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Digital Health & ePA: "Nutzen und Nutzbarkeit in den Mittelpunkt stellen"

Christiane Schulzki-Haddouti
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(Bild: Superstar/Shutterstock.com)

Unfokussiert, zu ehrgeizig und überhastet – daran kranken Digitalisierungsansätze im Gesundheitswesen seit 20 Jahren, kritisiert Experte Peter Haas.

Peter Haas

(Bild: Peter Haas)

Peter Haas kennt sich als Experte wie kaum ein anderer mit gesundheitstelematischen Lösungen aus. Er hat unter anderem Lösungsansätze konzipiert, die medizinisches Handeln wissensbasiert unterstützen können. Seit 1994 hat er zahlreiche Forschungs- und Entwicklungsprojekte durchgeführt und lehrt verschiedenste Fächer im Studiengang Medizinische Informatik. Bis 2015 war er Mitglied und Sprecher des nationalen Beirats der Gesundheitsagentur Gematik. Er ist Mitglied der Präsidiumskommission "Ausbildung in Medizinischer Informatik" der Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik. Im Interview erklärt er, woran es bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens scheitert.

Was sind die größten Hürden bei der Einführung der elektronischen Patientenakte?

In der Medizinischen Informatik gilt es, Nutzen und Nutzbarkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Bei der elektronischen Patientenakte haben wir sehr viele politische Akteure im Spiel, wobei jeder im Gesundheitssektor natürlich seine Agenda hat. Daraus ergeben sich dann eine Reihe von Hürden, die im Grunde dazu führen, dass man jetzt politisch versucht, mit dieser Opt-Out-Regelung die Zahl der interessierten Bürger via Hintertüre zu erhöhen.

Warum ist die Akzeptanz bisher so schlecht?

Natürlich hätten wir vor 25 Jahren alle keine E-Mail genutzt, wenn nicht inhärent der Nutzen und die Nutzbarkeit so groß gewesen wären. Wenn man dann im Verlauf dieses 20 Jahre langen Projekts aber sieht, dass die Ärzte damit eher viel mehr Arbeit haben und kein klarer Nutzen bei den Patienten erkennbar ist, dann ist das natürlich mit der Akzeptanz ein schwieriges Thema – Opt-out hin oder her.

Was wäre Ihr konzeptioneller Lösungsansatz?

Es ist unabdingbar, dass wir den Blick weiten und überlegen, wie wir über eine eher prozessorientierte Behandlungsmanagement-Plattform Ärzteschaft, Pflege und jeden Betroffenen in der Weise unterstützen, wie er es kann und braucht: Der Schwerkranke wird optimal von seinen Ärzten versorgt und muss sich um die Aktenführung nicht kümmern. Die Chronikerin hingegen, die sich auch mit eigenen Einträgen mit ihren Themen souverän managen will, ist dann aktiv beteiligt und selbst Teil ihres Behandlungsteams. Und – mit dieser Plattform dokumentieren wir dann nicht nur die Vergangenheit – was war –, sondern planen und steuern auch die zukünftige Versorgung der Patienten in sachgerechter Weise – was sein soll.

Die Bundesregierung will die ePA starten, wobei die ärztlichen Befunde als PDF hinterlegt werden können. Inwieweit macht das Sinn?

Etwas ohne nutzungsorientierte Struktur zu digitalisieren ist kein intelligenter Lösungsansatz. Wir müssen natürlich sehr genau hinschauen, was die Strukturierung der Daten bedeutet. Ich spreche hier gerne von einer patientenphänomeno-ontologischen Akte, was mehr als Dokumente bedeutet. Negativbeispiel für nur dokumentenbasiert ist zum Beispiel: Angenommen eine chronische Patientin ist beim niedergelassenen Arzt. Diese trägt ihre zeilenhaften Bemerkungen verschiedenen Typs in ihr Praxissystem ein und generiert nach dem Besuch mit diesen Einträgen also ein Dokument namens "Arztbesuch". Nach zwei bis drei Jahren haben Sie dann 30 bis 40 solcher Dokumente. Was geschieht, wenn die Patientin in Bayern im Urlaub ist und zu einem Arzt muss? Würde der Arzt sich dann in der ePA 40 Dokumente "Arztbesuch" durchlesen, um sich ein Bild der Situation des Patienten zu machen?

Welchen praktischen Wert hat damit die kommende elektronische Patientenakte?

Die Akte hat so lange keinen Nutzen, bis nicht auf einer anderen Ebene die wichtigsten Dinge aus der Krankheitsvorgeschichte erkennbar sind und fortgeschrieben werden können.

Wie ist dieses Problem zu lösen?

