor, das Netz könne schon bald ein einziger industrieller oder staatlicher Monopolist kontrollieren. Unversehens gäbe es eine Art "master switch" – einen Hauptschalter für das gesamte Internet.

Die Vorstellung wirkt paranoid. Dass sie es nicht unbedingt ist, mussten mehr als 20 Millionen ägyptischer Internet-User am 28. Januar 2011 erfahren. Innerhalb von nur einer halben Stunde schalteten die fünf großen Provider des Landes auf Druck der Regierung ihre Leitungen zum Rest der Welt ab. 90 Prozent des nationalen Netzes waren nicht mehr erreichbar. Länder wie Iran haben sogar angekündigt, sich dauerhaft vom Internet abzukoppeln und stattdessen ein landesweites Intranet aufzubauen.

Wie konnte es so weit kommen? Sollte das Internet nicht sogar mal einen Atomkrieg unbeschadet überstehen? Jede Information, die im Netz kursiert, wird in kleine Teile zerhackt. Erst am Ziel werden alle Pakete wieder zusammengesetzt. Jeder Computer reicht Pakete, die nicht für ihn bestimmt sind, an einen seiner nächsten Nachbarn weiter. Mit diesem "Heiße-Kartoffel-Prinzip" würde ein Datenpaket auch dann sein Ziel erreichen, wenn die Verbindung zwischen einzelnen Teilnehmern technisch gestört ist – oder willkürlich unterbrochen wurde.

Die Idee des "paketvermittelten Netzwerks" steckt noch immer im Internet. Heute, nach rund 30 Jahren rasanten Wachstums, hat sich seine Struktur aber radikal verändert. Nur die wenigsten Internetteilnehmer sind noch mit vielen anderen Rechnern vernetzt. Die übergroße Mehrzahl aller Computer, Smartphones und Tablets ist nur über eine einzige Route mit dem Internet verbunden: ihren Internet-Provider.

Genau das wollen Aktivisten nun mit unabhängigen "Community-Netzwerken" aufbrechen. Weltweit arbeiten sie an selbstorganisierten Computernetzen, die niemand einfach drosseln oder abschalten kann. Und das sind mehr als nur ein paar Bastler: In Katalonien, im Großraum Barcelona, sind rund 19000 Menschen über Guifi.net verbunden, das sogar die 14 Kilometer breite Straße von Gibraltar überbrückt und damit bis nach Nordafrika reicht. Und in Athen gibt es ein Netz, das zwar nur 5000 Rechner verbindet, aber zahlreiche eigene Dienste bietet wie eine Suchmaschine, Streaming mit Internetradio und kostenloser Internettelefonie. "Cool", denke ich, "das will ich auch." Ich begebe mich also auf eine Reise zurück zu den Wurzeln des Netzes. Und die große Frage, die mich dabei begleitet, ist: Liegt in diesen kleinen Versuchen wirklich die Zukunft dieses gigantischen, weltumspannenden Systems?

Die EU-Kommission nimmt die Community-Modelle durchaus ernst. Neelie Kroes, zuständig für die "Digitale Agenda" der Europäischen Union, investiert bis Ende 2015 insgesamt knapp fünf Millionen Euro in das CONFINE-Projekt (Community Networks Testbed for the Future Internet). Ziel des Projekts, an dem spanische, griechische, österreichische und deutsche Forscher und Initiativen beteiligt sind, ist der Aufbau eines europaweiten Netzes, in dem die Stärken und Schwächen des Ansatzes unter realistischen Bedingungen getestet werden sollen.

Community-Netze, sagt Projektleiter Leandro Navarro von der Universitat Politècnica de Catalunya in Barcelona, hätten gegenüber kommerziellen Internet-Providern drei Vorteile: Sie verwenden möglichst günstige Hardware, die wenig Energie verbraucht. Sie bilden nicht nur eine technische Infrastruktur, sondern gleichzeitig auch ein lebendiges soziales Netz. Damit verbreiten sie gleichzeitig technisches Wissen. Und sie sind – weil sie dezentral organisiert sind – sehr viel robuster gegenüber technischen Störungen, plötzlichen Lastschwankungen oder politischen Blockadeversuchen. "Es geht aber nicht darum, kommerzielle Internet-Provider zu ersetzen", sagt Navarro. "Es geht darum, sie zu ergänzen."

