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Schule digital: Digitalisierung der Bildung – am Scheideweg

Bob Blume
Digitalisierung der Bildung: Am Scheideweg

(Bild: Shutterstock/metamorworks)

Bob Blume ist ein digitalaffiner Lehrer, den die Coronavirus-Krise nicht völlig unvorbereitet traf. Aus seiner Sicht müsste in Schulen nun aber mehr passieren.

Die Digitalisierung der Bildung wird seit Jahren angemahnt, durch die Coronavirus-Pandemie hat diese Forderung aber eine ganz neue Dringlichkeit erhalten. Damit Kinder nicht davon abhängig sind, wie fit ihre Eltern, Schulträger und Lehrer:innen sind, müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine möglichst große Teilhabe schaffen.

Wie sollte die Digitalisierung in unseren Bildungseinrichtungen also umgesetzt werden? Wie ist es bisher gelaufen? Welche Tools und Ausstattungen haben sich schon bewährt, welche dürften und sollten kommen? Und wie könnte die Schule – nach einem großen Digitalisierungsschub – in einigen Jahrzehnten aussehen? Unsere Artikelserie "Schule digital" [1] möchte diese Fragen weiter beleuchten.

Der Tag, an dem in Baden-Württemberg die Schulen schließen sollten und sich der Unterricht in einer Weise ändern würde, die keiner für möglich gehalten hätte, war genauso merkwürdig, wie alles was folgte. In Baden-Württemberg gingen am Montag, den 16. März alle Schülerinnen und Schüler und alle Lehrerinnen und Lehrer wie gewohnt zur Schule. Aber die Stimmung war alles andere als gewöhnlich.

Als Klassenlehrer einer 6. Klasse und als Deutschlehrer weiterer Klassen der Mittel- und Oberstufe war mir klar, dass wir die letzten Stunden vernünftig nutzen müssten. Denn schwieriger als digitaler Fernunterricht ist nur die Erklärung digitalen Fernunterrichts – über digitale Medien und die Ferne. Über die Oberstufe machte ich mir keine Sorgen. Das lag an einer speziellen Vorbereitung und einer simplen Veränderung der Funktionen derjenigen Medien, mit denen die älteren Schülerinnen sowieso schon arbeiteten. Aber dazu später mehr.

Bob Blume

Bob Blume ist Oberstudienrat am Windeck-Gymnasium in Bühl und unterrichtet die Fächer Englisch, Deutsch und Geschichte. Neben seiner Arbeit als Lehrer betreibt er einen Youtube-Kanal und einen Blog, in dem er über die Herausforderungen des Referendariats, die Chancen der Digitalisierung und politische Themen schreibt. Als "Netzlehrer" ist er auf Twitter unterwegs und betreibt auch einen Podcast mit diesem Namen. Nebenher publiziert er für Zeitungen und veröffentlicht Texte in verschiedenen Online-Magazinen – wenn er nicht mit seiner Tochter und seiner Frau das Leben in den Offenburger Weinbergen genießt. Mehr vom Autor: Blog www.bobblume.de, Twitter @blume_bob, Instagram: @Netzlehrer, Podcast "Netzlehrer", Youtube https://www.youtube.com/user/Coymister

Artikelserie "Schule digital"

In der 6.Klasse, in der ich als Deutschlehrer einmal die Woche Medienbildung erteilen soll, blieben mir an diesem Montag zwei Stunden dafür, die nächste Zeit vorzubereiten. Wie geht man damit um?

Die Rahmenbedingungen an unserer Schule sind gut, im Vergleich zu vielen Schulen des Landes, die ich als Lehrer, der mit vielen anderen Lehrpersonen vernetzt ist, kennenlernen durfte; wahrscheinlich muss man sagen: Sehr gut.

Zwar haben wir wenige iPads und zwei von drei Computerräumen sind in militärisch anmutendem Nebeneinander angeordnet. Aber der stets über die Grenzen der Belastbarkeit arbeitende Systemadministrator hatte die wichtigsten digitalen Rahmenbedingungen schon seit einiger Zeit bereit gemacht: Die Nextcloud als Cloudsystem, das lokal gehostet und so datenschutzsicher ist.