Wir müssen mehr über die innere Struktur der Akte für guten Nutzen und Nutzbarkeit nachdenken – aus der Behandlungssituation heraus. Das kam in der Vergangenheit zu kurz, weil die Behandelnden und Betroffenen zu wenig eingebunden waren. So haben wir heute eine Art Technikmonster, mit dem kaum jemand zurechtkommt.

Woran hapert es bei der Akzeptanz?

Beispielsweise daran, dass die elektronische Patientenakte selbst für Hochschulstudierende zu kompliziert und umständlich zu beantragen ist. Dazu kommt, dass die Bürger auch noch laufend von Hackerangriffen und anderen Problemen gehört haben und Angst davor haben, dass nicht nur sie selbst, sondern vielleicht die ganze Familie durch Krankheitsgeschichten stigmatisiert werden würden.

Könnte denn mit künftig strukturierten Daten beispielsweise ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Einnahme des Medikaments und dem Gesundheitszustand hergestellt werden?

Das hört man jetzt oft: Alles wird besser, wenn wir alle Daten der ePA in einen Topf reinschütten und dann das auswerten. Ein alter Grundsatz in der Informatik ist aber: garbage in, garbage out. Natürlich sollte man danach trachten, dass die verwendeten Daten valide und vergleichbar sind. Schon das ist sehr, sehr komplex. Und dann haben wir natürlich auch die kombinatorische Explosion der Möglichkeiten von Symptomen, Nebenerkrankungen und Lebenssituationen et cetera. Hier muss man schon sehr solide herangehen an Datenumfang und -qualität, um nicht Effekte zu vermengen. Natürlich kann man aus Routinedaten valide Erkenntnisse aus dem klinischen Alltag ziehen, die wir aus Laborversuchen und bei kontrollierten Studien nicht bekommen, aber dazu muss die Datenbasis sauber sein.

Was meinen Sie damit?

Der Vater der klinischen Epidemiologie Prof. Feinstein hat das sehr gut beschrieben: Wir müssen nicht nur das genau messbar machen, was wir an Daten aus Geräten erhalten, sondern auch das, was wir beobachten und sauber dokumentieren, er nannte das "Klinimetrie". Dazu brauchen wir diese Daten in einer Vergleichbarkeit und Verlässlichkeit, die es uns auch ethisch vertretbar erlauben, Schlüsse zu ziehen. Man muss also immer aufpassen, wenn man mit Routinedaten forscht, dass man nicht Äpfel mit Birnen vergleicht – und Kontextbedingungen vernachlässigt.

Aktuell wird ja auch viel über digitale medizinische Zwillinge gesprochen. Was könnten diese leisten und kann mit der ePA überhaupt ein digitaler medizinischer Zwilling entstehen?

Der digitale Zwilling ist im Grunde eine digitale Abbildung von Realwelt-Objekten im Rechner. In diesem Sinne wird natürlich eine sehr gut strukturierte phänomeno-ontologische Akte, die auch Bilder oder vielleicht genomische Daten beinhaltet, zunehmend zum digitalen Zwilling. Im Grunde ist der Begriff Akte kontraproduktiv, weil wir alle bei Akten an Ordner, Einlegeblätter oder Windows-Dateibäume denken. Selbst strukturierte Dokumente allein können uns nicht weiterhelfen, weil jeder Arztbrief eine zeitpunktbezogene Zusammenfassung der aktuellen Lage ist und alle vorhandenen Diagnosen des Patienten enthält.

Was macht denn bei der Auswertung dieser Arztbriefe Probleme?

Wenn Sie aus 20 Arztbriefen mit dem Rechner die Diagnosen extrahieren wollen, erhalten Sie vielleicht 50 bis 80 Diagnosen, obwohl es nur sechs gibt. Wenn diese noch unterschiedlich formuliert sind, ist das kompliziert automatisiert zu bereinigen. Daher braucht es den Ansatz, Diagnosen eindeutig identifiziert fortzuschreiben. Dann erhält man eine valide Liste – und das trifft auf viele andere Einzelinformationen auch zu. Strukturierte Dokumente allein werden also das Problem nicht lösen. Es braucht eine Meta-Ebene darüber, um die Patientensituation sauber abzubilden – und dann sind wir schon näher beim Zwilling.

Im Forschungsdatenzentrum Gesundheit sollen diese Daten pseudonymisiert zusammengeführt werden. Wenn eine "data linkage" für die Sekundärnutzung nötig ist: wo und wie kann diese stattfinden?

Sie brauchen immer eine Clearing- beziehungsweise Pseudonymisierungsstelle, das kennen wir für Langzeitbeobachtungen bereits aus Forschungsprojekten. Bei einer totalen Anonymisierung für eine Forschungsdatenauswertung sind Langzeitbeobachtungen nicht mehr möglich, weil diese Zuordnung für Langzeitzusammenführung nicht mehr machbar ist. Daher braucht es eine Pseudonymisierungsstelle, die hoch vertraulich ist.