Ein Ansatz dafür sind "Mesh-Netze". Darin verbindet sich jeder Netzteilnehmer – im Jargon "Knoten" genannt – automatisch über WLAN mit allen Knoten in seiner Reichweite. Auch der nächste Knoten verbindet sich mit Teilnehmern in seiner Nachbarschaft. So entsteht ein selbst organisiertes Netzwerk, in dem die Daten frei fließen können – wie im ursprünglichen Internet, denn auch hier gibt es keine zentralen Schaltstellen für das gesamte Netz. Mit dem Internet ist das vermaschte Netz über einzelne Netzknoten – Gateways genannt – verbunden, die sich ihren Zugang mit den restlichen Meshnet-Teilnehmern teilen.

Leider gibt es in Hannover kein Mesh-Netz, in das ich mich einfach einklinken kann. Die Kollegen des Magazins "c't" wissen Rat. Ich bekomme einen Router mit DD-WRT, ein für WLAN-Router angepasstes Linux. Im Internet gibt es zahlreiche Anleitungen, wie man damit ein offenes Gastnetz aufsetzt. Kriege ich schon hin, denke ich, verabschiede mich freundlich und trage den Router nach Hause. Der Abend verläuft äußerst unbefriedigend. Das Gastnetz ist zwar nach kurzer Zeit eingerichtet, aber die Verbindung mit dem Internet will nicht klappen.

Frustriert beschließe ich, am nächsten Tag erneut die Kollegen zu fragen. Das Geheimnis, lerne ich, liegt in der Konfiguration des "Paketfilters". Der Router tut nämlich so, als ob er doppelt vorhanden wäre: Er stellt ein verschlüsseltes WLAN-Netz zur Verfügung und getrennt davon mein offenes Gastnetz. Zwischen den beiden Netzen verläuft eine virtuelle "Bridge". Die kann man sich vorstellen wie ein Kabel, in das ein Filter eingebaut ist. Dieser Filter – ein Programm, das auf dem Router läuft – prüft alle ankommenden Datenpakete und leitet sie weiter oder löscht sie, ganz nach den vom Administrator festgelegten Regeln. So kann ich beispielsweise verhindern, dass jemand aus dem offenen Netz auf meinen privaten Rechner zugreift.

Leider hatte ich diese Regeln bisher noch nicht gesetzt – und damit keinen Anschluss ans Internet. "Aipiteibels" murmelt der Kollege – die Kommandos klingen obskur für meine Ohren –, "BR1, drop und forward". Mein Router soll jetzt so eingerichtet werden, dass ich vom offenen Netz aus nur surfen und mailen kann. Alles andere wird abgeblockt. Nach einer Stunde läuft alles. Der Test kann beginnen.

Was wird passieren? "Es ist ein großes Experiment", sagt auch Joseph Bonicioli, als ich ihn in Athen besuche. Er ist Präsident des AWMN, des Athens Wireless Metropolitan Network. "Die EU will mit CONFINE wissen, wie nachhaltig und leistungsfähig solche Netzwerke sind." Würden sie auch dann noch funktionieren, wenn so etwas wie in Ägypten passiert? Er zuckt mit den Schultern. "Wir werden sehen."

Neben technischen Fragen geht es auch um organisatorische und finanzielle Probleme: Ist eine Stiftung wie bei Guifi.net oder ein Verein mit ehrenamtlichen Helfern tatsächlich in der Lage, dauerhaft und verlässlich ein großes Netz zu betreiben? Darf so eine Organisation für ihre Dienste Geld verlangen? Wer wartet das Netz, wenn die Technik trotz aller Vorsorge streikt? Das alles sind offene Fragen, auf die das EU-Projekt Antworten sucht.