Eine Cloud für die Schülerinnen und Schüler und eine für Lehrerinnen und Lehrer. Die Infrastruktur für einen laufenden Betrieb war also gegeben. Und nicht zuletzt auch das Know-How, um diese für die nächsten Monate benötigte Infrastruktur am Laufen zu halten. Dazu hatte eine weitere engagierte Kollegin den Untis-Messenger implementiert. Theoretisch hieß das: Alle Schülerinnen und Schüler konnten miteinander und mit allen Lehrerinnen und Lehrern kommunizieren. Und das sicher und unproblematisch. Theoretisch. Denn bis dato war das System noch nie so ausgelastet gewesen wie einen Tag später, an dem dann auch dementsprechend gar nichts mehr ging.

Und nicht zuletzt hatte wir es geschafft, nach einer produktiven Konferenz am Ende des letzten Schuljahres die Kolleginnen und Kollegen ins Boot zu holen, um einen pädagogischen Tag zum Thema "reflektiertes Lernen im digitalen Wandel" zu gestalten. Dieser etwas sperrige Name ist für das Lernen unter der Bedingung dessen, was der Kulturwissenschaftler Felix Stalder "Kultur der Digitalität" nennt enorm wichtig. Es sollte nicht ausschließlich darum gehen, wie man die Inhalte, die in den Bildungsplänen festgelegt sind, 1:1 überträgt, sondern auch darum, wie die Beschäftigung mit digitalen Lernumgebungen auch für eine produktive Weiterentwicklung des Lernens, also der Schulentwicklung genutzt werden kann.

Aus diesem Grund war schon die Vorbereitung für den pädagogischen Tag mehr als die Organisation motivierender Referenten. Denn obwohl Alexander Fischer vom hiesigen Kreismedienzentrum und der Gewinner des letztjährigen deutschen Lehrerpreises, Sebastian Schmidt, für zusätzlichen Input sorgten, lag die hauptsächliche Verantwortung bei den Kolleginnen und Kollegen. Diese wurden von mir eingewiesen und so vorbereitet, dass sie selbst die Workshops geben konnten. Die Überlegung: Hilfe zur Selbsthilfe ermöglicht einen breiten Kreis derer, die sich die Arbeit mit neuen technischen Möglichkeiten zutrauen.

Zeigt mir die Kollegin aus der eigenen Fachschaft, wie ich meinen Englischunterricht gestalten kann, ist das etwas anderes, als wenn es ein schillernder externer Referent ist. Es funktionierte. Ob Bloggen, die Arbeit mit dem Visualizer oder dem Messenger oder verschiedene Video- und Audioformate – alles konnte probiert werden. Einige Kolleginnen waren so begeistert, dass es sie fast schmerzte sagen zu müssen, dass sie nun leider wieder zurück zum normalen Alltag kommen und bestimmt alles vergessen würden. Zumindest dachten sie das. Es war der 20. Februar 2020.

Etwa einen Monat später stand ich also im "großen Medienraum" und erläuterte den Kindern, wie sie Dateien benennen könnten. Wir hatten zuvor mit Etherpads, jenen auf offener Software beruhenden kollaborativen Textverarbeitungsprogrammen, gearbeitet. Das schien mir eine gute Grundlage. Nun aber dachte ich an das Chaos in so mancher Schultasche und übte zwei Stunden mit den Kindern die Benennung von Dateien. Wäre das geschafft, so dachte ich, würde ich wenigstens die Übersicht bewahren können.

Aufgrund der Expertise des Administrators und der Betreuerin des Messengers und einer vorausschauenden Schulleitung hatten wir uns schon eine Woche vor den Schulschließungen in kleiner Runde getroffen, um zu überlegen, was die Kolleginnen und die Kollegen brauchen würden, um den Unterricht im Ernstfall weiterführen zu können. Zu diesem Zeitpunkt sprach zwar keiner von allgemeinen Schulschließungen, aber die Schlinge zog sich zu. Es mussten Passwörter verteilt, Kolleginnen und Kollegen in weitere Funktionen eingeführt und Videotutorials erstellt werden. Die ersten Kolleginnen und Kollegen konnten schon nicht mehr kommen, da sie aus Gebieten stammten, die als Risiko eingestuft wurden. Dann kam der nächste Tag und die Schule blieb geschlossen.