Aber damit ist es ja nicht getan …

… ja, gleichzeitig müssen wir auch diese Forschungsbestände in einem Hochsicherheitstrakt unterbringen. So sehr es ethisch gewollt ist, dass wir aus den Versorgungsdaten lernen und Sachzusammenhänge erhalten, so sehr müssen wir trotzdem unser Vertraulichkeits- und Sicherheitsniveau für die Betroffenen wahren.

Ist für diese Datenzusammenführung für komplexere Studien aus verschiedenen Quellen eine Gesundheits-ID notwendig?

Das bekommen sie ja anders gar nicht hin. Wenn Sie im Sinne eines lernenden Gesundheitssystems weiterdenken, stellt sich auch die Frage, wie die Ergebnisse wieder in die Versorgung kommen. Dazu brauchen wir nicht jedes Dokument. Je sauberer wir die Patientensituation darstellen und abbilden, desto sauberer können wir nachher daran forschen und Handlungskonsequenzen für den klinische Alltag ziehen. Man braucht also eine gewisse Strategie, um das für ein lernendes Gesundheitssystem umzusetzen. Dazu gehört es auch, den aus Patientensicht resultierenden Outcome zu betrachten – das passiert ja heute auch kaum.

Was müsste die Politik jetzt dazu unternehmen?

Würden wir ein wirklich strategisches Zielbild entwickeln wollen, das eben nicht zu dem Motto führt "wenn wir alles haben, werden wir das super auswerten können", würden wir mit Experten wie klinischen Epidemiologen, Biometrikern, Medizininformatikern und Ärzten sprechen. Wir würden dann feststellen, was wir für eine gute Forschung basierend auf der Versorgungsdokumentation brauchen – in welcher Granularität und in welchem Zusammenhang – um dies dann in die Strukturen und Semantik der ePA zurückspiegeln, damit die dort entstehenden Inhalte für die Forschung methodisch sauber nutzbar werden.

Auf dem jetzt zu Ende gegangenen Ärztetag gab es einen Beschluss der Ärzteschaft [1], künftig für die Sekundärnutzung keine Daten bereitstellen zu müssen. Aber tut sie das nicht schon längst mit Meldungen an die verschiedenen medizinischen Register?

Die Registermeldungen betreffen nur kleine Bereiche der Versorgung, die auch jedem einsichtig sind – Beispiel Krebsregister. Die Ärzteschaft hat jetzt vielleicht doch Angst, dass man Schleusen öffnet und die Folgen nicht mehr in den Griff bekommt. Im Extremfall könnte das darin resultieren, dass nach Auswertungen bestimmte Behandlungen nicht mehr bezahlt werden und dann eine kleine Patientengruppe Nachteile erleidet dafür, dass ihre Daten weitergegeben wurden. Das muss man sich sehr genau ansehen.

Wie beurteilen Sie den aktuellen Diskussionsstand auf politischer Ebene?

Politisch leiden wir immer wieder an dem Prinzip "größer, schneller, weiter" und viele Hausaufgaben sind noch gar nicht gemacht. Dann ist das manchmal ohne richtige Strategie oder man wartet viele, viele Jahre zu, obwohl viele schon vor zehn Jahren einen strategischen Ansatz gefordert haben. Man hat ja schon zu Beginn viel zu viel gewollt, in zu kurzer Zeit und mit zu wenig Talent – sprich zu wenig Ressourcen und Kompetenzen und Strategie.

Kommen also die aktuellen Vorhaben – auch nach 20 Jahre langem Vorlauf – noch immer verfrüht?

Vor 20 Jahren wussten wir, dass das wichtigste Dokument in der Versorgung der Arztbrief ist. Hätten wir damals nur mal einen sauberen Arztbrief mit sicherer Übertragung gemacht, wären alle Ärzte, die an Faxgeräten warteten, begeistert gewesen. Das wäre der Startpunkt für Akzeptanz bei der Ärzteschaft gewesen. Aber man wollte 2004 innerhalb von zwei Jahren die Patientenakte, die Notfalldaten und vieles mehr umsetzen. An einer mangelnden Fokussierung leidet bis heute das Digitalisierungsprojekt, man wollte zu viel parallel erreichen. Die Vorhaben jetzt kommen nicht zu früh aber nun zu viele auf einmal – das überfordert Gesundheitsinstitutionen, Anwender, Software-Industrie und Bürger. Etwas mehr Augenmaß und nicht "schneller, größer, weiter" täte der Sache gut – auch für die Zukunft.

(mack [2])


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