Bonicioli ist ein Pragmatiker, einer der lieber macht, statt viel zu diskutieren. Mit 19 hat er die Heimat verlassen, ist nach England gezogen, hat dort Elektrotechnik und IT-Wirtschaft studiert, um erst zehn Jahre später nach Griechenland zurückzukehren. Jetzt ist er Präsident des AWMN – genauer gesagt des gleichnamigen Vereins, der das Netz in Athen und Umgebung betreibt. Neben ihm steht Stavros Papathanasiou, der Generalsekretär des AWMN. Auch er Techniker durch und durch – auch er hat in England studiert. Bonicioli legt den Kopf in den Nacken, schaut nach oben zum Funkmast und schüttelt den Kopf. Hoch oben hängen zwei Parabolantennen mit dem Logo des Athener Netzwerks. "Wenn wir gewusst hätten, wie teuer das hier wird, hätten wir's nicht gemacht."

"Das hier" ist die lapidare Umschreibung für ein Stück Netzwerk, das auch Profis nicht besser machen könnten. Auf dem rund 1400 Meter hohen Berg Parnitha, der Athen im Norden begrenzt, haben die Griechen eine Funkverbindung zum 38 Kilometer entfernten Berg Xtypas auf der Insel Evia eingerichtet. Über zwei Parabolantennen laufen seit 2010 Daten mit 100 Megabit beziehungsweise 300 Megabit pro Sekunde. Auf der anderen Seite des Funkturms ist eine Antenne installiert, die eine elf Kilometer lange Verbindung nach Athen herstellt.

Technisch funktioniert das alles wunderbar. 300 Megabit pro Sekunde ist eine Übertragungsgeschwindigkeit, mit der das AWMN modernsten LTE-Netzen durchaus das Wasser reichen kann. Nur einen Faktor haben die Netzwerker unterschätzt: das Wetter. "Siehst du das verbogene Metall da drüben", sagt Papathanasiou und zeigt auf ein zerknautschtes, ineinandergefaltetes Metallgitter, das am Fuß eines nahegelegen Baumes offenbar immer noch auf seinen Abtransport wartet. "Das war ein Schutzgitter. Wird über den Antennen montiert. Um sie im Winter vor herunterfallenden Eisbrocken zu schützen. Im Winter sehen die Masten manchmal aus wie ein einziger Eiszapfen."

"Und im Sommer haben wir Gewitter", ergänzt Bonicioli lakonisch. "Die Blitze sorgen regelmäßig dafür, dass die Elektronik durchschmort." Er hebt ein kleines schwarzes Kästchen hoch und schnuppert am Stecker. "Der Switch hier ist auch tot. Wahrscheinlich das Netzteil. Wir installieren hier nur noch billige Hardware. Die müssen wir eh immer wieder austauschen. Der Switch ist nicht so teuer, aber das Benzin. Man braucht fast eine Stunde, um hier hochzufahren."

Der Mast, auf dem die AWMN-Antennen installiert sind, gehört dem privaten Fernsehkanal Skai TV. Der Sender, der sich regelmäßig in ökologischen und sozialen Projekten engagiert, verlangt kein Geld für den Platz. Ein Wachmann schaut nach, was wir hier wollen. Die beiden scherzen mit ihm, plaudern ein bisschen. Der Wachmann zieht an seiner E-Zigarette, Papathanasiou zündet sich auch eine an. "Die haben Drei-Tage-Schichten hier oben", erklärt er. "Wir haben dafür gesorgt, dass sie hier auch Internet haben." So läuft das hier. Man hilft sich gegenseitig.

Die direkten Links zwischen zwei Stationen – Punkt-zu-Punkt-Verbindungen mit hoher Datenübertragungsrate – sind das technische Herz des AWMN. Jeder Knoten ist mit mindestens zwei anderen Rechnern verknüpft. Rund tausend Computer bilden zusammen das "Backbone-Netz" des AWMN. An diese Backbones sind "Clients" angeschlossen, von denen diverse mit kleineren Mesh-Netzen verbunden sind. Knapp 200 davon bieten in der Innenstadt von Athen offen WLAN-Hotspots an oder teilen den Internetzugang mit Nachbarn oder Freunden.