Alleine diese Vorgeschichte macht klar, dass wir, wenn es um das Digitale in der Schule geht, zunächst einmal nicht über neue Lernformen und Bedingungen sprechen. Sondern über Rahmenbedingungen, die überhaupt erlauben, von einer digitalen Erweiterung zu sprechen: Coden, Programmieren, Medienbildung, digitales Arbeiten und Lernen – all das, was in dem Strategiepapier der Kultusministerkonferenz seit 2016 eigentlich an deutschen Schulen umgesetzt werden müsste, ergibt nur Sinn, wenn die Infrastruktur es auch hergibt. Und ob dies so ist, ist Zufall. Überall.

W-Lan? Kommt drauf an. Aber meist Zufall. Eine Anbindung an Glasfaser? Kommt drauf an, aber eher nicht. Zufall. Systemadministration: Zufall. Didaktische Konzepte: Zufall. Eine Schulleitung, die voran geht: Zufall. Kolleginnen und Kollegen, die mitziehen. Zufall, zumindest dann, wenn basale Rahmenbedingungen nicht gegeben sind.

Natürlich: Ausreden gibt es viele. Aber der Digitalpakt und damit ein Zuschuss vom Bund, der überhaupt erst einmal für eine gescheite Infrastruktur sorgen sollte, ist noch nicht einmal ein Jahr her – er startete offiziell am 17. Mai 2019. Das Budget, das dort für digitale Technik für ein allgemeinbildendes Gymnasium wie unserem eingeplant war, lag bei ungefähr 25.000 Euro. Der Rest sollte in Leitungen fließen. Von wem diese dann in Stand gesetzt werden würden? Von wem überwacht? Von wem repariert? Zufall, Zufall, Zufall. Mit anderen Worten: Als Corona begann, suchten Lehrerinnen und Lehrer händeringend nach Möglichkeiten, überhaupt mit den Schülerinnen und Schülern kommunizieren zu können. Und das war noch bevor die Medienlandschaft entdeckte, dass Lehrerinnen und Lehrer zwar nicht die Hauptverantwortlichen der Misere waren, sich aber als Sündenböcke für ein Versagen im sogenannten Homeschooling eigneten. Denn dass Lehrerinnen Technikfeinde sein sollten, das konnten sich alle irgendwie gut vorstellen.

Das bedeutet übrigens nicht, dass es keine Lehrerinnen gab, die sich rar gemacht hatten. Aber eben auch nicht, dass ein großer Teil nicht alles versucht hätte, um weiterhin Unterricht zu gewährleisten.

Aber nicht nur die Lehrerinnen und Lehrer hatten es schwer. Mit Genugtuung stellten einige Lehrerinnen nun fest, dass die Eltern nun wahrnahmen, wie schwierig es ist, "Stoff" zu vermitteln. Und die Eltern stellten gestresst von gleichzeitigem Homeschooling und Home-Office fest, dass sie zu wenig Hilfe bekamen. Das große Aufeinanderzeigen hatte begonnen und ist bis heute noch nicht beendet.

Sehr einfach könnte man das Gelingen eines digitalen Fernunterrichts an den genutzten Begriffen festmachen. Dass sich das, was nach den Schulschließungen folgte, nicht als "Coronaferien" betiteln lassen kann, war allen Beteiligten schnell klar. Aber das darauffolgende "Homeschooling" setzte sich fest, wenngleich es eher an die Praxis jener Eltern erinnert, die ihr Kind dem staatlichen Schulsystem entziehen wollen. Das hatte natürlich einen Grund: Denn wer nicht von den oben skizzierten Zufällen profitierte, dem blieb wenig anderes übrig als PDF-Dateien zu verschicken und zu hoffen, dass diese bearbeitet werden.

All diese Unwägbarkeiten verhinderten ein Nachdenken darüber, was digitalen Fernunterricht eigentlich ausmacht. Was fällt weg, wenn die Präsenzphase nicht mehr für eine Miteinander an Ort und Stelle sorgt? Und wie muss man darauf reagieren. Obwohl ich der Auffassung war, dass meine Oberstufenschülerinnen und -schüler mit ihren Blogs gut aufgestellt waren, veränderte sich auch hier die Situation.

Die Blogs, Anfang dieses und seit Jahren jeden Schuljahres als digitale Erweiterung der Arbeit im Deutschunterricht gedacht, wurden zu einer Art digitalem Portfolio umfunktioniert. Nicht die eigene, freie Arbeit an selbst gewählten Themen fand nun hier statt, sondern die Arbeit an curricularen Inhalten.

Das macht die Arbeit mit Blogs nicht weniger gewinnbringend: Die Schülerinnen und Schüler können nach Peer-to-Peer-Feedback ihre Artikel überarbeiten, ihre Texte können potenziell von einer breiten Masse aufgerufen werden; sie nehmen, wenn man das etwas überschwänglich sagen darf, am Diskurs Teil. Aber solange die Inhalte bleiben, wie sie sind, bleiben auch die Aufgaben und deren Beantwortung über Blogs nicht mehr als dasselbe in leicht abgewandeltem Gewand.

Deutlich schwieriger stellte sich heraus, was digitaler Fernunterricht eigentlich für die traditionell in den Unterricht gehörenden Phasen bedeutete. Kann ein "Einstieg" stattfinden? Wie werden die Ergebnisse gesammelt? Wie werden sie besprochen? Und wie kann man die so wichtige Rückmeldung geben, die ja erst eine Diagnose des Könnens erlaubt? Die Fragen wurden unterschiedliche beantwortet und viele Lehrende mussten etwas tun, das sie seit dem Studium nicht mehr getan hatten: Experimentieren. Und genau damit taten sich einige sehr schwer.

Es kommt nicht von ungefähr, dass bei den zahlreichen Diskussionen, die über "die Digitalisierung" geführt werden, das Mindset an erster Stelle steht. Die Angst davor, den eigenen Ansprüchen nicht zu genügen oder Schülerinnen und Schüler zu enttäuschen oder sich vor ihnen zu blamieren, sorgte lange Zeit dafür, dass viele erst gar nicht begonnen hatten, sich mit dem Digitalen in der Bildung zu befassen. Das wirkte sich in der Phase der Krise auf das Verständnis davon aus, wie digitaler Fernunterricht überhaupt funktionieren kann.

Grundsätzlich müssen wir schon hier festhalten: Digitales Fernlernen unter den Bedingungen der Corona-Krise ist nicht dasselbe wie ein zeitgemäßes oder eben reflektiertes Lernen in einer Kultur der Digitalität. Denn bei der zweiten Variante ist die Präsenz ja nicht redundant, im Gegenteil: Das Digitale ist ein Medium unter anderen, Leitmedium zwar, aber eben gleichsam Gegenstand, Träger und Mittel der Reflexion.

Das digitale Fernlernen, der Notfallunterricht, wie er in den sozialen Medien auch genannt wurde und wird, ist zunächst der Versuch einer Übertragung, die dann scheitert, wenn dieselben Rahmenbedingungen angenommen werden. Das gilt beispielsweise für den Faktor Zeit: Lehrerinnen und Lehrer versuchten zunächst den Umfang der Aufgaben auf die Präsenzzeit zu übertragen, die weggefallen ist. Dass in einem Präsenzunterricht (gewollte) Redundanzen auftreten – die Organisation, der Input, der Witz am Rande, die Nachfrage – wurde da oftmals nicht berücksichtigt. Kein Kind der Welt lernt im Unterricht eineinhalb Stunden am Stück alleine. Doch viele sollten das plötzlich zu Hause tun. Für jedes einzelne Fach.