Das technische erzeugt fast beiläufig auch ein soziales Netzwerk. "Ich bin ja nicht nur mit anderen Netzwerkknoten verbunden", sagt Bonicioli. "Ich muss auch den Menschen kennen, der hinter dem anderen Knoten steht. Man muss sich in vielen technischen Details miteinander abstimmen. Wenn was nicht funktioniert, greife ich zum Telefonhörer und frage: Was hast du da wieder gemacht?" Wie viele Menschen verbindet das Netz? Bonicioli zuckt mit den Achseln. 2500 Knoten vielleicht, vielleicht auch 5000. "Wir sind nicht von Statistiken getrieben. Wir zählen nur die Backbone-Knoten. Und wir konzentrieren uns auf das Feintuning, die Geschwindigkeit der Verbindungen und natürlich auf die Dienste in unserem eigenen Netz. Nicht so sehr auf das Wachstum."

"Die Dienste" sind etwa der IP-Telefonserver, die Foren, über die man sich austauscht, Radiostationen, die in das Netz eingespeist werden, eine digitale Bibliothek – und natürlich Filesharing-Software, über die Musik und Kinofilme im Netz verbreitet werden. Illegale Inhalte? "Was ist schon legal?", fragt Bonicioli rhetorisch. Die Verbreitung von Raubkopien könne man nicht unterbinden.

Eine Grenze wird aber überschritten, wenn Kinderpornografie im Netz entdeckt wird. Tatsächlich musste das AWMN diese Erfahrung bereits machen. Wie die Gruppe reagiert hätte, will ich wissen. "Wir sind nicht in Panik verfallen", sagt Bonicioli. "Wir haben uns nicht angeschrien. Wir haben der Polizei den vollen Zugriff gegeben." Nüchtern erzählt Bonicioli das, so, wie er von 5-GHz-Netzen spricht, bipolaren Antennen und Routing-Protokollen. Das Netz hatte eine Fehlfunktion, die repariert werden musste. Dafür gibt es Fachleute. So einfach ist das. "Wir sind zu beiden Seiten hin offen", sagt Bonicioli. "Offen für die User und offen für die Behörden. Wir haben nichts zu verbergen."

Das AWMN ist eins von drei Netzen, die am EU-Projekt zu Community-Netzen beteiligt sind. Im Gegenzug erhalten sie Geld für die Entwicklung und den Ausbau ihrer Infrastruktur. Neben dem AWMN sind das spanische Guifi.net und das österreichische "Funkfeuer" aus Wien mit einigen Hundert Knoten mit im Boot: Guifi ist ähnlich wie das AWMN aufgebaut, allerdings überwiegend mit Festnetz statt Funkverbindungen, Funkfeuer ist ein klassisches Meshnet.

Natürlich haben diese Netze auch Nachteile. Einer davon ist beispielsweise die "dynamische Netzwerkstruktur", erklärt EU-Projektleiter Navarro. "Ständig kommen Knoten dazu, und andere Knoten verschwinden wieder aus dem Netz." Das Routing, also die Weiterleitung von Paketen im Netz, muss damit möglichst intelligent und schnell auf solche Änderungen reagieren. Außerdem würden vor allem in Mesh-Netzen Datenpakete von fünf, sechs, manchmal zehn Rechnern empfangen und wieder weitergeleitet. Je mehr "Hops" es aber zwischen einem Server und dem User gäbe, desto langsamer wird die Datenübertragung. "Wir arbeiten also an Möglichkeiten, den Content zu kopieren und viele verteilte Service-Punkte im Netz zu schaffen", sagt Navarro. "Der Server soll herausfinden, wo im Netz Sie sind, und verbindet

Sie dann mit einem Zwischenspeicher, der möglichst nah an Ihnen dran ist." Auf diese Weise ließe sich zudem eine dritte große Schwäche der Community-Netze beheben: Sie verwenden gern billige Hardware, die häufig ausfällt. Da Inhalte dezentral in mehreren Kopien vorliegen, funktioniert das Netz auch dann, wenn einzelne Komponenten ausfallen, versichert Navarro. "Statt einem großen Server habe ich viele kleine Server. Wenn einer dieser kleinen Server nicht antwortet, leitet die Zentrale den Aufruf einfach an den nächsten weiter."