Einhergehend damit war und ist das fehlende Bewusstsein für die Zeit, in der Schülerinnen und Schüler überhaupt an einem Rechner lernen konnten. In der Schule ist der Ort und die Zeit des Lernens vorgegeben. Aber das lässt sich nicht immer übertragen: Angenommen, die Technik ist überhaupt vorhanden, was nicht immer der Fall war, waren die Eltern oftmals selbst im Home-Office. Das bedeutete einen zusätzlichen Druck mit jeder Deadline.

Und schließlich die infrastrukturelle Technik selbst, von der die meisten Lehrerinnen und Lehrer nicht wussten und immer noch nicht wissen, ob man sie überhaupt einsetzen darf. Die erste Stufe eines funktionierenden Fernunterrichts wäre also eine weitestgehend homogene Nutzung einer datenschutzkonformen Plattform und eine weitestgehend abgestimmte Handlung, also: Wann werden wie viele Aufgaben von welcher Art eingestellt und wann müssen diese zurückgegeben werden? Diese Fragen blieben oftmals ungeklärt, so dass der vielbeschworene Kompetenzerwerb der Schülerinnen auch darin lag, sich in dem Wust verschiedener Systeme und Anforderungen zurecht zu finden.

Innerhalb dieser für sehr viele Menschen anstrengenden Zeit vibrierte die digitale Community rund um Hashtags wie #twitterlehrerzimmer. Seit Jahren waren hier die verschiedensten Impulse besprochen und ausgetauscht, kritisiert, verworfen und neu aufgelegt worden – aber weitestgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit (und noch viel wichtiger: Von den Lehrerzimmern dieses Landes). Die vielbeschworene "Krise als Chance" konnte nun an der Aufnahme der zahlreichen Impulse bemerkt werden, die direkt aus dem Konnektiv in die Systeme des Fernunterrichts gelangt sind: Linklisten, Tutorials, Blogbeiträge, Wikis – alle möglichen Unterstützungsangebote wurden nun bereitgestellt und weiterverarbeitet, wobei das Problem einer einheitlichen Lösung weiterbestand. Es zeigte sich aber, dass verschiedene Probleme nach und nach gelöst wurden. Zumindest wenn die Grundlagen vorhanden waren.

Zum einen die Frage danach, wie die Technik überhaupt genutzt werden sollte. Es etablierten sich verschiedene Systeme. Eines davon beispielsweise die Bereitstellung einer Wochenübersicht mittels der digitalen Pinnwand Padlet. Die Schülerinnen konnten nun sehen, was sie bis zu welchem Termin zu erledigen hatten und von den Aufgaben direkt zum Klassen- oder Themenpadlet wechseln. Andere Schulen arbeiteten mit Microsoft Teams oder mit Moodle, mit Itslearning oder mit Mebis. Der Föderalismus zeigte aber: Das, was in dem einen Bundesland erlaubt ist, ist im anderen problematisch bis illegal. Eine solche schwierige Praxis ist nicht gerade zuträglich für die Haltung zögerlicher Kollegien.

Es bleibt aber festzuhalten: Die wenigsten Bundesländer schafften es, klare Leitlinien zu formulieren. Es gab sogar solche, die digitalen Fernunterricht untersagten. Es blieben nur postalische Zustellungen oder eben die sprichwörtlichen Coronaferien.

Obwohl politisch nun Gelder bereitgestellt werden, die über das hinausgehen, was im Digitalpakt 2019 sowieso angedacht war [15] (und auch Möglichkeiten bestehen, diese anders zu investieren, beispielsweise in Technik für benachteiligte Schülerinnen und Schüler), wurde es verpasst, den Schulen auch offiziell die Möglichkeit zu geben, Konzepte zu entwickeln [16].

Bei all der berechtigten Kritik an Lehrerinnen und Lehrern, die schon vor Corona nicht gerade als Technik-Nerds bekannt waren, muss konstatiert werden: Wenn das Digitale in Schulen nicht als Zusatzbelastung, sondern als Erweiterung der Möglichkeiten und notwendige Umgebung für ein zeitgemäßes Lernen betrachtet werden muss, dann darf es eben auch keine Zusatzbelastung sein. Das ist es aber dann, wenn die Datensicherheit nicht gegeben ist, Dienstrechner nicht zur Verfügung gestellt werden, Plattformen nicht administriert werden und didaktische Konzepte nur mit erheblichem Engagement zu erreichen sind. Zeit, Geld und ein verbindlicher Rahmen bleiben auch in Zeiten der Corona-Krise der heilige Gral.

In einem kurzen Papier zum Notfallunterricht hat der Schweizer Informatiker Beat Döbeli-Honegger darauf aufmerksam gemacht, dass der digitale Fernunterricht, wie er in der letzten Zeit durchgeführt worden ist, sich nicht als Diskussionsgrundlage für einen zeitgemäßen Unterricht in der Kultur der Digitalität eignet. In der Tat kann man in eine Falle laufen: In seinem Buch "Mehr als 0 und 1" spricht Döbeli-Honegger vom Lernen "mit, über und trotz Medien". Wenn ein offenes Mindset vorhanden und die Fehlerkultur ausgeprägt war, konnte Lernen über Medien durchgeführt werden.

Natürlich gab es auch jene Lehrerinnen und Lehrer, die die Medien selbst in einer Art und Weise in den Fernunterricht einbezogen haben, in dem das Medium mehr als ein Werkzeug war, sondern eben eine Umgebung, in der das Lernen selbst sich verändert. Ein solches Lernen, das Kollaboration, Kommunikation und kreatives und kritisches Denken einbezieht, ist aber kein Selbstläufer. Und wir bedenken die schon angesprochene doppelte Herausforderung der Initiation über Medien mit Medien.

Jetzt schon sind die vielen Stimmen zu hören, die zurück zu einer angeblichen Normalität wollen, zurück an die Tafel quasi. Und man kann es jenen, die die technischen und didaktischen Möglichkeiten nicht hatten auch nicht verübeln: Wenn die Corona-Krise tatsächlich jenes Brennglas und jener Verstärker ist, als die sie immer wieder bezeichnet wird, dann werden und wurden eben nicht nur die positiven, sondern auch die negativen Rahmenbedingungen verstärkt. Das frustriert und weitet den digitalen Graben zwischen den Institutionen und ihren Teilnehmenden.

Wenn aber, und das ist der entscheidende Punkt, der digitale Fernunterricht in der Krise mit dem digital erweiterten Lernen, dem "reflektierten Lernen im digitalen Wandel" verwechselt wird, dann kann dies zu einer Ablehnung führen, die wir uns als Gesellschaft nicht leisten können. Denn das bedeutet, dass das Lernen "über" Medien, ihre Wirkungen, ihre Funktion, ihre Möglichkeiten, Herausforderungen und gesellschaftliche Implikationen, weiterhin in den Schulen keine Rolle spielen wird. Und es bedeutet, dass das Digitale einmal mehr von der Frage abgekoppelt wird, wie wir in Zukunft Lernen gestalten wollen.

Aber genau das ist die zentrale Frage: Wie wollen wir im 21. Jahrhundert miteinander lernen? Dass keiner auf diese Frage geantwortet hätte: Alle bleiben zu Hause und jeder überlegt sich in drei Tagen ein Konzept, steht außer Frage.

Spricht man mit Lehrerinnen und Lehrern, in deren Schulen die Grundvoraussetzungen gegeben waren, zeichnen die meisten ein positives Bild: Es wurde unter den Voraussetzungen, die da waren, einiges erreicht. Man muss aber hart sagen: Trotz fehlender Hilfe von Politik und Kultusministerkonferenz.

Dass die Kultusministerkonferenz Hilfe angeboten und Leitlinien für diese außergewöhnliche Zeit formuliert hat, ist unbestritten (wenngleich sich auch hier die Länder deutlich unterschieden). Was aber verpasst worden ist, ist eine nachhaltige Strategie zu entwickeln. Und es ist schon jetzt abzusehen, dass diese auch während der Ferien nicht einfach vom Himmel fallen wird. Dabei sind die Ausgangsbedingungen so günstig wie selten.