Genauso argumentiert auch Jürgen Neumann, Gründer der "Freifunk"-Initiative, die seit zehn Jahren in Deutschland für den Aufbau von offenen Netzen kämpft. "Die meisten Dinge, die uns interessieren, und die meisten Daten, die wir austauschen, haben einen Bezug zu unserem lokalen sozialen Umfeld", sagt er. "Ich unterhalte mich – auch per Telefon – meistens mit Leuten aus meiner Umgebung. Ich interessiere mich für das Kinoprogramm vor Ort oder Angebote in lokalen Geschäften. Es macht keinen Sinn, diese Informationen über weltweit verteilte Server abzurufen. Wir sollten uns viel stärker lokal miteinander vernetzen. Privathaushalte müssen in eine flächendeckende WLAN-Versorgung mit eingebunden werden. Dann bräuchten wir keine zentralistische Infrastruktur."

Die Idee ist so überzeugend, dass mittlerweile sogar die ersten Konzerne einsteigen – wenn auch nicht ganz so, wie Neumann sich das vorstellt. Der Chiphersteller Qualcomm beispielsweise arbeitet mit US-Mobilfunkanbietern an der Entwicklung von kleinen Mobilfunk-Basisstationen. Die Mikro-Funkzellen sollen an Privathaushalte ausgegeben werden, wo sie am schnellen Festnetz-Internet hängen. Der Kunde stellt ein Mobilfunknetz in seiner Nachbarschaft zur Verfügung und könnte dafür beispielsweise Rabatt auf seine eigene Rechnung bekommen.

Auch die Telekom AG will damit das Datenvolumen ihrer Smartphone-Kunden, das sich in den vergangenen drei Jahren vervierfacht hat, besser bewältigen. "Wir setzen auf einen Mix von Technologien aus LTE, HSPA und Hotspot im Sinne eines doppelten und dreifachen Netzes", sagt Niko Bender, Leiter der Abteilung Commercial Management Mobile Business Marketing der Telekom. "Wir nennen das integrierte Netzwerkstrategie."

Im März verkündete das Unternehmen eine exklusive Partnerschaft mit Fon in Deutschland. Das Unternehmen aus Madrid versucht seit 2005, das gemeinsame Nutzen von Internetzugängen in ein Geschäftsmodell zu gießen. Es vertreibt vorkonfigurierte WLAN-Router, die den alten Router ersetzen und zusätzlich ein vom privaten Netz des Kunden abgeschottetes Fon-Gastnetz bereitstellen. Andere Fon-Kunden, die gerade unterwegs sind, können kostenlos auf diese Netze zugreifen.

Ab Juni wollen Telekom und Fon in Deutschland ein ganz ähnliches Produkt auf den Markt bringen. Dann gibt es mit dem neuen "Speedport"-Router der Telekom die Option "WLAN to go". Wer diese Funktion freischaltet, stellt damit über ein zweites, separates Gastnetz seinen Festnetzanschluss zur Verfügung. Im Gegenzug kann er auf das komplette Hotspot-Netz der Telekom und die acht Millionen Fon-Hotspots weltweit zugreifen. Und niemand muss sich Sorgen machen, dass sein Internetzugang missbraucht wird, versichert Bender. Denn der gesamte "WLAN to go"-Verkehr wird über ein virtuelles Netz zu einem Datencenter der Telekom geleitet und erst dort dem Internet übergeben. Das Ganze kostet nichts, ist aber exklusiv für die Kunden der "WLAN to go"-Community.

Werden die Deutschen das Angebot nutzen? Steht dem Internet ein neues Zeitalter bevor – mit einer weit dezentraleren Struktur als bisher? Zum Abschied habe ich Joseph Bonicioli gefragt, was ihn antreibt. "Ich hoffe, wir können den Menschen etwas beibringen", hat er gesagt. "Wir können sie lehren, offener zu sein." Ich logge mich in den Router ein, der mein offenes Gastnetz zur Verfügung stellt. Seit einer guten Woche steht die Kiste auf dem Fensterbrett. Ich schaue in die Protokolldateien. Niemand hat das Angebot genutzt. Bis jetzt. (wst)