Denn eine große Herausforderung wurde durch die zahlreichen Experimente mit dem Digitalen aus dem Weg geräumt: Die Angst, die durch das Neue entsteht. Viele Kolleginnen und Kollegen lernten nicht nur die Möglichkeiten des Digitalen kennen, sondern erlebten auch eine ganz neue Form der Motivation. Dass dort, wo neue Formate für mehr Schülerbeteiligung sorgten, zusätzliche positive Effekte beobachtet werden konnten, zeigt sich von selbst. Aber das ist nicht die wichtigste Erkenntnis.

Selbst dort, wo nur mit wenigen digitalen Plattformen umgegangen werden konnte, ist das Wissen um das Wie und das Was nun enorm gestiegen: Wenn jemand weiß, was ein Etherpad ist, hat er also nicht nur sein didaktisches Repertoire erweitert, sondern hat einen Anschlusspunkt, wenn ein neues Tool eingeführt werden soll: "Ungefähr so wie Etherpads, nur mit folgenden weiteren Funktionen", kann es dann heißen. Die Corona-Zeit hat mit anderen Worten dafür gesorgt, dass die Kollegien wissen, worum es geht.

Die wichtigste Frage bleibt aber das Warum. Wie oben schon erwähnt kann es nicht darum gehen, dass Digitale als Notfallmedium für eine pandemische Zeit zu sehen. Im Gegenteil: Es ist (wie schon seit Jahren gefordert wird) an der Zeit, den Leitmedienwechsel ernst zu nehmen und die Kultur der Digitalität in ihrer Umfänglichkeit zu verstehen und in die Schulen zu lassen.

Das geht aber nur mit Zeit, und die ist in Zeiten allgemeiner Überforderung, Stress und schwieriger Personallage gering. Deshalb wäre mein Plädoyer an die Politik: Holt euch die Expertise von den digitalen Vorreitern und den Kollegien vor Ort. Überlegt euch verbindliche, aber flexibel umsetzbare Konzepte und gebt den Schulen Zeit – mehrere Wochen, jede Woche mehrere Stunden – die Konzepte so umzusetzen, dass sie nachhaltig und mehr sind, als kurzfristig überlegte Notfallangebote.

Jetzt ist die Zeit, in der wir von den Erfahrungen profitieren können. Oder wir verpassen einmal mehr die Möglichkeiten, im 21. Jahrhundert anzukommen.

Zu unserer Serie "Schule digital" finden Sie auch diese Beiträge:

(kbe [23])


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[11] https://www.heise.de/news/heiseshow-Digitalisierung-der-Schulen-was-hat-Corona-nun-veraendert-4960846.html
[12] https://www.heise.de/news/Schulen-brauchen-Klarheit-beim-Datenschutz-4993139.html
[13] https://www.heise.de/news/Bitkom-fordert-Recht-auf-digitalen-Unterricht-5004707.html
[14] https://www.heise.de/meinung/Schulstart-kommt-so-ploetzlich-wie-Schnee-Ueberforderung-der-Lernplattformen-5020128.html
[15] https://www.heise.de/news/Karliczek-Laender-muessen-Digitalpakt-Schule-umsetzen-4790514.html
[16] https://www.heise.de/news/Informatiker-vermisst-klare-Konzepte-fuer-digitale-Bildung-4801401.html
[17] https://www.heise.de/news/Schule-digital-Ohne-Masterplan-aber-es-gibt-Fortschritt-4869800.html
[18] https://www.heise.de/news/Schule-digital-Homeschooling-von-Kompetenz-der-Lehrerenden-abhaengig-4869449.html
[19] https://www.heise.de/hintergrund/Schule-digital-Agile-Educational-Leadership-und-digitale-Transformation-4861672.html
[20] https://www.heise.de/hintergrund/Schule-digital-K-ein-Platz-fuer-Microsoft-4875272.html
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